Prophylaxe 07.02.2017
Polypharmazie im Alter
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Was das zahnärztliche Praxisteam wissen sollte
Die Vielfalt und Komplexität der möglichen medikamentösen Therapien nimmt ständig zu. Thematisiert werden sollen daher die Risiken, die zu einer problematischen Polypharmazie führen können und welchen Beitrag das zahnärztliche Praxisteam leisten kann, damit Polypharmazie nicht zu einem Spitalaufenthalt führt. Einige wichtige Punkte für das Praxisteam sollen beschrieben werden, die bei Polypharmazie im Alter beachtet werden müssen, sodass Polypharmazie nicht gefährlich werden kann.
Werden fünf oder mehr verschiedene Medikamente gleichzeitig eingenommen, spricht man von Polypharmazie. Neben der sinnvollen Polypharmazie, die z. B. bei der Behandlung von Hypertonie oder HIV vorliegt, gibt es die problematische Polypharmazie. Sie betrifft in erster Linie ältere Patienten, die an mehreren chronischen Krankheiten leiden. Man spricht von Multimorbidität. Die Therapierichtlinien werden krankheitsspezifisch formuliert. Werden die Medikamente kombiniert, können die Wirkungen für den Patienten ungünstig ausfallen. Interaktionen und unerwünschte Arzneimittelwirkungen treten gehäuft auf, wenn der Blick auf die Gesamtmedikation des Patienten verloren geht. Akute Probleme bei Polypharmazie nehmen bei älteren Patienten kontinuierlich zu und werden aktuell für rund 5 % der Spitaleinweisungen verantwortlich gemacht.1 Von besonderer Bedeutung in der zahnärztlichen Praxis sind Analgetika vom Typ nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR), wichtig ist daher die veränderte Pharmakokinetik und Pharmakodynamik von Analgetika im Alter.
Veränderungen im Alter am Beispiel Schmerztherapie
In unserem Beispiel nehmen wir an, dass nach einem größeren zahnärztlichen Eingriff Ibuprofen, ein NSAR gegen Schmerzen, Entzündung und Schwellung, verordnet wird. Im Alter sind viele Körperfunktionen verändert. Dies kann zu einer veränderten Pharmakokinetik führen: Aufnahme, Verteilung und Ausscheidung von Arzneimitteln sind meistens, aber nicht immer, verlangsamt. Auch die Pharmakodynamik, die Medikamentenwirkung, kann im Alter abgeschwächt oder verstärkt sein. Im Folgenden betrachten wir veränderte Konditionen bei älteren Patienten und deren Auswirkung auf Pharmakokinetik und Pharmakodynamik am Beispiel Ibuprofen.
a) Weniger Körperwasser, Dehydrierung
Ältere Patienten sind häufig dehydriert. Ibuprofen verteilt sich in weniger Flüssigkeit, was eine Konzentrationserhöhung zur Folge hat. Die gleiche Dosis Ibuprofen bewirkt eine stärkere Wirkung. Die Dosis sollte allenfalls reduziert werden. Die Bewegung „Less is more“ stellt hier die Schlüsselfrage: Ist die Dosierung die niedrigst effektive?2
b) Plasmaproteine nehmen ab
Ibuprofen bindet an Plasmaproteine, deren Konzentration ist bei älteren Patienten reduziert. Ibuprofen liegt deshalb in größeren Mengen als freier Wirkstoff vor. Die Wirkung ist verstärkt. Auch hier sollte allenfalls die Dosis reduziert werden.
c) Verringerte Schleimbildung im Magen-Darm-Trakt
Unter NSAR-Therapie kann es auch bei jungen Patienten zu gastrointestinalen Blutungen kommen. Sind die Magen-/Darmschleimhäute dünner, wie das im Alter üblich ist, ist die Blutungsgefahr zusätzlich erhöht. Je nach Dosierung, Therapiedauer, Alter, Erkrankungen und anderen Medikamenten, z. B. Glukokortikoiden, kann es bereits nach wenigen Tagen zu Magenschmerzen und intestinalen Blutungen kommen. Die zusätzliche Verabreichung eines Protonenpumpenhemmers muss daher auch bei Kurzzeiteinsatz eines NSAR in Erwägung gezogen werden.
