Kieferorthopädie 20.10.2022

Kein alltäglicher Fall im kieferorthopädischen Praxisalltag



Kein alltäglicher Fall im kieferorthopädischen Praxisalltag

Foto: © Dr. Claudia Obijou-Kohlhas

Tagtäglich stellen sich in unseren Fachpraxen die unterschiedlichsten Patienten im Kindes- oder Jugendalter mit dem Wunsch nach einer kieferorthopädischen Behandlung vor.

In den meisten Fällen handelt es sich um gut klassifizierbare Dysgnathieformen und Zahnfehlstellungen, die sich nach bestimmten Behandlungsleitlinien und -kriterien gut therapieren lassen. Eine einmal eingeschlagene Therapierichtung kann bei guter Mitarbeit des Patienten in der Regel bis zum Abschluss der Behandlung durchgehalten werden.

Nicht selten haben wir jedoch Einzelfälle, die uns besonders herausfordern und eben nicht so leicht von der Hand gehen. Das Therapieziel muss immer wieder neu überdacht und neue Entscheidungen während der laufenden kieferorthopädischen Behandlung getroffen werden.

Im folgenden Case Report stelle ich einen kieferorthopädischen Behandlungsfall aus unserer Praxis vor, bei dem wir immer wieder an Grenzen gestoßen sind und überlegen mussten, ob eine Non-Extraktionstherapie gegenüber einer Extraktionstherapie sinnvoll ist. Den Behandlungsverlauf haben wir durch zahlreiche intraorale Fotos dokumentiert, sodass wir unsere kieferorthopädische Vorgehensweise schrittweise und beispielhaft erklären können.

Warum überhaupt sollten wir eine Non-Extraktionstherapie anstreben und nicht gleich von Anfang an bleibende Zähne extrahieren, wenn unklar ist, ob wir es ohne Extraktionen überhaupt schaffen? Ist nicht der Extraktionsweg schneller, einfacher und sicherer? Also warum dann den schwierigeren und zeitaufwendigeren Weg einschlagen?

Wir alle wissen, dass die Eltern unserer kieferorthopädischen Kinder in den meisten Fällen Zahnextraktionen permanenter Zähne vehement ablehnen. Vielmehr soll der Kieferorthopäde möglichst alles dafür tun, dass keine bleibenden Zähne extrahiert werden. Unter Umständen haben die Eltern selbst schlechte Erfahrungen mit Extraktionen und verbliebenen Restlücken gemacht, weshalb sie Zahnextraktionen gegenüber negativ eingestellt sind. Sollten wir dann dennoch auf die geplanten Extraktionen bestehen oder es doch zunächst ohne versuchen? Da wir sicherlich alle schon einmal in Grenzfällen unsicher waren und vielleicht eines Besseren belehrt wurden, lassen wir uns gelegentlich doch auf einen Versuch ein. Und wenn es dann klappt, sind alle happy. So auch in diesem Fall.

Klinischer Fallbericht

Unser Patient Leon B. (Abb. 1a) stellte sich im Alter von neun Jahren in Begleitung seiner Eltern in unserer kieferorthopädischen Fachpraxis vor. Auffällig war schon beim Eintreten in die Praxis, dass der Junge kleiner war als für sein Alter üblich. Die Eltern gaben an, dass sich Leon aufgrund des verzögerten Wachstums einer medikamentösen Therapie unterziehen musste. Genaueres füllten sie im Anamnesebogen jedoch nicht aus. Rein äußerlich fiel der Junge durch seine hellblonden Haare, hellblauen Augen und seinen hellen Hautton auf. Ein angeborener Albinismus schien naheliegend zu sein, wurde jedoch von den Eltern anamnestisch nicht angegeben.

Die diagnostischen Unterlagen ergaben eine Gemination der beiden mittleren oberen Schneidezähne, bei der die geteilten Zahnkronen jeweils eine gemeinsame Wurzel aufwiesen (siehe OPG des Anfangsbefund, Abb. 1b). Klinisch zeigte sich eine skelettale Klasse III mit einer progenen Verzahnung der Zähne 21 und 32 (Abb. 1c–g).

