Psychologie 21.02.2011

Essstörungen als Herausforderung für den Zahnarzt

Essstörungen als Herausforderung für den Zahnarzt

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In der Zahnarztpraxis wird das Team berufsbedingt täglich mit Zahnproblemen konfrontiert. Ursachen wie Alter, Mundhygiene, Essgewohnheiten, Vorbehandlungen etc. führen zu mehr oder weniger starkem Behandlungsbedarf. Eine Patientengruppe fällt dem erfahrenen Zahnarzt durch eine zusätzliche Ursache auf: Probleme bedingt durch Essstörungen. Während die zahnmedizinische Behandlung noch keine Hürde darstellt, sind Zahnarzt und Team häufig damit überfordert, der Situation psychologisch korrekt auf den Zahn zu fühlen.

Essstörungen in der Zahnarztpraxis

Essstörungen führen aufgrund von Mangelernährung und des Einflusses von Magensäure auf die Zähne zu vielfältigen Auffälligkeiten wie extreme ­Abnutzung, Karies, Mundtrockenheit, Schleimhautschäden, Mulden- und Randzackenbildung oder Verkürzung der Schneidekanten (z.B. Aranha, AC, Eduardo CP, Cordás, TA [2008 a], J Contemp Dent Prac: Eating disorders. Part I: Psychiatric Diagnosis and dental implications; Aranha, AC, Eduardo CP, Cordás, TA [2008 b], J Contemp Dent Prac: Eating disorders. Part II: Clinical strategies for dental treatment; Studen-Pavlovich D, Elliott MA [2001], Dent Clin North Am: Eating disorders in women's health).

Da die Probleme nicht auf normale Ursachen zurück­zuführen sind und auch der weitere Behandlungserfolg stark von dem Essverhalten der Person abhängt, ist es wichtig, den Patienten darauf anzusprechen. Das „WIE“ ist jedoch die Frage, weshalb wir vorab auf die relevanten Formen und Ursachen von Essstörungen eingehen, um einen besseren Einblick in die Problematik zu bekommen.

Formen

Angaben zur Häufigkeit von Essstörungen schwanken. Der normale Umgang mit Nahrung fällt vor allem Frauen schwer. Jede zweite Frau hat ein angespanntes Verhältnis zum Essen und beschäftigt sich täglich mit Kalorien, Aussehen oder dem Fettgehalt der Nahrung. Krankhaft essgestört sind circa 5% der Bevölkerung. Der Alltag dreht sich fast ausschließlich um Nahrung und der Körper wird bis aufs kleinste Detail (negativ) bewertet.

Als Formen sind Magersucht und Bulimie am bekanntesten. Magersucht beginnt meist in der Pubertät. Die Mädchen nehmen immer weniger Nahrung zu sich und leiden unter einem extrem gestörten Selbstbild. Selbst bei lebensbedrohlichem Untergewicht empfinden sie sich noch als zu dick. Oft ist zu beobachten, dass die schon sehr geschwächten Personen ihren Körper noch mit Abführmitteln und Extremsport zum weiteren Gewichtsverlust zwingen.

Bulimie entsteht meist etwas später, nicht selten aus der Magersucht heraus. Bulimische Personen verschlingen attackenartig abnorme Mengen an Essen, um es dann mithilfe von Erbrechen wieder loszuwerden. Im Gegensatz zu magersüchtigen Menschen erkennt man Bulimieerkrankte nicht unbedingt sofort an ihrem extremen Untergewicht, da sie meist normalgewichtig sind. Fällt das Erbrechen nach den Essanfällen weg, spricht man von Binge Eating (gieriges Essen), was mit Übergewicht einhergeht.

Ursachen

Essstörungen müssen als „Sucht“ verstanden werden und unterliegen wie diese einem Geflecht aus Ursachen. Biologisch sind die Ergebnisse widersprüchlich, auf jeden Fall scheint es keine eindeutig genetische Veranlagung zu geben.

