Prophylaxe 19.09.2011

Praxiskonzept 80+: Bedarfsgerechte Behandlung alter und sehr alter Menschen



Praxiskonzept 80+: Bedarfsgerechte Behandlung alter und sehr alter Menschen

„Mehr als die Hälfte der heute in Deutschland geborenen Kinder werden ihren 100. Geburtstag feiern – im 22. Jahrhundert“, so James Vaupel, Leiter des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock. Die demografische Entwicklung verändert nicht nur unsere Gesellschaft, sondern zwingt ebenso die Zahnarztpraxen, auf die neuen Herausforderungen mit entsprechenden Konzepten zu reagieren. Während heute jeder 20. in Deutschland 80 Jahre oder älter ist, wird dies im Jahr 2060 jeder Siebte sein. So ist es keineswegs zu früh, sich mit den praktischen Aspekten der Alterszahnmedizin vertraut zu machen und zu überlegen, ob die gängigen Praxiskonzepte auch für Patienten über 80 geeignet sind.

 

Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, sich die Zeiten dieser Menschen, die 1931 und früher geboren sind, vor Augen zu halten. Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich, Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit waren gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Erfahrungen, die diese Menschen ohne Zweifel stark geprägt haben. Vor allem aber ist es notwendig, die Empfindungen, Wünsche, Bedürfnisse und Erfahrungen dieser Gruppe von Patienten zu kennen. Wie empfinden Menschen über 80 ihr Alter? Als Bürde, als Würde? 

Grundlegende Antworten auf diese Fragen finden sich bei Paul Baltes (1939–2006),, Entwicklungspsychologe  und ehemaliger Direktor am Max- Planck-Institut in Berlin. Er sagte über alte Menschen: „Im vierten Alter offenbart sich unbarmherzig die biologische Unfertigkeit des Menschen. Die Stärken des Alters liegen in der emotionalen Intelligenz und im Weisheitswissen. Es gelingt Menschen dieser Altersgruppe erstaunlich gut, ihr Leben in einem immer engeren Umfeld und unter körperlichen Beeinträchtigungen so einzurichten, dass sie ein positives Selbstbild entwickeln, indem sie ihre Erwartungen besser an die Realität anpassen. Dennoch stößt die adaptive Ich-Plastizität an Grenzen, was Lerneffektivität und Wohlbefinden betrifft.“ 


Ziel: positive Gewinn-Verlust-Bilanz 

In diesem Satz spiegeln sich Würde und Bürde eines Menschen im hohen Alter wider. Alte Menschen kennen sich aus mit den Herausforderungen des hohen Alters. Alte Menschen haben erfahren, dass Altern mit Verlusten, aber auch mit Gewinn verbunden ist. „Erfolgreiches Altern ist“, nach Baltes, „die Fähigkeit, auch im späten Leben eine möglichst positive Gewinn-Verlust-Bilanz zu erreichen.“ Unsere Profession kann mit den Möglichkeiten moderner zahnmedizinischer Prävention und Therapie viel dazu beitragen, diese Bilanz positiver zu gestalten. 


Erwartungen an das Praxisteam kennen 

Will man ein schlüssiges und erfolgreiches Praxiskonzept etablieren, gilt es zuerst die Wünsche der Menschen dieser Patientengruppe an das Praxisteam zu kennen, sie ernst zu nehmen und im Konzept zu berücksichtigen. Alte Menschen möchten Achtung und Beachtung erfahren und nicht als Belastung für die Praxis empfunden werden. Sie wünschen sich vom Zahnarzt und seinen Mitarbeiterinnen eine positive Einstellung zu alten Menschen und ein ausführliches Gespräch über die Behandlung. Sie möchten nicht anders angesehen und behandelt werden als jeder andere Patient auch, vor allem möchten sie nicht als problematisch eingestuft werden.

