Prophylaxe 05.10.2011

Grunderkrankung Bulimie: Was der Zahnarzt wissen sollte



Grunderkrankung Bulimie: Was der Zahnarzt wissen sollte

In der Behandlung von Essstörungen bei Patienten kommt dem Zahnarzt eine wichtige Rolle bezüglich Ersterkennung und Beratung zu. Je umfangreicher das Wissen über die Grunderkrankung Bulimie ist, desto besser kann er Zahnschäden infolge der Erkrankung erkennen und (be-)handeln.

Mit Bulimie, auch Ess-Brechsucht genannt (Syn. Bulimarexie oder Bulimia nervosa), wird eine Essstörung bezeichnet, die vor allem bei Frauen im Jugend- und frühen Erwachsenenalter auftritt (Durchschnittsalter 24,8 Jahre).6 Die Angaben über die Häufigkeit der Störung bei jungen Frauen schwanken von 1 bis 10 %.1 Hauptcharakteristikum der Störung (Tabelle 1) sind wiederkehrende Phasen von Heißhunger, die zur schnellen Aufnahme von großen Nahrungsmengen führen, verbunden mit einem Gefühl der fehlenden Kontrolle über das Essverhalten während der Heißhungerattacken. Aus einer übertriebenen Sorge um Körpergewicht und Figur heraus fühlen sich die Patientinnen anschließend gezwungen, die befürchtete Gewichtszunahme durch Gegenmaßnahmen zu vermeiden. Sie setzen dafür vor allem selbstinduziertes Erbrechen unmittelbar nach der Heißhungerattacke ein, aber auch Fasten, Einnahme von Diuretika oder Laxantien und intensives Körpertraining.

Damit gelingt es ihnen in der Regel, im Gegensatz zu den Anorektike­­rinnen (Tabelle 3 zeigt die Merkmale der zwei verwandten Störungen) oder reinen „binge eaters“ (Fressanfälle ohne Ge­gen­­maßnahmen), ein mehr oder we­niger normales Körpergewicht zu halten. Selbstinduziertes Erbrechen im ­Anschluss an Mahlzeiten ist bereits seit Langem als Symptom der Anorexia nervosa bekannt und galt als Anzeichen für ­einen eher ungünstigen Krank­heits­verlauf (im Gegensatz zur Ano­rexie mit reiner Nahrungseinschränkung). Die Bulimie wurde erst 1980 in der amerikanischen psychiatrischen Nosologie (DSM-III) als eigenständige Krankheit beschrieben und hat später auch Eingang in die ICD-10 gefunden (Tabelle 1). Seither ist eine rapide Zunahme der Häufigkeit dieses Leidens festzustellen, wobei unklar ist, ob die Patientinnen, bedingt durch die größere Bekanntheit des Leidens, sich jetzt wagten, für eine Behandlung zu melden, oder ob die Störung effektiv häufiger auftritt.1,4 Möglicherweise hat das von Schlankheit geprägte weibliche Schönheitsideal das Auftreten dieser Störung begünstigt .

Verlauf & Folgeerscheinungen

Das Leiden beginnt bei Frauen ­(selten auch bei Männern) meist in den Pubertätsjahren (mittleres Alter bei Krankheitsbeginn 18 Jahre).6 Oft geht der Krankheit eine Phase von Über­gewicht voraus, die dann in ein – unter Umständen schweres – Untergewicht umschlägt (eigentliche Anorexie), worauf sich aber das Körpergewicht ­wieder einigermaßen normalisiert.7 Während anfangs dem gelegentlichen Auftreten der Symptome (Heißhunger­attacken und selbstinduziertes Erbrechen) noch wenig Beachtung geschenkt wird, folgt darauf eine Phase, in welcher die Symptome immer häufiger auftreten. In dieser Phase verleugnen die Patientinnen ihr Verhalten vor sich selbst und verheimlichen ihr Tun vor ihrer Umgebung. Die Erkenntnis um das ­anormale Verhalten dringt gewöhnlich erst nach mehreren Jahren in ihr Bewusstsein. So beginnen die Betroffenen sich zu schämen und sich mit Selbstvorwürfen zu überhäufen.

Sichtbare Begleiterscheinungen als Folge des Erbrechens

In der Regel versuchen sich die ­Patientinnen vorerst selbst zu helfen. Sie versuchen ihren zügellosen Appetit mit Diät oder speziellen Essplänen in Schranken zu halten und setzen für sich Belohnungen oder Bestrafungen aus. Da sie aber – wie andere Suchtkranke – immer wieder scheitern, verstärken sich ihre Selbstvorwürfe und Schuldgefühle. Verzweiflung und Depression machen sich breit. Auch können sie auf ihr Suchtmittel nicht völlig verzichten, denn Essen ist unumgänglich. In der scheinbaren Ausweglosigkeit und weil das regelmäßige Erbrechen und der damit verbundene Elektrolytverlust sie bis zum körperlichen Zusammenbruch schwächt, wollen manche nur noch sterben. Verstärkt wird dies durch Schuld- und Schamgefühle sowie die Isolation durch die Verheimlichung. Sie wollen niemandem eine Last sein. Sichtbare Begleiterscheinungen der Krankheit (Tabelle 2) sind verschiedene Folgen des rezidivierenden Er­brechens.7 Dazu gehören Zahnschäden, Mundwinkelrhagaden, Parotisschwellungen, Rachenentzündungen und Ösophaguserosionen mit Blutungstendenz. Auch kann sich am Finger, der zum Auslösen des Würgereflexes verwendet wird, ein Kallus bilden. Zu den Schäden an Zähnen und in der Mundhöhle gehören Schmelz-Dentin-Erosionen, palatinale Erosionen an den Oberkieferzähnen und Mundschleimhautveränderungen. Des Weiteren wird von entzündlichen Parodontopathien berichtet. Bei allen erkrankten Patienten besteht ein erhöhtes Kariesrisiko.

