Kieferorthopädie 16.11.2023

Der offene Biss – die Extraktion bringt den Erfolg



Der offene Biss – die Extraktion bringt den Erfolg

Foto: Kieferorthopädischen Fachpraxis Dr. Peter Kohlhas und Dr. Claudia Obijou-Kohlhas

Einführung: der zungenoffene Biss

Der offene Biss stellt einen der komplexesten kieferorthopädischen Befunde dar9,21 und kann durch eine Vielzahl von Faktoren verursacht werden, beispielsweise durch eine Zungendysfunktion.13,16,20 Ursachen hierfür können die Zungeneinlagerung beim Sprechen (Sigmatismus), das Persistieren eines infantilen Schluckmusters,13 eine unphysiologische Ruhelage der Zunge6,10,15,19 oder die allgemeine Dyskynesie und Hypermotilität der Zunge sein. Häufig entsteht primär durch Daumen- und Fingerlutschen ein offener Biss, der dann sekundär durch eine Zungendysfunktion gehalten oder verstärkt wird. Bei einem lateral offenem Biss kann auch ein Pressen der Zunge zwischen die Zahnreihen ursächlich sein. Die Zungendysfunktion ist oftmals schwieriger zu therapieren als der lutschoffene Biss, da vielen Patienten trotz langjähriger logopädischer und myofunktioneller Behandlung eine Kontrolle der Zungenfunktion oft nicht gelingt. Zudem ist es oftmals schwierig, überhaupt einen Termin bei einem Logopäden zu bekommen, sodass bei vielen Patienten die begleitende logopädische Behandlung erst zeitverzögert beginnen kann.

In diesem Artikel schildern wir einen Fall des zungenoffenen Bisses und seiner Therapie.

Kein „Easy Case“

Der Patient stellte sich im Alter von zehn Jahren und sechs Monaten erstmals in unserer Praxis vor. Anamnestisch lagen keine Erkrankungen vor, der Patient schlief mit offenem Mund und war bereits in logopädischer Behandlung gewesen. Der Patient trug zu diesem Zeitpunkt einen herausnehmbaren Lückenhalter im Oberkiefer, der mit einem Zungen-Abschirmgitter versehen war.

Extraoral fielen das dolichofaziale Wachstum, das leicht konvexe Profil mit geradem Vorgesicht und die vergrößerte untere Gesichtshöhe auf. Der Patient befand sich in der beginnenden zweiten Wechselgebissphase und zeigte einen frontal offenen Biss (Overbite –4 mm), bei dem nur die zweiten Milchmolaren und ersten bleibenden Molaren Gegenkieferkontakt hatten. Die Oberkiefer-Frontzähne standen in Infraposition zur Okklusionsebene und waren zu mehr als zwei Drittel von der Oberlippe bedeckt. Röntgenologisch imponierte eine ausgeprägte dichte Keimlage der Oberkiefer-Seitenzähne beidseits, mit mesioklinierter Keimlage der Zähne 14 und 24 und Platzmangel in Regio 13 und 23. Bei klinischer Betrachtung und im FRS ließ sich eine Tendenz zur skelettalen Klasse III feststellen. Die Kieferbasen befanden sich zur Schädelbasis und zueinander im Normbereich, sodass eine skelettale Ursache des frontal offenen Bisses ausgeschlossen werden konnte (NL/NSL 8,0°; ML/NSL 32,0°; ML/NL 25,0°). Aufgrund des Platzmangels und um eine Proklination der OKFront mit einer weiteren frontalen Bissöffnung zu vermeiden, wurde der Patient zur Extraktion der Zähne 14 und 24 in eine oralchirurgische Praxis überwiesen. Der Patient wurde nach der Extraktion zunächst mit herausnehmbaren bimaxillären Apparaturen behandelt, um den Zahnwechsel zu steuern und um die Bisslage und den offenen Biss zu korrigieren. Hierfür wurde eine Gegenkieferbügelplatte mit seitlichen Aufbissen eingesetzt, gefolgt von einem Umkehrbionator. Die Gegenkieferbügelplatte mit seitlichen Aufbissen diente der Intrusion der Seitenzähne und Extrusion der Frontzähne, bei gleichzeitiger Kontrolle der Klasse III-Tendenz. Der Umkehrbionator wurde eingesetzt, um den Zungenraum zu erweitern und gleichzeitig die Zunge in Richtung des mittleren Gaumenbereichs umzulenken. Der Patient wurde aufgefordert, die herausnehmbaren Apparaturen so oft wie möglich zu tragen, außer in der Schule oder beim Sport. Eine weitere logopädische Behandlung wurde empfohlen.3,4,11,12,17–19,22,23

