Parodontologie 28.02.2011
Vor dem Zahnersatz kommt die Parodontologie
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In unserer Praxis hat es sich vor prothetischen Maßnahmen bewährt, eine schematisierte parodontale Beurteilung durchzuführen. Die Abarbeitung der Checkliste (Tab. 1) bietet die Gewähr, dass wichtige Befunde in der Routine der Praxis nicht übersehen werden.
Parodontalbefund
Vor jedem rehabilitativen Eingriff ist eine umfassende Untersuchung des gesamten Kauorgans und der einzelnen Zähne notwendig. Neben der klinischen und röntgenologischen Beurteilung der Zähne hinsichtlich Karies und ihres endodontischen Zustandes, gehört eine Beurteilung des Zahnhalteapparates dazu.
Die Diagnose und Prognose muss für die Gesamtsituation sowie für die einzelnen Zähne getroffen werden. Zur obligaten Befunderhebung gehört selbstverständlich die allgemeine und spezielle Anamnese. Anamnestisch können Risikofaktoren wie Rauchen oder auch medikamenteninduzierte Erkrankungen erkannt werden. Klinisch sollte die Untersuchung Auskunft über gingivale Entzündungen (z.B. BOP), Plaquebefall zur Einschätzung der Mitarbeit des Patienten, klinisches Attachmentniveau (Sondierungstiefen und Rezessionen), Furkationsbefall, Zahnmobilität und Taschenaktivität (Exudat oder Pus) gehören. Dieser Befund kann orientierend durch die Erhebung des Parodontalen Screening Index (PSI) erfolgen. Beim Vorliegen von pathologischen Werten ≥ 3 ist nach einer parodontalen Vorbehandlung ein vollständiger Parodontalbefund (Abb.1) zu erheben.
Vorbehandlung
Sollte aufgrund des Befundes eine parodontale Erkrankung festgestellt werden, so ist diese vor Beginn einer restaurativen Therapie zu behandeln. Aus der Kenntnis, dass es sich bei einer Parodontitis um einer Infektionskrankheit handelt, ist es das Ziel einer kausalen Therapie, die Oralpathogene zu reduzieren. Hierbei steht in der ersten Phase der Therapie die Änderung der ökologischen Verhältnisse in der Mundhöhle im Vordergrund. Im Rahmen der parodontalen Vorbehandlung wird die Hygienefähigkeit hergestellt, dies umfasst zum Beispiel die Extraktion hoffnungsloser Zähne, die Versorgung kariöser Defekte oder die Beseitigung von überstehenden Füllungsrändern. In dieser Phase der Behandlung sollte die effiziente Mundhygiene mit dem Patienten trainiert und damit die Grundlage eines dauerhaften Erfolges gelegt werden. Bei dem anschließenden supra- und subgingivalen Scaling werden Plaque, Zahnstein, Konkremente und Verfärbungen von der Zahnkrone und der Wurzeloberfläche mechanisch entfernt (Abb. 2a und b). Erst nach dieser Phase kann eine weitergehende Behandlung geplant werden. Aus der erneuten Befunderhebung (Abb. 3) wird, falls überhaupt noch notwendig, ein anschließender Therapieplan erstellt. Erst jetzt folgen parodontalchirurgische Eingriffe wie augmentative Maßnahmen mit dem idealistischen Ziel der Regeneration aller krankheitsbedingter Defekte. Bei entsprechender Indikation kommen jetzt aber auch resektive chirurgische Methoden mit dem Ziel der Taschenreduktion zum Einsatz. Auch werden erst nach der erfolgreichen Initialtherapie muko-gingivale Fragestellungen wie Rezessionsdeckungen, Verbreiterung der angewachsenen Gingiva oder der Aufbau von Kieferkammdefekten mit Weichgewebstransplantaten vorgenommen. Eine dauerhafte Erhaltungstherapie, die nach den individuellen Bedürfnissen und Risiken des Patienten angepasst sein sollte, schließt sich der Gesamtrehabilitation an.