Der kulturelle Einfluss hingegen ist unumstritten. Besonders Frauen wollen Schönheit und Schlankheit mit beruflichem Erfolg, familiärem Glück und Selbstbestimmung vereinen, was selten funktioniert. Die Frau kann sich mit ihrer Rolle nicht identifizieren, da der Sprung von der karrierebewussten Durchsetzungsfähigkeit, vorbei an der mütterlichen Fürsorglichkeit bis hin zur erotischen Ehefrau schwer zu bewerkstelligen ist. Die körperlichen Veränderungen in der Pubertät verdeutlichen diesen Rollenspagat, sodass viele Mädchen im kontrollierbaren Essverhalten (z.B. Nahrungsverweigerung, Erbrechen) ein Ventil für ihre Unsicherheit finden.

Die Familie, und hier besonders die Mutter, spielen eine entscheidende Rolle bei der Genese von Essstörungen. Schon Kleinstkinder werden mit dem Diätwahn der erwachsenen Familienmitglieder konfrontiert, sodass dieses Verhalten normal erscheint. Darüber hinaus ist den Familien oft gemein, dass sie nach außen hin perfekt wirken. Es gibt keine Streitigkeiten, Skandale oder Probleme. Das liegt jedoch nicht daran, dass wirklich alles harmonisch ist, sondern eher daran, dass Probleme totgeschwiegen werden. Unstimmigkeiten muss sich die heranwachsende Person wortwörtlich „vom Hals halten“ oder „in sich hineinfressen“. Selbstbewusstsein und Autonomie können im gesunden Miteinander nur erreicht werden, wenn man sich austauscht – auch einmal in hitzigen Dis­kussionen. Fehlt diese Möglichkeit in der Familie, entwickeln die Jugendlichen andere Strategien, um sich abzugrenzen: sie konzentrieren sich aufs Essen, hier haben sie die Macht.

Hinzu kommt, dass das heranwachsende Mädchen bei Gewichtsverlust zu Anfang noch gelobt wird, während es sich ansonsten eher unbeachtet gefühlt hat. Magersüchtige Mädchen verweigern sich demonstrativ, bulimische Personen fressen alles wortlos in sich herein, bis „es sie ankotzt“.

Die Persönlichkeit ist natürlich durch das (familiäre) Umfeld mit beeinflusst. Die Heranwachsenden schwanken auch im Erwachsenenalter zwischen Abhängigkeit und Selbstbestimmung. Das macht sich nicht nur in der Familie, sondern auch in vielen anderen Situationen bemerkbar. Der spätere Partner bekommt zu spüren, dass weder große Nähe noch Distanz erwünscht sind. In der Arbeit sind die Frauen oft extrem ehrgeizig und zielstrebig, können aber schlecht mit Kritik umgehen, da diese sofort am Selbstbewusstsein nagt.

Umgang

Jeder Essstörung liegen langjährige und tief verwurzelte Probleme zugrunde, die der Zahnarzt unmöglich lösen kann. Wenn er jedoch bedenkt, dass diese Personen zwar Nähe scheuen, aber dennoch brauchen und ein Verlangen danach haben, auch einmal Schwächen zeigen zu dürfen, hilft ihm das für den weiteren vertrauensvollen Behandlungsverlauf (z.B. Alexander M, Dodds A, Burkhart N, Roberts M [2005], J Am Dent Asso: Communicating effectively with patients suspected of having bulimia nervosa).

Für die Behandlung von essgestörten Patienten ist es unumgänglich, einige Anlaufstellen in der Umgebung zu kennen. Welcher Psychologe oder Psychiater befasst sich mit dem Thema, welche Beratungsstellen gibt es, welche Internetseiten sind hilfreich? Legen Sie ruhig eine Broschüre im Wartezimmer aus, die zeigt, welche Schäden durch Essstörungen, insbesondere Bulimie, entstehen können. Vielen Patienten ist gar nicht klar, dass ihr Essverhalten einen derart negativen Einfluss auf die Zahngesundheit hat.

