Wissenschaft und Forschung 12.08.2011
Kleine Moleküle ganz groß
Neue Therapieansätze gegen Bakterien, Viren und Krebs
Wissenschaftler
der Freien Universität Berlin und des Exzellenzclusters NeuroCure um
den Biochemiker Prof. Dr. Volker Haucke haben in Zusammenarbeit mit
Kollegen aus Australien und dem Leibniz Institut für Molekulare
Pharmakologie (FMP) in Berlin kleine Moleküle entwickelt, welche die
zelluläre Aufnahme wichtiger Signalmoleküle aber auch
krankheitserregende Organismen wie das menschliche Immunschwäche-Virus
(HIV) oder Bakterien hemmen. Diese Substanzen stören die Funktion des
zellulären Gitterproteins Clathrin und könnten so als Ausgangspunkt für
neue therapeutische Ansätze zur Behandlung von Krebs, viralen oder
bakteriellen Infektionen oder neurologischen Störungen dienen. Die Ergebnisse wurden in der jüngsten Ausgabe des angesehenen internationalen Fachmagazins "Cell" veröffentlicht.
Die Aufnahme wichtiger Signalmoleküle wie Wachstumsfaktoren, aber auch
die Kommunikation im Nervensystem werden durch das zelluläre
Gitterprotein Clathrin vermittelt. Es erzeugt kleine, nur rund 100
Nanometer große Bläschen (ein Nanometer entspricht einem Milliardstel
Meter). Diese Bläschen schleusen Signalmoleküle in das Zellinnere oder
dienen als Pakete zur gezielten Freisetzung von Botenstoffen im
Nervensystem. Die Forscher benutzten niedermolekulare
Substanzbibliotheken, welche rund zwanzigtausend verschiedene chemische
Substanzen umfassen, verbunden mit medizinalchemischen
Syntheseverfahren, um kleine Moleküle zu identifizieren, welche
verhindern, dass Clathrin an seine Partnerproteine bindet. Diese als
Pitstop bezeichneten Moleküle können binnen Minuten verhindern, dass
Signalmoleküle, die das Zellwachstum fördern, oder Viren wie das Humane
Immunschwäche-Virus (HIV) in die Zellen aufgenommen werden. Als Ursache
dieser Blockade haben die Forscher mithilfe leuchtender Proteine eine
Störung der Dynamik von Clathrin und seinen Partnern ausgemacht. „Die
Bildung der Membranbläschen wird gleichsam eingefroren, als ob man die
Zellen in die Tiefkühltruhe gelegt hätte“, erläutert NeuroCure-Mitglied
Professor Haucke. Ähnliche Effekte ließen sich im Nervensystem von
Flußneunaugen oder in kultivierten Nervenzellen aus Mäusen oder Ratten
dann beobachten, wenn Clathrin durch Anwendung von Pitstops keine
Membranbläschen bilden kann und damit die Weiterleitung von Botenstoff
unterbunden wird. Da neurologische Störungen – etwa Epilepsie – oftmals
durch eine Übererregbarkeit von Nervenzellen verursacht werden, könnte
die gezielte Dämpfung der Übertragung von Erregung im Nervensystem durch
Pitstops und ähnliche Substanzen neue Therapiewege zur Behandlung von
Krankheiten wie Epilepsie eröffnen. „Clathrin-vermittelte zelluläre
Aufnahme ist von so fundamentaler Bedeutung“, führt Biochemiker Haucke
aus, „dass wir hoffen, durch die Entwicklung dieser Inhibitoren ganz
neue Konzepte zur Behandlung bislang nur schwer therapierbarer
Krebsarten wie Hirntumoren zu erhalten – Tumore, deren Wachstum eng mit
der Aufnahme von Signalmolekülen zusammenhängt, die die Zellteilung
fördern.“