Kieferorthopädie 14.06.2011
Prophylaxe ist mehr als Zähneputzen
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Beim Thema Prophylaxe sollte es nicht nur um die richtige Zahnputztechnik für Patienten, sondern vielmehr auch um ein notwendiges Zusatzangebot in kieferorthopädischen Praxen gehen. Wie ein systematisches Prophylaxekonzept für KFO-Patienten aufgebaut und im Praxisalltag angewandt werden kann, zeigt Dr. Nina Heinig in folgendem Beitrag.
Kieferorthopädie ist ein Kariesrisiko. Nicht nur, dass sich aufgrund der vielen Retentionsstellen mehr Bakterien anlagern können. Es resultiert aus der bakteriellen Verschiebung, dem sogenannten „bacterial shift“, auch ein kariesaktiveres Keimspektrum. Hinzu kommt, dass unsere größte Behandlungszielgruppe, die Kinder und Jugendlichen, mit ihrem Wechselgebiss durch lockere Milchzähne, Zahnfleischkapuzen mit fehlender Selbstreinigung und noch unreifem Zahnschmelz per se ein Kariesrisiko darstellen. Wenn wir Kieferorthopäden ein Multiband einsetzen, reduzieren wir darüber hinaus die natürliche Selbstreinigung. Denn erstens kann der Speichel die Zähne jetzt nicht mehr adäquat umspülen und zweitens raten wir zum Verzicht abrasiver Nahrung. Außerdem sorgen wir mit Brackets, Bändern und Bögen dafür, dass die Zahnbürste die Zähne schwieriger erreicht. Und deshalb ist es nahe liegend, Prophylaxe in ein kieferorthopädisches Behandlungskonzept zu integrieren. Denn nichts liegt näher, als dem Risiko, das wir verursachen, auch gleich wieder entgegenzuwirken.
Deshalb ist in meiner Praxis ein Prophylaxekonzept entwickelt worden, das auch im ganz alltäglichen kieferorthopädischen Alltagswahnsinn praktikabel ist. Einmal pro Quartal werden die Zähne der Patienten gründlich gereinigt. Das ist die ideale Zeitspanne, bis sich der Biofilm regeneriert hat und wieder eliminiert werden muss. Soweit es möglich ist, sollten vor der Zahnreinigung bei einem Mulibandpatienten die Bögen entfernt werden. Und falls Sie sich fragen warum, dann machen Sie einmal den Versuch und führen bei angefärbten Zähnen und belassenen Bögen eine Prophylaxe durch. Auch Sie werden überrascht sein, wie viel Farbe man trotz aller Bemühungen nach Entfernung des Bogens noch findet (Abb. 2a–d). Diesbezüglich sind selbstligierende Brackets eine große Erleichterung, weil der Bogenwechsel nur noch minimalen Zeitaufwand erfordert. Die Zeit, die man für den Bogenwechsel benötigt, hat man durch die einfachere Reinigung sofort wieder kompensiert. Bevor mit der Zahnreinigung begonnen wird, muss der Patient entsprechend vorbereitet werden. Dazu gehört neben einer Abdeckung für die Kleidung auch eine Brille zum Schutz der Augen. Am besten geeignet sind hierfür Radsportbrillen, die am Rand abgedichtet sind. Gern färben wir zu Beginn den Zahnbelag mit MIRA-2-Ton an (Abb. 3). Damit haben Patienten, die zahlenden Eltern und auch die Prophylaxefachkraft eine visuelle Kontrolle des Fortschritts. Mit Ultraschall werden zunächst der Zahnstein (Abb. 4) und mit einem Pulver-Wasserstrahl-Gerät anschließend alle hartnäckigen Beläge entfernt. Wie bei allen Arbeitsabläufen empfiehlt sich auch bei der Prophylaxe eine strukturierte Reihenfolge der behandelten Zahnflächen. Welche man dabei wählt, ist egal, Hauptsache sie wird bei jedem Patienten gleich durchgeführt. Wir verwenden beim Airflow das Clinpro Prophy-Powder von 3M ESPE. Es basiert auf der biokompatiblen Aminosäure Glycin. Neben dem besseren Geschmack, verglichen mit Natriumkarbonaten, hat es den Vorteil, dass man selbst am Gingivalsaum Plaque schonend entfernen kann. Außerdem werden Glattflächen- und Bracketumfeldversiegelungen aufgrund der geringen Abrasivität weniger abgetragen.