Nach abgeschlossenem Zahnwechsel wurden zwischendiagnostische Unterlagen erstellt. Hier zeigten sich weiterhin eine transversale Breitendiskrepanz zwischen Ober- und Unterkiefer, ein Platzmangel im Seitenzahnbereich in allen Quadranten sowie ein persistierender frontal offener Biss. Die Wachstumstendenz in vertikaler und Klasse III-Richtung bestätigte sich. Röntgenologisch wurde eine Nichtanlage des Zahnes 18 und eine Retention der Zähne 37 und 47 bei fast abgeschlossenem Wurzelwachstum festgestellt. Zu diesem Zeitpunkt empfahlen wir dringend die Umstellung auf eine festsitzende Multibracketapparatur in Ober- und Unterkiefer sowie die Extraktion der Zähne 35 und 45. Die Eltern lehnten diese zunächst vehement ab, stimmten jedoch nach über einem Jahr zumindest einer Multibracketbehandlung zu.

Manchmal sind Extraktionen die bessere Entscheidung

Im Alter von 13 Jahren und sieben Monaten wurden im Ober- und Unterkiefer Multibracketapparaturen eingesetzt (Innovation- und Speed-Brackets mit Roth-Prescription) mit Bebänderung der Zähne 16, 26, 36, 46. Zu Beginn wurden im OK und UK 0.014" NiTi thermoelastische Bögen verwendet, gefolgt von 0.016" NiTi und 0.016" x 0.022" NiTi. Bereits ab dem ersten Termin wurde der Patient aufgefordert, leichte Gummizüge als Box-Elastics und in Klasse III-Richtung zu tragen. Bei den Terminen wurde eine Verbesserung des Leveling und Aligning beobachtet, jedoch nicht der vertikalen Dimension. Als mögliche Behandlungsalternativen für das Schließen des offenen Bisses diskutierten wir aufwendige Verankerungs- und Intrusionsmechaniken oder weitere Extraktionen.5,9 Eine Dysgnathieoperation stand zudem als letzte Möglichkeit nach Wachstumsabschluss zur Diskussion. Nach fast einem halben Jahr ohne nennenswerten Erfolg bei der frontalen Bissabsenkung entschlossen sich die Eltern, die Zähne 35 und 45 extrahieren zu lassen. Zeitgleich entschied der Chirurg, die Zähne 38 und 48 zu entfernen. Nach den Zahnentfernungen ließ sich schlagartig eine deutliche Bissvertiefung im anterioren Bereich beobachten. Es wurde eine 5er- anstelle einer 4er-Extraktion gewählt, da sich der Biss erwartungsgemäß stärker senkt, je dorsaler die Zahnentfernung erfolgt. Die Verstärkung des frontalen Overbites wurde durch die ausgewählten Bögen, durchgeführten Step-Down-Biegungen für die Front und durch die eingesetzten intermaxillären Elastics unterstützt. Durch den Lückenschluss nach mesial der UK-Molaren 36 und 46 wurde Platz geschaffen für den Durchbruch der Zähne 37 und 47, und diese konnten ohne Probleme in den Zahnbogen eingeordnet werden. Die angewendeten Bögen in der Postextraktionsphase waren 0.016" x 0.022" NiTi, 0.017" x 0.025" NiTi SE, 0.018" x 0.025" NiTi sowie 0.019" x 0.025" SS, begleitet von Power Chains und intermaxillären Gummizügen. Nach der Ausformung und Nivellierung der Zahnbögen und der Schließung des frontal offenen Bisses drängte die Patientenmutter auf einen baldmöglichen Ausbautermin für die MB-Apparatur. Dem Patienten wurden in der Front festsitzende Retainer in Ober- und Unterkiefer eingesetzt. Zudem wurden herausnehmbare Retentionsapparaturen hergestellt und der Patient wurde aufgefordert, diese jede Nacht zu tragen. Eine Weiterführung der logopädischen Behandlung wurde dem Patienten angeraten, um einem Rezidiv des frontal offenen Bisses entgegenzuwirken.17,18,22,23

Der Biss ist geschlossen – was nun?