Ein besonderer Wunsch ist die Versorgung im Pflegefall in der gewohnten häuslichen Umgebung durch das Praxisteam. Alle anderen Wünsche, wie bedarfsgerechte Behandlung von Erkrankungen, Erhalt oder Wiederherstellung von Schmerzfreiheit und Lebensqualität, decken sich mit denen jüngerer Menschen.


Empathie für Menschen über 80 

Voraussetzung für ein tragfähiges und erfolgreiches Praxiskonzept ist die Einstellung und die Empathie des gesamten Praxisteams für Menschen über 80. Empathie ist weit mehr als Sympathie und bedeutet die Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln und das Verhalten und Denken eines anderen Menschen zu verstehen – sich also in jemanden hineinzuversetzen. Diese Grundvoraussetzung und das Gefühl, dass die Würde und das Selbstwertgefühl des alten Patienten bei der Behandlung erhalten bleiben, entscheiden sehr darüber, ob es gelingt, diese Menschen für regelmäßige Kontroll- und Behandlungstermine zu gewinnen.

Eine psychologisch sensible, rücksichts- und respektvolle Führung und eine mehrdimensionale Erfassung – körperlich, psychisch, sozial, funktionell und ökonomisch – erleichtern entscheidend den Zugang zum alten Patienten und erhöhen dessen Motivation und Bereitschaft zu notwendigen Behandlungs- und Präventionsmaßnahmen. 


Vorfahrt für die Prävention 

In einem Praxiskonzept 80+ muss Prävention Vorfahrt haben. Die Erhaltung vorhandener oraler Strukturen durch Prävention ist wichtiger als invasive Maßnahmen. Auch wenn alltägliches prophylaktisches Verhalten für viele ältere Menschen keine Selbstverständlichkeit ist, weil Zahnerhaltung durch Prophylaxe in ihrer Kinder- und Jugendzeit noch kein Thema waren, sind sie dennoch sehr aufgeschlossen für Informationen über Möglichkeiten der Zahnerhaltung. Viele Menschen sind auch im vierten Lebensalter neugierig, wissbegierig und lernfähig, wenn Zusammenhänge verständlich aufgezeigt werden.

Hierbei sind die große Darstellung einer digitalen Röntgenaufnahme und die Präsentation der Mundsituation mit der intraoralen Kamera am Monitor eine unverzichtbare Hilfe. Befunde lassen sich auf diese Weise eindrucksvoll visualisieren und erläutern. Mit Unterstützung dieser modernen „Motivationshilfen“ ist auch der alte Patient leicht von notwendigen Behandlungen oder Prophylaxemaßnahmen wie professionelle Zahnreinigungen, Applikation antimikrobieller Lacke, Fluoridierungen, Prothesenreinigung und regelmäßige Erhebung parodontaler Befunde zu überzeugen. 


Internistisches Basiswissen 

Ein sehr wichtiger Aspekt in einem Praxiskonzept 80+ ist das Bewusstsein des Praxisteams für die Multimorbididät und die damit verbundene Multimedikation, die nicht unerheblichen Einfluss auf Behandlungsmaßnahmen haben können. So ist dringend anzuraten, vor jeder Behandlung die aktuelle Anamnese zu erheben, um Kenntnis über Erkrankungen und die aktuelle Arzneimitteleinnahme zu haben. Ein seriöses Praxiskonzept verlangt vom Praxisteam ausreichende Kenntnisse über altersassoziierte Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus, Schlaganfall, Parkinson, Demenz, insbesondere vom Typ Alzheimer, gut- und bösartige Tumore, Osteoporose, Gicht, Arthritis, Arthrose, Mundtrockenheit durch Medikamente, Schwerhörigkeit, mangelndes Sehvermögen und andere.