Der Platzmangel in der Ober- und Unterkieferfront zeigte sich bereits in der ersten Wechselgebissphase. Zahn 11 war zudem deutlich distokliniert. Der Zahnwechsel war deutlich verzögert, da im Alter von neun Jahren noch nicht alle vier Frontzähne im Oberkiefer durchgebrochen waren. Die Mundhygiene war mäßig (Abb. 2a–e). Wir begannen die Behandlung im Rahmen einer Frühbehandlung mit einer herausnehmbaren Aktiven Platte und konnten damit den Oberkiefer transversal und sagittal um mehrere Millimeter erweitern. Nach erfolgreicher Überstellung des frontalen Kreuzbisses an den Zähnen 11 und 21 konnten wir die interzeptive Frühbehandlung nach sechs Quartalen zunächst abschließen (Abb. 3a–e).

Nach Abwarten des weiteren Zahnwechsels und des Beginns der zweiten Wechselgebissphase stiegen wir bei Leon im Alter von zwölf Jahren in die kieferorthopädische Durchbehandlung ein. Durch die Überbreite der Zahnkronen mit jeweils 12,5 mm der beiden mittleren oberen Schneidezähne (Gemination) stellte sich die Frage, ob wir ausreichend Platz für die seitlichen Schneidezähne und die Eckzähne erhalten würden. Im rechten Oberkieferfrontzahnbereich fehlten uns ca. 4 mm an Platz für Zahn 12, der palatinal des distoklinierten Zahnes 11 stand. Im Stützzonenbereich der linken Oberkieferhälfte reichte der Platz für den weit kranial und palatinal liegenden Zahn 23 mit einem Platzdefizit von ca. 6 mm bei Weitem nicht aus (Abb. 4a–h).

Wir diskutierten mit den Eltern alle Möglichkeiten der Weiterbehandlung:

  1. Extraktion der Zähne 12 und 22, um die Überbreite der Zähne 11 und 21 auszugleichen,
  2. Extraktion der Zähne 14, 24, 34 und 44, um im Eckzahnbereich aller vier Quadranten Platz zu schaffen oder
  3. Non-Ex-Therapie und Slicen der Frontzähne, um möglichst keine bleibenden Zähne zu entfernen und den Oberkiefer nicht zu verkleinern.

Die besorgten Eltern plädierten einstimmig für die Variante ohne Extraktion bleibender Zähne und nahmen somit eine Verschmälerung durch die approximale Schmelzreduktion in Kauf.

Zunächst gliederten wir bei Leon eine Two-by-Four-Multibracketteilapparatur (EXPERIENCE Ceramic, 22er Slot, Roth) im Oberkiefer ein. Gleich zu Beginn verschmälerten wir die Zähe 11 und 21 mesial und distal um jeweils 0,5 mm mittels diamantierter Streifen und polierten die Zahnseitenflächen (Abb. 5a–e). Wir steigerten die Bogensequenzen von .014" NiTi, .016" NiTi, .016" x .022" NiTi auf .016" x .022" TMA (Abb. 6a–d). Um die Frontzähne besser intrudieren zu können, verwendeten wir im Hauptbogen sogenannte Tip-Back-Biegungen mesial der Zähne 16 und 26. Im Seitenzahnbereich gliederten wir zeitgleich gerade Teilbögen ein (Abb. 7a–e).

Anschließend überwiesen wir den Jungen zur operativen, geschlossenen Freilegung und Knöpfchenbeklebung des Zahnes 23 in eine oralchirurgische Praxis. Um dem Platzbedarf für den freigelegten Eckzahn gerecht zu werden, erweiterten wir die Zahnlücke mit einer NiTi-Druckfeder. Mit einem .018" x .025" SS Teilbogen extrudierten wir Zahn 23 mit leichter Kraft peu à peu. Nachdem sich unglücklicherweise die Anschlingung an Zahn 23 gelöst hatte, wurde der Eckzahn erneut operativ freigelegt und angeschlungen. Dieses Mal durch eine offene Freilegung, d. h. mit Entfernung der abdeckenden Palatinalschleimhaut und unter sichtbarer Freihaltung der größten Zirkumferenz der Zahnkrone (Abb. 8a–e).