Das persönliche Gespräch einzuleiten, ist sicherlich etwas unangenehm, da der Zahnarzt ein psychisches Problem ansprechen muss. Wählen Sie dazu einen Zeitpunkt, wenn möglichst wenige Patienten da sind. Der Ort sollte auch so gewählt werden, dass die Betroffene nicht fürchten muss, dass andere mithören. Führen Sie als Zahnarzt das Gespräch alleine mit der Patientin, da es ihr schon schwerfallen wird, sich einer einzigen Person anzuvertrauen. Lassen Sie sich im Verlauf des Gesprächs immer wieder bestätigen, dass Sie die folgenden Fragen stellen dürfen.

Beginnen Sie das Gespräch damit, Ihrem Gegenüber zu zeigen, dass Sie sich Gedanken und/oder Sorgen machen.

• Meine Frage weicht etwas von der Zahnmedizin ab, aber ich mache mir Sorgen um Sie.
• Mich beschäftigt ein Thema, das nicht direkt mit Ihren Zähnen zu tun hat, welches ich aber dennoch gerne ansprechen würde.

Fangen Sie allgemein mit den Zähnen an, sodass die Betroffene die Gelegenheit hat, von sich aus zu erzählen, dass sie an einer Essstörung leidet. Stellen Sie den Zustand der Zähne zunächst als Rätsel dar, das sie lösen möchten.

• Ich erkenne an Ihren Zähnen Auffälligkeiten, die kaum auf mangelnde Zahnhygiene oder ähnliches zurück­zuführen sind.
• Können Sie sich vorstellen, woher das kommt?

Wenn die Patientin sich nicht öffnet, nennen Sie einige mögliche Ursachen.

• Trinken Sie besonders häufig säurehaltige Getränke?
• Essen Sie öfter Bonbons, Lutscher oder Ähnliches?
• Leiden Sie an Sodbrennen?
• Ist Ihnen oft übel?
• Halten Sie eine besonders strenge Diät?

Auch hier kann die Patientin immer noch verneinen. Stellen Sie wiederum den zahnmedizinischen Aspekt in den Vordergrund, der Sie zu diesem Gespräch bewegt. Verdeutlichen Sie, dass Sie nicht vorhaben, die Person an sich zu beurteilen.

• Wie Sie wissen, ist der Mund hauptsächlich für die Nahrungsaufnahme wichtig. Da Ihre Probleme demnach höchstwahrscheinlich damit zu tun haben, würde ich Ihnen gerne einige weitere Fragen stellen, um die Ursachen genauer einzugrenzen.
• Es geht mir darum, Ihnen bei Ihren Zahnproblemen zu helfen, ich werde nichts weiter beurteilen. Darf ich Ihnen ein paar genauere Fragen stellen?

Gehen Sie nun dazu über, deutlicher auf ein eventuell gestörtes Essverhalten einzugehen.

• Fühlen Sie sich wohl in Ihrem Körper?
• Haben Sie schon Diäten gemacht?
• Ernähren Sie sich einseitig?
• Essen Sie heimlich?

Es gibt aber auch hier noch Patientinnen, die weiterhin jedes abnorme Essverhalten abstreiten. Spätestens jetzt ist Ihnen aber klar, worauf das Gespräch hinauslaufen wird. Fragen Sie deshalb wieder deutlich nach, ob Sie weiter fragen dürfen. Wenn dies nicht der Fall ist, sollten Sie es fürs Erste darauf beruhen lassen und lieber beim nächsten Mal fragen, ob der Patientin noch etwas zum letzten Gespräch eingefallen ist. Erlaubt sie zusätzliche Fragen, können Sie sehr direkt werden.

• Ich bräuchte jetzt noch einige genauere Auskünfte zu Ihrem Essverhalten, um den bestmöglichen Behandlungsplan für Ihre Zähne zu erstellen. Sagen Sie mir, sobald Sie sich mit den Fragen unwohl fühlen.
• Machen sich andere Leute Sorgen um Ihr Essverhalten?
• Benutzen Sie Abführmittel, um abzunehmen?
• Waren Sie schon in psychologischer Behandlung?
• Übergeben Sie sich gelegentlich nach dem Essen?