d) Reduktion der Nierenfunktion und -durchblutung
Über-70-Jährige besitzen etwa die Hälfte der jugendlichen Nierenfunktion. NSAR führen zu einer Reduktion der Nierendurchblutung. Die Kombination Alter und NSAR bewirkt, dass renal ausgeschiedene Arzneistoffe langsamer eliminiert werden. Die Wirkungsdauer und die Wirkungskonzentration steigen an. Bei Patienten mit Herzinsuffizienz, chronischer Niereninsuffizienz oder anderen Risiken für ein akutes Nierenversagen dürfen NSAR nur unter ärztlicher Aufsicht verabreicht werden, da NSAR innerhalb kurzer Zeit zu Nierenversagen führen können und eine Überprüfung der Nierenfunktion nach wenigen Dosen erforderlich ist. Je nach Schweregrad der Erkrankung muss die Dosis von Ibuprofen reduziert werden oder es muss eine alternative Therapieoption in Erwägung gezogen werden. Hier empfiehlt sich ein Blick in die PRISCUS-Liste (www.priscus.net). Unter www.dosing.de kann die Dosierung bei Niereninsuffizenz überprüft werden.
e) Abnahme der Leberfunktion
Die Abnahme der Leberfunktion bewirkt eine verlangsamte Metabolisierung von Arzneistoffen, die in der Leber abgebaut werden. Eine verlangsamte Metabolisierung führt zu einer Konzentrationserhöhung und einer verlangsamten Elimination der Arzneistoffe. Auch hier ist allenfalls eine Dosisreduktion ratsam. Hier gilt: „Start low, go slow“. Von der Abnahme der Leberfunktion ist Paracetamol mehr betroffen als NSAR. Soweit der Einfluss auf NSAR. Werden dem Patienten in unserem Beispiel zusätzlich Opioid-Analgetika oder Benzodiazepine verordnet, sind weitere veränderte Funktionen im Alter im Auge zu behalten.
f) Veränderte ZNS-Funktionen
Die Blut-Hirn-Schranke ist im Alter durchlässiger. Lipophile, ZNS-gängige Substanzen wie z. B. Benzodiazepine und Opioid-Analgetika wirken verstärkt. Die Gefahr von Delir, Sedierung und Schwindel ist erhöht. Zudem ist die Dichte und Sensitivität der Opioid-Rezeptoren verändert, was zu einer erhöhten Opioid-Empfindlichkeit führt. Benzodiazepine und Opioid-Analgetika sollten daher tiefer dosiert werden. Zudem sollte vor der Verordnung ein Blick in die PRISCUS-Liste geworfen werden.3
g) Weniger Muskelmasse, mehr Körperfett
Im Alter nimmt die Muskelmasse ab und die Prävalenz von Adipositas zu. Lipophile Substanzen wie Benzodiazepine und Opioid-Analgetika kumulieren im Fettgewebe. Je mehr Körperfett, desto größer die Kumulationsgefahr. Durch die reduzierte Muskelfunktion sind die Sturzgefahr und die Sturzauswirkungen im Zusammenhang mit Opioid-Analgetika und Benzodiazepinen erhöht. Das Dosierungsintervall muss angepasst werden.
Konsequenzen für die Arzneimitteltherapie im Alter
Gewisse Arzneistoffe sind im Alter grundsätzlich nicht geeignet. Die PRISCUS-Liste3 umfasst 83 Wirkstoffe, die als potenziell ungeeignet für Senioren gelten sowie therapeutische Alternativen. Das NSAR Indometacin (=Indomet®) ist beispielsweise gemäß der PRISCUS-Liste potenziell inadäquat für ältere Patienten, weil es verstärkt gastrointestinale Blutungen und Nierenversagen verursachen kann. Als Therapiealternativen werden Paracetamol, schwach wirksame Opioide und schwächere NSAR mit kürzerer Wirkungsdauer (z. B. Ibuprofen) empfohlen. Wichtig ist, die Einnahme von Ibuprofen nüchtern und mit viel Flüssigkeit zu empfehlen. Die PRISCUS-Liste ersetzt nicht eine sorgfältige Beurteilung des individuellen Nutzen-Risiko-Verhältnisses. Sie soll bei der Arzneimittelwahl bei älteren Patienten als Hilfsmittel für medizinisches Fachpersonal herangezogen werden.