Prinzipiell sollte die Reinigung mit Pulver-Wasserstrahl-Geräten weder Kunststofffüllungen noch Kunststoffversiegelungen schaden. Doch es versteht sich von selbst, dass, wenn eine Versiegelung platziert wurde, man nur sehr vorsichtig vorgehen sollte. Labial arbeitet man deshalb idealerweise in Wellenbewegungen von Approximalraum zu Approximalraum am Gingivalrand entlang (Abb. 5). Fast immer findet man bei der Reinigung individuelle Putzproblemzonen beim Patienten. Je nach Apparatur und individueller Schwachstelle sollte man deshalb schon während der Prozedur dem Patienten geeignete Putzinstruktionen geben. Die anschließende Politur erfolgt bei uns mit der Paste Hawe cleanique (Fa. Kerr). Da die Reinigungspartikel beim Politurvorgang zerfallen, hat man anfangs eine gut reinigende Wirkung und bereits nach wenigen Sekunden auch eine sanft polierende. Deshalb sollten pro Zahn 20 Sekunden Polierzeit einkalkuliert werden (Abb. 6). Nun kommt die Reinigung der Zahnzwischenräume, klassischerweise mit Zahnseide. Vorsicht ist bei der Arbeit geboten, um nicht verletzend in die Papille einzuschneiden, denn sonst schadet man mehr als man nützt. Dabei sollte beachtet werden, dass man jeden Interdentalraum vorsichtig jeweils nach mesial und distal abfährt (Abb. 7a, b). Übrigens lässt sich mit schwarzer Zahnseide der entfernte Zahnbelag dem Patienten besonders gut demonstrieren. Eine Reinigung der Zunge sollte heute zu jeder professionellen Zahnreinigung gehören. Mit einem sterilisierbaren Zungenschaber aus Metall streicht man sanft den Belag von hinten nach vorne. Bei leicht würgenden Patienten konzentriert man sich natürlich nur auf den mittleren und vorderen Bereich (Abb. 8).
Nach der staubigen Reinigung freuen sich unsere Patienten, wenn wir ihnen ein feuchtes Tuch zum Abwischen des Gesichtes anbieten. Was inzwischen bei jeder Airline zum Standard gehört, sollte auch in einer (Fach-)Zahnarztpraxis kein übertriebener Luxus sein (Abb. 9). Als chemische Therapeutika verwenden wir abwechselnd einen Fluorid- und einen Chlorhexidinlack. Das entspricht der empfohlenen Therapie von Initialkaries in der Zahnheilkunde, die es in unserem Falle damit zu verhindern gilt. Wir applizieren unter relativer Trockenlegung entweder Fluorprotektor oder Cervitec (Fa. Ivoclar Vivadent), die jeweils eine Langzeitwirkung von drei bis sechs Monaten haben und somit genau in unser Konzept passen (Abb. 10). Dabei kontrolliert der Fluorprotektor den Demineralisations-Remineralisations-Prozess und Cervitec die Mikroorganismen. Über das leichte Brennen beim Auftragen sollte der Patient im Vorfeld informiert werden. Damit die Therapeutika ihre Wirkung voll entfalten können, wird der Patient angewiesen, anschließend eine Stunde lang weder zu essen noch zu trinken. Zusätzlich zur mechanischen Reinigung der Zähne bekommen unsere Patienten Informationen rund um die Zahngesundheit erteilt. Dafür verwenden wir unsere Prophylaxetafeln aus dem Hause 3M Unitek. Zu jedem Thema gibt es zwei Folien. Eine davon ist für den Patienten bestimmt. Sie zeigt Bilder, die ihm das Erklärte verdeutlichen sollen. Die zweite Folie hält die Prophylaxefachkraft in den Händen. Die Texte sind passend zu den Bildern und beschreiben umfassend das jeweilige Thema. Somit ist gewährleistet, dass jede Helferin auch die gleichen Informationen vermittelt. In Anlehnung an die übliche Behandlungsdauer von 16 Quartalen haben wir einen exakt festgelegten Plan, was in welchem Behandlungsquartal besprochen wird. Die Themen reichen von den Klassikern, wie Entstehung der Karies, Ernährungslenkung, Wirkungsweise der Fluoriden oder Zahnseide und Kaugummi bis hin zu weiterreichenden, aktuellen Gebieten, wie den Erosionen, dem Rauchen oder dem Verhalten bei einem Zahntrauma. All das vermittelt kaum ein Zahnarzt und ist selten Inhalt eines Lehrplans. Wir aber haben lernfähige Jugendliche in Behandlung, die wir auf diese Weise zu lebenslang guter Mundhygiene und richtigem Zahnbewusstsein führen können. Aber auch unsere erwachsenen Patienten sind immer ausgesprochen interessiert (Abb. 11).