Bei den Abschlussfotos ließ sich bei dem bereits 15-jährigen Patienten ein dolichofazialer Gesichtstyp mit vergrößertem unteren Gesichtsdrittel feststellen. Die Konvexität des Profils hatte sich verringert, das Klasse III-Wachstum konnte kontrolliert werden. Um ein mögliches Unterkiefer-Restwachstum abschätzen zu können, wurde eine Handwurzelröntgenaufnahme angefertigt. Hier ließen sich die Stadien PP3u und MP3u feststellen, sodass mit nur wenig Restwachstum gerechnet werden konnte.

Diskussion

Bei vielen Patienten und Patienteneltern herrscht seit einer gewissen Zeit eine ablehnende Haltung gegenüber Zahnextraktionen aus rein kieferorthopädischer Indikation. Die meistgenannten Befürchtungen seien hierbei mögliche Schmerzen während oder nach der Extraktion, das Entstehen eines sogenannten „Dished-In Face“ und die Einengung des Zahnbogens mit negativen Folgen für die Zunge und für die Atmung. Zwar flachte sich das Profil unseres Patienten ab, jedoch wirkte es aufgrund der Entwicklung von einem Vor- zu einem Durchschnittsgesicht trotzdem harmonisch (Abb. 5). Die Zahnbögen waren wohlausgeformt, eine subjektive Einengung bestand nicht. Ein Vergleich beider Fernröntgenseitenbilder ließ zudem erkennen, dass der Posterior Airway Space7,8,14 wachstumsbedingt größer wurde (Abb. 6). In der Fernröntgenseitenanalyse konnte zudem eine geringgradige Verbesserung der Kieferbasenwinkel festgestellt werden: ML-NSL verringerte sich von 32° auf 31°, ML-NL von 25° auf 23°. Die Seitenzähne in Ober- und Unterkiefer wurden nach den Extraktionen mesialisiert, um einerseits die Extraktionslücken zu schließen und andererseits den frontal offenen Biss zu reduzieren. Eine Nonextraktionstherapie hätte im Gegensatz dazu eine Distalisation bei gleichzeitiger Intrusion der Oberkiefermolaren erfordert. Diese wäre nur mit zusätzlichen Verankerungsgeräten und Kosten für den Patienten möglich gewesen. Eine high-pull Headgear-Behandlung war seitens der Patienteneltern nicht erwünscht und angesichts der mangelnden Compliance nicht sinnvoll. Auf skelettale Verankerungsmethoden, wie etwa TADs, Beneslider oder Mausefalle, wurde aus Kostengründen und der vonseiten der Eltern nicht gewünschten Invasivität verzichtet.

Verbesserte Lachlinie

Als positiv zu bewerten gilt, dass sich die Abdeckung der Oberkiefer-Frontzähne durch die Oberlippe deutlich reduziert hat (Abb. 5 und 7). Die Lachlinie ist deutlich besser geworden. Der Overbite beträgt +2 mm, sodass man eine vertikale Korrektur von insgesamt 6 mm erreichen konnte. Es fällt auf, dass die Frontzähne in Ober- und Unterkiefer deutlich retroinkliniert eingestellt wurden (OK1/SN 93,0°, UK1/ML 78,7°, Interinzisalwinkel 158°). Durch den Steilstand konnten ein stabiler Overbite erzielt und die Zunge abgeschirmt werden. Wie bereits angesprochen, ist der kieferorthopädische Befund eines offenen Bisses besonders komplex, und das Management eines zungenoffenen Bisses erfordert eine gute Compliance seitens des Patienten und dessen Eltern. Das Abwägen der richtigen Therapie für jeden einzelnen Fall ist entscheidend für die Effektivität und den Kostenrahmen der jeweiligen Behandlung. In unserem Fall hat die Entscheidung zur Extraktion den maßgeblichen Erfolg beim Schließen des frontal offenen Bisses gebracht.

Eine Literaturliste steht Ihnen hier zum Download zur Verfügung.

Dieser Beitrag ist in der KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.

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