Risiken in der zahnärztlichen Praxis erkennen
Wie eingangs erwähnt, gibt es sinnvolle und problematische Polypharmazie. Wichtig ist es, die Risiken zu erkennen, die eine problematische Polypharmazie hervorrufen können. Alle in der zahnärztlichen Praxis Tätigen können helfen, Risiken im Zusammenhang mit Polypharmazie zu erkennen.
a) Risikopatient erkennen
Hat ein Patient Gangschwierigkeiten und ist unsicher beim Gehen, beklagt er sich über Schwindel, Unwohlsein oder Übelkeit, muss an Polypharmazie gedacht werden.
b) Risikosituationen erkennen
Ältere Patienten mit mehreren Diagnosen sind oft von Polypharmazie betroffen. Wenn ein Patient seine Medikamente nicht aufzählen kann, muss sichergestellt werden, dass er eine Dosierungshilfe einsetzt, in denen die täglichen Medikamenteneinnahmen in Tablettenboxen geordnet vorliegen. Sinnvoll ist es in diesen Fällen, nach dem Medikationsplan zu fragen. Patienten haben seit 1. Oktober 2016 Anspruch auf einen bundeseinheitlichen Medikationsplan, wenn sie mindestens drei zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnete, systemisch wirkende Medikamente gleichzeitig einnehmen.4 Die Anwendung muss über einen Zeitraum von mindestens 28 Tagen vorgesehen sein. Zunächst gibt es den Plan primär auf Papier. Ab 2018 soll der Medikationsplan im elektronischen Patientendossier gespeichert werden können. Die elektronische Speicherung der Medikationsdaten ist für den Patienten freiwillig.
c) Risikomedikamente und gefährliche Medikamentenkombinationen erkennen
Die Risikomedikamente sind auf der PRISCUS-Liste zusammengefasst. Je mehr verschiedene Medikamente ein Patient einnimmt, umso höher ist das Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Wechselwirkungen zwischen einzelnen Medikamenten. Für Medikamentenchecks können verschiedene Online-Portale herangezogen werden, z. B. www.epocrates.com.
Ein weiteres Risiko sind die selbstgekauften Medikamente, inklusive Phytotherapeutika und Nahrungsmittelergänzungen. Bevor dem älteren Patienten ein Analgetikum in der zahnärztlichen Praxis empfohlen wird, sollte nachgefragt werden, welche Analgetika der Patient zu Hause hat, welche er regelmäßig und welche er sporadisch einnimmt. Es muss sichergestellt werden, dass der Patient nicht zwei verschiedene Analgetika mit demselben Wirkstoff einnimmt. Zudem sollte der Zahnarzt z. B. nicht Mefenacid verordnen, wenn der Patient gegen seine Rückenschmerzen bereits Ibuprofen einnimmt. Falls der Patient Aspirin cardio® in der Verordnung hat, muss dies bei der Wahl des Analgetikums berücksichtigt werden, um Blutungsrisiken zu minimieren. Zudem kann Ibuprofen die Wirkung von Aspirin cardio® aufheben, wenn die Medikamente gleichzeitig eingenommen werden. Es wird empfohlen, Ibuprofen zwei Stunden nach Aspirin cardio® einzunehmen.
Fazit für die Praxis
Ältere Patienten haben ein erhöhtes Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Überdosierungen. Das zahnärztliche Praxisteam kann ein wichtiges Glied in der medikamentösen Versorgung dieser Patienten sein und mithelfen, Polypharmazie nicht gefährlich werden zu lassen. Eine sorgfältige Anamnese ist der Schlüssel für eine bestmögliche Einschränkung der Risiken von Polypharmazie. Dabei sollen alle Medikamente erfasst werden, die der Patient aktuell und sporadisch einnimmt: alle von den verschiedenen Ärzten verordneten Medikamente, alle in der Apotheke selber gekauften Medikamente und auch alle Nahrungsergänzungsmittel und Phytotherapeutika. Ein vom Patienten abgegebener Medikationsplan erleichtert die Arbeit des Praxisteams. Bei mehr als sechs täglichen Einzeldosen sind ältere Patienten häufig überfordert. Die Frage an den Patienten, wie er mit den täglichen Einnahmezeiten umgehen kann, darf auch in der zahnärztlichen Praxis gestellt werden. Durch ein persönliches Gespräch kann der Praxismitarbeiter die Bedürfnisse und Gepflogenheiten des Patienten ermitteln, und allenfalls Schritte für eine verbesserte, sicherere medikamentöse Therapie einleiten (Shared decision making). Je größer das Wissen des Praxisteams über Medikamente im Allgemeinen ist, umso besser fühlt sich der oft mit seinem Therapieplan überforderte Patient aufgehoben. Das geschulte, aufmerksame Praxisteam sieht Medikamentenwirkungen, die dem Arzt oder dem Apotheker entgehen können. Alle Gesundheitsfachpersonen sind gefordert, um die Risiken der Polypharmazie im Alter zu senken!
Eine ausführliche Literaturliste finden Sie hier.