Bei Patienten mit herausnehmbaren Apparaturen gehört zu unserer Speziellen Kieferorthopädischen Prophylaxe (SKP) auch die Reinigung der Zahnspange. Denn auf der Oberfläche und in den Poren des Polymers liegt ein Biofilm aus Mikroorganismen, der sich aus Bakterien, Pilzen (z.B. Candida albicans) und Viren (z.B. Herpes) zusammensetzt. Als erstes werden die Geräte deshalb desinfiziert. Bei besonders starken Zahnsteinablagerungen kann im Vorfeld auch mal die vorsichtige Entfernung mit Ultraschall, besonders im Bereich der Schraube, erforderlich werden. Dann legt man die Apparatur in ein als Prothesenreiniger vertriebenes Gerät. Durch die Rotation von vielen kleinen Edelstahlstiften im Magnetfeld werden dort Plaque, Zahnstein oder andere Verunreinigungen entfernt (Abb. 12). Nach abschließender Reinigung unter fließendem Wasser erhält der Patient seine Spangen wie neu zurück. Die Spangenreinigung dauert circa 20 Minuten und wird deshalb parallel zur Zahnreinigung durchgeführt. Um bei der Einführung eines Prophylaxekonzeptes in der eigenen Praxis nicht gleich Schiffbruch zu erleiden, ist eine Absprache mit den Überweisern unumgänglich. Vernünftig tickende Kollegen wissen um die Karies-, Gingivitis- und Entkalkungsrisiken während der kieferorthopädischen Behandlung. Sie können auch die Folgen absehen, wenn eine nicht kieferorthopädisch ausgebildete Prophylaxehelferin versehentlich und unabsichtlich ein Bracket lockert oder einen Boden verbeult. Aber leider gibt es auch immer noch Überweiser, die glauben, wir wollen mit unserer SKP ihnen die lukrative professionelle Zahnreinigung auf GOZ und die unbudgetierte Individualprophylaxeleistungen (IP) wegnehmen. Hier hilft nur ein fachliches, kollegiales Gespräch, um sie mit in die Verantwortung zu nehmen. Es gilt, sowohl über die Risiken der Entkalkungen und auch der Behandlungsverzögerung bei Beschädigungen aufzuklären. Außerdem betreiben wir Prophylaxe bei Kindern in einem Alter, in dem die meisten Patienten noch keine Kandidaten für eine professionelle Zahnreinigung im klassischen Sinne sind. Ganz im Gegenteil, erst durch die Prophylaxe in der kieferorthopädischen Praxis werden Jugendliche so für das Thema sensibilisiert, dass die meisten nach ihrer Spangenzeit, ohne jegliche Überzeugungsarbeit des Hauszahnarztes, Prophylaxe von sich aus wünschen. Und die kann der Überweiser dann schließlich bis ans Lebensende bieten. Übrigens gibt es auch immer noch Zahnärzte, die gar keine Prophylaxe in ihrem Portfolio haben. Diese sind meistens ausgesprochen dankbar, dass wir uns dieser Thematik annehmen.
Bei konsequenter Spezieller Kieferorthopädischer Prophylaxe können bleibende Schäden, wie hässliche White-Spot-Läsionen, vermieden werden. Im sauberen Mund bewegen sich die Zähne schneller, wodurch sich die Behandlungsdauer verkürzt. Wir können unsere Patienten zu lebenslanger Zahngesundheit motivieren. Außerdem ist Prophylaxe lukrativ und betriebswirtschaftlich sinnvoll. Prophylaxe ist mehr als Zähne putzen.