Extraktionen
Im Rahmen der parodontalen Befunderhebung und der prothetischen Planung ist eine konsequente Beurteilung der einzelnen Zähne auf ihre Erhaltungsfähigkeit und Erhaltungswürdigkeit zu treffen. Die Entscheidungsfindung für Extraktionen stellt eine schwierige und in der Konsequenz schwerwiegende therapeutische Aufgabe dar. Es fehlen ausreichende quantitative Merkmale zur Festlegung der Erhaltungswürdigkeit, da Prognosen schwer zu treffen sind und eine multifaktorielle Beurteilung zu erfolgen hat. Einflussfaktoren, wie zum Beispiel die Patientencompliance beim älteren oder alten Patienten, sind durch unvorhergesehene Allgemeinerkrankungen nicht kalkulierbar. Zudem treten bei dieser Entscheidung oft Differenzen zum Patientenwunsch auf. Viele Patienten drängen auf einen vollständigen Erhalt ihrer eigenen Zähne. Hier ist vom Zahnarzt eine vertrauensbildende umfangreiche Aufklärung gefordert oder auch letztendlich die Ablehnung einer Behandlung, wenn indizierte Extraktionen verweigert werden. Für den Fall, dass Extraktionen durchgeführt werden müssen, ist auf eine geeignete Technik mit geringster Schädigung des Alveolarknochens zu achten und gegebenenfalls sind Maßnahmen zum Erhalt des Knochens (Socket Preservation) mit Kollageneinlagen oder Knochenersatzmaterialien vorzunehmen (Abb. 4a–c).
Strategische Pfeilervermehrung
Vor einer prothetischen Rehabilitation, bei der ein Ersatz von verloren gegangenen Zähnen geschaffen wurde, ist grundsätzlich eine Alternativplanung mit Implantaten zu erwägen und der Patient über diese Möglichkeit aufzuklären. Dies sollte auch aus forensischen Gründen zur Vermeidung einer Fehlbehandlung durch einen Planungsfehler erfolgen. Unabhängig von alternativen implantatretinierten Planungen ist zu klären, ob Implantate zwingend für einen prognostisch sicheren Zahnersatz indiziert sind. Unter Beachtung der vorhandenen Zähne und ihrer Wertigkeit können Implantate zur Pfeilervermehrung indiziert sein (Abb. 5a und b).
Einhaltung der biologischen Breite
Die Beachtung der sogenannten biologischen Breite bei prothetischen Versorgungen ist für die Platzierung des Restaurationsrandes von entscheidender Bedeutung. Eine Verletzung dieser Regel kann zu chronischen Entzündungszuständen führen. Wird durch eine stark subgingivale Präparation und Einlagerung des Kronenrandes das gingivale Gewebe gereizt, kommt es zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Entzündung der perikoronalen Gewebe oder zu einer Hypertrophie. Folgen dieser iatrogen verursachten Entzündung können Attachmentverlust, Knochensubstanzverlust oder Geweberezessionen sein.1 Der dentogingivale Komplex setzt sich zusammen aus dem Sulkus, dem epithelialen Attach-ment (Saumepithel) und dem bindegewebigen Attachment. Diese drei Abschnitte des dentogingivalen Komplexes haben jeweils eine Breite von ca. 1mm. Unter der biologischen Breite versteht man den Bereich aus dem epithelialen und dem bindegewebigen Attachment. Das heißt, dass eine Unterschreitung von 2 mm zwischen dem Rand des Alveolarknochens und dem Restaurationsrand nicht erfolgen darf.