Wenn die Person sich durchweg weigert, mit Ihnen über die Probleme zu sprechen, versuchen Sie zumindest, den Hausarzt zu informieren. Kündigen Sie dabei nicht an, dass Sie dem Arzt von Ihrem Verdacht berichten wollen, sondern umschreiben Sie es damit, dass Sie gerne den zahnmedizinischen Befund weitergeben würden. Lassen Sie sich diese Erlaubnis aber bitte unterschreiben!

• Ich würde Ihrem Arzt gerne die Probleme, die Sie mit Ihren Zähne haben, aus zahnärztlicher Sicht mitteilen. Sind Sie damit einverstanden?

Hat sich die Person im Verlauf des Gesprächs geöffnet, ist es wichtig, dass Sie Anlaufstellen für die Problematik nennen. Versuchen Sie nicht, das psychologische Problem zu lösen. Verdeutlichen Sie der Patientin aber genau, welche Auswirkungen ihr Essverhalten auf die Zahngesundheit hat. Schaut man z.B. in Internetforen, ist die Angst um die Zähne ein wichtiges Diskussionsthema. Viele Bulimikerinnen haben sich auf den Weg der Therapie begeben, weil sie ihre Zähne schützen wollen. In diesem Sinn unterstützen Sie mit Ihrem Gespräch nicht nur die Zahngesundheit, sondern auch das psychische Wohl.

Hat sich die Patientin nicht geöffnet, so haben Sie bestimmt einen Grundstein gelegt, über das eigene Verhalten nachzudenken. Manchmal wirkt es erst Jahre später, da die Person zu dem jetzigen Zeitpunkt noch nicht bereit für Veränderungen ist.

Grundlegende Zahnpflegetipps sollten Sie in jedem Fall mitgeben und einen engmaschigen Behandlungsplan vorschlagen. Dadurch merkt die Patientin, dass Sie sich trotz ihrer ablehnenden Haltung weiter für sie interessieren (z.B. Christensen, GJ [2002], J Am Dent Edu: Oral care for patients with bulimia).

_ Nach dem Erbrechen sollte die Patientin den Mund mit einer neutralisierenden Flüssigkeit spülen (z.B. Natriumhydrogencarbonat in Wasser). Steht das nicht zur Verfügung, ist eine Spülung mit fluoridisiertem oder klarem Wasser besser als nichts.
_ Die Patientin sollte für 30–60 Minuten nicht die Zähne putzen, da der Zahnschmelz durch die Magensäure aufgeweicht wurde.
_ Vorzuziehen ist die Verwendung einer weichen Zahnbürste.
_ Erläutern Sie die Nutzung eines Zungenschabers, um die Säure möglichst gründlich aus dem Mund zu entfernen.
_ Die Patientin sollte tagsüber Wasser trinken, um Säurereste nachhaltig zu verdünnen.
_ Eine Medikamententrägerschiene mit fluoridhaltigem Gel könnte vor dem Erbrechen eingesetzt werden.
_ Beim Essen sollte auf säure- und zuckerarme Produkte geachtet werden.
_ Kaugummis mit Xylitol regen den Speichelfluss an.
_ Säurehaltige Getränke vorzugsweise mit Strohhalm trinken, damit die Flüssigkeit weniger an die Zähne gelangt.

Fazit

Patientinnen mit Essstörungen fallen in der Zahnarztpraxis eher auf als im alltäglichen Leben. Die Auswirkungen auf die Zahngesundheit sind enorm, weshalb der Zahnarzt die Problematik ansprechen sollte. Er kann Vertrauen aufbauen, Informationen liefern und den weiteren Verlauf der Krankheit sowohl zahnmedizinisch als auch psychologisch beeinflussen. Das Gespräch ist jedoch nicht immer einfach, da die Patientinnen gelernt haben, ihre Krankheit zu verstecken. Häufig schämen sie sich sogar für ihr Verhalten. Verdeutlichen Sie aus Sicht des Zahnarztes mit Ihren Fragen, dass Sie wissen, um was es geht – drängen Sie die Patientin aber nicht. Solange der Überlebenswille der Patientin noch vorhanden ist, werden Ihre Informationen wichtige Puzzleteile im ganzheitlichen Bild der Therapie liefern.

Dr. Lea Höfel

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