Psychodynamischer Hintergrund

Nebst der erwähnten Neigung zu Selbstvorwürfen und Depressionen sind die meisten Bulimiepatientinnen gut ausgebildete und pflichtbewusste Frauen. Sie neigen dazu, sich in Beziehungen übermäßig anzupassen und unterzuordnen. Bulimiekranke hegen nicht nur bezüglich Körpergewicht und Aussehen sehr hohe Erwartungen an sich selbst, sondern auch bezüglich ihrer Leistungen in anderen Lebensbereichen. Hintergrund für die erwähnten Störungen bildet meist eine Kindheitskonstellation, wie sie von der Psycho­analytikerin Alice Miller treffend als „Drama des begabten Kindes“ beschrieben worden war: Sie fühlten sich als Kinder nicht richtig geliebt und kämpften dauernd um die Anerkennung der Eltern. Vor allem hofften sie, aufgrund von guten Leistungen und der Erfüllung aller Erwartungen der Eltern von diesen Zuwendung zu erhalten, was ihnen aber nie richtig gelingen konnte. Oft liegen schwere Selbstwert- und Beziehungsstörungen (z.B. Borderlinestörung) als Folge psychischer Traumatisierungen (Missbrauch) vor.

Therapiemöglichkeiten

Lange Zeit galt die Bulimie als schwierig zu behandeln und war mit schlechter Prognose behaftet, wohl vor allem, weil nur sehr chronifizierte Formen – meist ursprünglich Anorexiekranke – zur Behandlung kamen. Un­terdessen hat sich gezeigt, dass Patientinnen, die erst seit wenigen Jahren an der Krankheit leiden und keine schwer­wiegende Persönlichkeitsstörung aufweisen, mit gutem Erfolg (70 % Remissionen) behandelt werden können.3,8,9 Geeignet sind in erster Linie verhaltenstherapeutisch und psychodynamisch orientierte Verfahren. Von besonderem Vorteil ist die Behandlung in einer Gruppe von Gleichbetroffenen.9 Unter den Psychopharmaka können vor allem Antidepressiva (z. B. Fluoxetin) eine Unterstützung sein, insbesondere wenn ausgeprägte depressive Symptome bestehen. Die ausgeprägten Schamgefühle hindern aber viele Patientinnen daran, eine Behandlung auf sich zu nehmen, oder führen bald wieder zum Abbruch einer Therapie.

Empfehlungen für den Zahnarzt

Da Patientinnen mit bulimischer Symptomatik häufig einen schlechten dentalen Status ausweisen, kann davon ausgegangen werden, dass diese relativ häufig in Zahnarztpraxen vorstellig werden. Zahnärzte müssen für die Symptome der Bulimie hellhörig werden und bei Patienten mit ungewohnten Schmelzschäden und weiteren Symptomen schonungsvoll, aber gezielt nach dem Vorliegen einer Bulimie fahnden. Sie erweisen den Betroffenen einen großen Dienst, wenn die Bulimie als ein psychisches Leiden anerkannt wird und  der Patient motiviert werden kann, sich in Therapie zu begeben.  Um ihnen Enttäuschungen zu ersparen, wäre es wünschenswert, wenn der Zahnarzt Anlaufstellen empfehlen könnte, die in der Behandlung von Bulimie erfahren sind (siehe auch Linktipps). Der Zahnarzt selbst kann die Zahnhartsubstanz durch Anfertigung von Kronen und Brücken aus Keramik optimal schützen und so die natürlichen Bissverhältnisse wieder rehabilitieren. Auch wird von Autoren ein weniger ­invasives Vorgehen mit adhäsiv befestigten Overlays/Onlays/Veneers oder direkten Komposits vorgeschlagen.2 Gründliche Fluorid-Spülungen sollten durchgeführt werden. Auf jeden Fall muss eine schonende Zahnputztechnik (Bass) erlernt werden, um die Zahnsubstanzdefekte gering zu halten und nicht durch schädigende „Schrubbtechniken“ zu begünstigen.10 Die Patienten sollten alle drei Monate einem engmaschigen Recallprogramm von Kontroll­untersuchungen unterzogen werden, um einer Verschlechterung des Gebisszustandes entgegnen zu können. Zusammengefasst kommt Zahnärzten in der Behandlung von Patientinnen mit bulimischen Essstörungen eine wichtige Rolle bezüglich Ersterkennung, ­Beratung in der Zahnhygiene sowie Weitervermittlung im Gesundheitssystem zu. Insbesondere der letztgenannte Punkt erfordert eine starke interdis­ziplinäre Zusammenarbeit zwischen Zahnärzten und Experten auf dem ­Gebiet der Essstörungen. In diesem ­Zusammenhang wäre auch der weitere Ausbau essstörungsspezifischer Lern­inhalte in der Zahnarztausbildung sowie -weiterbildung wichtig.

Eine ausführliche Literaturliste finden Sie hier.

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