Kronenverlängerung
Kurze klinische Kronen können die Versorgung eines Zahnes mit Kronen oder Füllungen erschweren oder auch unmöglich machen. Der Verlust kann durch Attrition, Abrasion, Karies oder Trauma entstehen. Um dennoch eine ausreichende Retention der Kronen zu erreichen, wird diese oft durch Ausdehnung der Präparation in den subgingivalen Raum erzwungen. Solche Maßnahmen widersprechen dem Postulat der biologischen Breite und führen zudem oft zu einem Zahnersatz, dessen Hygienefähigkeit nicht mehr gegeben ist. Ebenso kann ein zu geringer Abstand zwischen Alveolarfortsatz und Antagonist zu einer Überkontur des Zahnersatzes führen. Um dennoch eine funktionell und prognostisch langfristig erfolgreiche Rekonstruktion durchführen zu können, bietet sich die Kronenverlängerung an (Abb. 6a und b). Damit ist die Kronenverlängerung eine präventive Maßnahme, um ein gesundes Parodont durch eine chirurgische Behandlung gesund zu erhalten. Auch ist die chirurgische Kronenverlängerung als resektive parodontalchirurgische Maßnahme Mittel der Wahl, um symmetrische und ausgeglichene Verläufe des Margo zu erzielen. Durch eine präprothetische Korrektur des Verlaufs des Alveolarrandes und der Gingiva können gleichzeitig verschiedene Charakteristika des ästhetischen Ergebnisses einer dentalen Rehabilitation beeinflusst werden. So können hier direkte Veränderungen bei der Harmonie des Gingivaverlaufes und der Papillenhöhe erzielt werden. Zudem können dem Zahntechniker Möglichkeiten zu indirekten Veränderungen bei der Position der Zähne, der Zahnform oder der Gestaltung der approximalen Kontaktflächen gegeben werden.2, 3
Das operative Vorgehen entspricht einer Lappenoperation mit der Bildung eines Mukoperiostlappens, wenn resektive Maßnahmen am Alveolarknochen notwendig sind. Bei ästhetisch sensiblen Fragestellungen empfiehlt es sich, vor der Behandlung mittels eines Wax-up das mögliche Therapieziel zu definieren und in eine Schablone zu übertragen. Intraoperativ kann mit dieser Schablone das gewünschte Ziel überprüft werden. So ist es möglich, während der Operation das Ergebnis der Ostektomie mit einer Parodontalsonde zu überprüfen. Der Abstand zwischen geplantem Kronenrand und Alveolarrand darf 3mm nicht unterschreiten. Für den Fall, dass keine Ostektomie oder Osteoplastik notwendig ist, kann auch mit einem reinen Mukosalappen die Kronenverlängerung erzielt werden. Hierbei wird der Spaltlappen apikal verlagert und fixiert. Hilfreich für die Lagestabilität und Neukonturierung der Gingiva ist die Versorgung der betroffenen Zähne mit einem aus parodontaler Sicht optimalen Langzeitprovisorium. Nach einer Kronenverlängerung sollte bis zur definitiven prothetischen Versorgung ein Intervall von möglichst sechs Monaten abgewartet werden.
Ästhetikbefund
Vor einer umfangreichen Rehabilitation und besonders vor mukogingivalen chirurgischen Eingriffen im gesunden Parodont ist eine ästhetische Planung und Dokumentation über Indikation und vorgesehene Maßnahmen zu empfehlen (Abb. 7). Magne und Belser4 haben hierzu Empfehlungen für die ideale Ausrichtung der Zahnachsen und des Gingivaverlaufes formuliert. Diese Beschreibung des idealen Zustandes kann jedoch nur als Anhalt bewertet werden, da diese Voraussetzungen im individuellen Gebiss oft nicht gegeben oder nur mit einem unverhältnismäßigen Aufwand erreichbar sind. Bei speziellen Fragestellungen ist die Befundung entsprechend zu erweitern, zum Beispiel bei Oberkieferfrontzahnrestaurationen, nämlich um einen mukogingivalen Befund mit Erfassung des Gingivaverlaufs, Rezessionen, Situation der Papillen oder Gingivamorphologie. Bei entsprechender Indikation sind mukogingivale chirurgische Eingriffe vor Beginn der prothetischen Maßnahmen durchzuführen. In der Häufigkeit treten besonders oft Maßnahmen zur Rezessionsdeckung, teilweise mit Bindegewebstransplantaten auf (Abb. 8a und b).
Zusammenfassung
Eine orientierende Parodontaldiagnostik steht am Anfang jeder zahnärztlicher Rehabilitation. Ein weiterführender mukogingivaler Befund sollte vor ästhetisch anspruchsvollen Behandlungen durchgeführt werden. Entzündungen der Gingiva und parodontale Erkrankungen sind präprothetisch zur Ausheilung zu bringen. Präprothetisch ist auch zu überprüfen, ob parodontalchirurgische Maßnahmen für eine bessere Langzeitprognose indiziert sind. Kronenverlängerungen sind zur Wiederherstellung der biologischen Breite und zur Schaffung ausreichender Retention bei Bedarf als unkomplizierte chirurgische Maßnahmen durchzuführen. Zur Verbesserung der Ästhetik können weitere mukogingival chirurgische Methoden zur Anwendung kommen. Zur Sicherung des Langzeiterfolges ist eine angemessene Erhaltungstherapie in der Praxis zu etablieren.
Autor: Dr. Sigmar Schnutenhaus