In dieser Behandlungsphase kamen wir immer wieder an die Grenzen der Lückenöffnung und mussten erneut über mögliche Zahnextraktionen nachdenken. Das Kontroll-OPG (Abb. 9a) zeigte deutlich den Platzmangel in Regio 12 und 22. Nach nochmaligem Slicen an den oberen Frontzähnen unter Beachtung der radiologischen Pulpaausdehnung an den Zähnen 11 und 21 gingen wir im Einvernehmen mit den Eltern weiter den Non-Extraktionsweg.

Um die palatinale Wurzel des Zahnes 24 nach distal zu bewegen, klebten wir zusätzlich Knöpfchen auf die Palatinalflächen der Zähne 24 und 25. Mit einer eingegliederten Powerchain bewegten wir die Zähne in die gewünschte Richtung nach distal (Abb. 9b–i).

Durch temporäre okklusale Glasionomeraufbisse an den Zähnen 16 und 26 (Abb. 9i) konnten wir vertikal Raum schaffen, damit Zahn 23 mit einem .016" x .022" TMA-Teilbogen weiter extrudiert werden konnte. Als Side Effect trat durch die Lückenöffnung und die verwendete Druckfeder eine frontale Bissöffnung mit Intrusion und Protrusion der Zähne 21 und 22 auf. Als vertikale Gegenkraft ließen wir unseren Patienten Tag und Nacht vertikale Up-and-down-Gummizüge an den an Brackets befestigten Kobayashis tragen (Abb. 10a–e).

Als wir den verlagerten linken oberen Eckzahn weitestgehend eingeordnet hatten, formten wir die Zahnbögen durch elastische Bögen mittels individueller Biegungen weiter aus. Die okklusalen Aufbisse wurden parallel dazu entfernt. In der Finishingphase ließen wir Leon Klasse II-Gummizüge rechts und Klasse III-Gummizüge links zur Bisslagekorrektur und Mittellinieneinstellung tragen (Abb. 11a–e).

Die Röntgenkontrollaufnahme (OPG; Abb. 12a) zeigte uns erfreulicherweise parallel stehende Wurzelachsen und die gewünschte Einordnung des Zahnes 23. Trotz der leichten Mittellinienverschiebung waren die Eltern äußerst zufrieden mit dem erreichten Behandlungsergebnis und Leon drängte auf die Entfernung der Multibracketapparatur. Zur Langzeitretention gliederten wir sechsfach verseilte festsitzende Retainerdrähte und herausnehmbare Retentionsapparaturen in Ober- und Unterkiefer ein. Um die Gemination der beiden mittleren Schneidezähne zu kaschieren, bauten wir die Einziehungen der Schneidekanten mit Komposit auf (Abb. 13a–d).

Die neben der Eckzahneinordnung dental kompensierte Klasse III stabilisierten wir durch einen satten Overbite in der Front. Die positive Lachkurve orientierten wir parallel zur Oberlippe (Abb. 14a–h).

Insgesamt ist der nun fast 15-jährige Leon glücklich über seine Zähne und der Aufwand der Behandlung ist schnell vergessen.

Schlussbemerkung

Zum Abschluss möchten wir feststellen, dass gerade die komplexen Fälle an der Grenze des Machbaren und der Erfolg am Behandlungsende die größte Zufriedenheit in unserem Beruf ausmachen. Kieferorthopädie ist Medizin und gehört in jedem Fall in die Hände der Fachzahnärzte. In diesem Sinne: Viel Spaß im schönsten Beruf der Welt!

Dieser Beitrag ist in den KN Kieferorthopädie Nachrichten erschien.

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