Aufgrund der Multimorbidität und der damit verbundenen Einnahme vieler Arzneimittel ist mit internistischen Notfällen immer zu rechnen. Deshalb sollte zu einem verantwortungsvollen Praxiskonzept auch die regelmäßige Vorbereitung auf solche Zwischenfälle gehören. Als kleines Beispiel möge die Hypoglykämie dienen, auf deren Erkennung und Behandlung jede Praxis adäquat reagieren können muss: Bei erhaltenem Bewusstsein Traubenzucker, bei verlorenem Bewusstsein eine Glucagonspritze (z.B. GlucaGen®HypoKit) geben. 


Praxis seniorengerecht gestalten und führen 

Wenn alte Menschen sich in einer Praxis wohlfühlen, dann liegt es in erster Linie am freundlichen, einfühlsamen und respektvollen Umgang mit ihnen, aber auch daran, dass eine Praxis seniorengerecht gestaltet ist. Es lohnt sich, einmal einen Rundgang mit den Augen eines alten Menschen durch die eigene Praxis zu machen. Vieles fällt einem dabei auf, was unter dem Aspekt einer seniorengerechten Praxis verändert werden könnte: Sind die Sitzgelegenheiten im Wartezimmer für alte Menschen geeignet und bequem? Ist die Praxis ausreichend hell beleuchtet? Gibt es Absätze und Stolperfallen vor und in der Praxis? Können sich in ihrer Mobilität eingeschränkte Patienten mit ihrer Gehhilfe, ihrem Rollator oder Rollstuhl problemlos bewegen? Ist genügend Platz im Behandlungsraum zum Umsetzen vom Rollstuhl in den Behandlungsstuhl? Lassen sich in der Praxis Barrieren abbauen? Ist eine Anfahrt mit dem Auto direkt vor die Praxis möglich? Fragen über Fragen, die es lohnt, für seine eigene Praxissituation zu beantworten und Änderungen, so weit möglich, vorzunehmen. 

Zur seniorengerechten Praxis gehört nicht nur die „Hardware“, wie Praxiseinrichtung, sondern auch die „Software“, der Umgang mit Senioren: Geduld im Gespräch, Geduld in der Behandlung, ausreichend Zeit, um eine stressfreie Behandlungsatmosphäre zu ermöglichen, verständnisvolles Eingehen auf besondere Wünsche und Bedürfnisse. 


Aufsuchende Betreuung im Pflegefall 

Ein tragender Pfeiler eines Praxiskonzepts für Menschen im vierten Lebensalter ist das Angebot einer mobilen zahnmedizinischen Betreuung im Falle der Immobilität eines Patienten. Wenn also der Patient eines Tages nicht mehr in der Lage ist, in die Praxis zu kommen, muss die Bereitschaft und Möglichkeit bestehen, dass das zahnärztliche Team zum Patienten nach Hause kommt. Hausbesuche des Zahnarztes mit seinen Mitarbeiterinnen sind zwar heutzutage noch nicht selbstverständlich, aber die demografische Entwicklung zwingt über kurz oder lang jede Praxis dazu, mobil zu werden, um ihre alten Patienten nicht aus den Augen zu verlieren – aus ethischen Gründen, aber auch, um im Wettbewerb nicht ins Hintertreffen zu geraten.

Eine mobile zahnärztliche Betreuung bedarf sorgfältiger Vorbereitung und Organisation, Flexibilität, Kreativität und Idealismus. Hausbesuche erfordern im Vorfeld Gespräche mit dem Patienten, mit Angehörigen, Betreuern, Hausärzten und eventuell mit der Pflegedienstleitung – und sie erfordern eine gewisse technische Ausrüstung, um adäquat helfen zu können. In jedem einzelnen Fall gilt es sehr kritisch und verantwortungsvoll, die Möglichkeiten und Grenzen einer mobilen Behandlung abzuwägen. 


Praxisinterne Organisation und Fortbildung 

Ein Praxiskonzept 80+ ohne regelmäßige und systematisch aufgebaute und protokollierte Teambesprechungen ist bei der Fülle der anstehenden Themen im Bereich Alterszahnmedizin nicht vorstellbar. Gut vorbereitete Teamgespräche und praxisinterne Fortbildungen sind ein wesentlicher Pfeiler eines funktionierenden Konzepts, damit der alte Patient auch weiterhin im Mittelpunkt der zahnärztlichen Bemühungen bleibt. Die Verantwortung für die Organisation der Teambesprechungen und die Auswahl der Themen lässt sich zum überwiegenden Teil geeigneten Mitarbeiter/-innen übertragen. Auf diese Weise werden Teambesprechungen zu einer motivierenden Aufgabe für die Fachangestellten und stärken den Teamgeist sowie das Mitverantwortungsgefühl für eine erfolgreiche Praxisführung. Wenn alte Menschen sich in einer Praxis wohlfühlen, dann liegt das neben einer seniorengerechten Praxisgestaltung auch am freundlichen, einfühlsamen und respektvollen Umgang mit ihnen. 


Altersgerechte Prothetik 

Um die mundgesundheitsbezogene Lebensqualität zu erhöhen, ist häufig Zahnersatz notwendig, in erster Linie zwar zum Erhalt oder zur Wiederherstellung der Kaufunktion, aber genauso auch um das Aussehen zu verbessern und damit Sicherheit in der Kommunikation mit anderen Menschen zu geben. Dabei hängt die Wahl des geeigneten Zahnersatzes von der Therapie- und Mundhygienefähigkeit des Patienten ab.

Eine altersgerechte Prothetik berücksichtigt nicht nur die aktuelle Situation und Fähigkeit des Patienten, sondern versucht auch, soweit möglich, die Konstruktion so zu wählen, dass bei späteren Einschränkungen der Zahnersatz gut zu handhaben ist. 


Behandlungsplanung und Nachsorge 

Bei zahnärztlichen Behandlungen größeren Umfangs ist immer auch die Notwendigkeit kritisch zu prüfen und eine Risiko-Nutzen-Abwägung vorzunehmen. In vielen Fällen ist weniger oft mehr. Manchmal kann sogar der Verzicht auf neuen Zahnersatz die richtige Lösung sein, insbesondere dann, wenn die Adaptationsfähigkeit stark reduziert ist.

Kriterien für die Wahl des geeigneten Zahnersatzes sind die Belastbarkeit des Patienten in der Behandlungsphase, die Erweiterbarkeit oder Modifizierbarkeit des vorhandenen Zahnersatzes, die Verbesserung der Kaufähigkeit, die Erhöhung der Lebensqualität und nicht zuletzt die entstehenden Kosten.

Bei aller sinnvollen Planung aus zahnärztlicher Sicht sind der Wille und die Selbstbestimmung des Patienten stets zu beachten. Ein weiterer wichtiger Aspekt in einem Praxiskonzept 80+ ist das Nachsorge-Intervall. Es richtet sich nach der Compliance, der oralen Situation, dem Zahnersatztyp, dem Alter, der manuellen Geschicklichkeit und dem Sehvermögen des Patienten. Besonderes Augenmerk sollte bei jedem Recall-Termin auf die Inspektion der Mundschleimhaut gelegt werden, um insbesondere neoplastische Veränderungen frühzeitig zu diagnostizieren. 

Um alte und sehr alte Menschen bedarfsgerecht zu behandeln, ist nicht nur eine kontinuierliche Fortbildung zu den unterschiedlichsten Themen der Alterszahnmedizin notwendig, sondern mehr und mehr im Berufsstand die Einsicht, dass Zahnmedizin für Menschen im hohen Lebensalter andere Ansprüche stellt als für andere Patientengruppen. Die hier gemachten Ausführungen sollen dazu ermutigen, über ein entsprechendes Praxiskonzept 80+ für die eigene Praxis zu reflektieren. 


Erstveröffentlichung in BZB 7/8 2011  

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