Branchenmeldungen 28.02.2011
Zu häufige Arztbesuche und zu wenig Zeit
Im Minutentakt werden Millionen Patienten in Deutschland ihre Therapien zugeteilt. In keinem anderen europäischen Land nehmen sich die Ärzte so wenig Zeit für die Menschen. Oft geben sich die Versicherten in den Praxen die Klinke in die Hand. Die seit Jahren hohe Zahl der Arztbesuche ist noch einmal gestiegen - um 2 auf im Schnitt 18 pro Bundesbürger und Jahr. Experten fordern, das Gespräch mehr in den Mittelpunkt zu rücken.
Auf lange Wartezeiten folgen oft kurze Diagnose- und Behandlungsgespräche. An einem Spitzentag muss ein niedergelassener Mediziner laut einer neuen Studie im Auftrag der Gmünder ErsatzKasse (GEK) bis zu 70 Patienten am Tag betreuen - pro Hilfesuchenden bleiben im Schnitt dann sechs Minuten. Sonst sind es verschiedenen Angaben zufolge knapp acht bis zwölf Minuten. Ob in der Schweiz, in Belgien oder in Norwegen - laut einer Erhebung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) haben Ärzte überall in Europa mehr Zeit, im Schnitt 30 Prozent mehr.
Für den Hannoveraner Gesundheitsforscher Friedrich Wilhelm Schwartz hat der vergleichsweise große Rummel in den Praxen zwei Seiten. „Der Arzt kann sich fortlaufend über seine Patienten informieren, und die Patienten können immer hingehen“, sagt er. „Aber für die Patienten ist es oft schwierig, ihre Anliegen in den kurzen Kontaktzeiten vorzubringen.“ Missverständnisse, im Dunkeln bleibende Details, fehlende Angaben über Begleiterscheinungen und sonst eingenommene Medikamente - nach Angaben deutscher Patientenvertreter kann Ärztestress zu teils erheblichen Problemen führen.
Der GEK-Vorsitzende Rolf-Ulrich Schlenker lobt die hohe „Versorgungsdichte“ bei den Arztpraxen in Deutschland, hinsichtlich der Qualität sieht er aber Skepsis angebracht. Schlenker spricht sich für stärker pauschale Vergütungen aus, so dass die „Wiedereinbestellerei“ der Praxen sinkt. Viele Ärzte sind mit der Situation selbst unzufrieden. 35 Prozent der niedergelassenen Mediziner und 56 Prozent der Klinikärzte sagen laut einer Allensbach-Umfrage, nicht genügend Zeit für ihre Patienten zu haben. Der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, warnt seit längerem vor einem Wust an Vorschriften: „Wir ersticken in immer neuen bürokratischen Auflagen und werden gezwungen, die sprechende Medizin hintanzustellen.“
IQWiG-Chef Peter Sawicki betont andere Ursachen: „Wir müssen es höher bewerten, wenn Ärzte sich mehr Zeit für ihre Patienten nehmen.“ Aus seiner Sicht wird im Vergleich dazu in Deutschland zu viel Geld für neue Technik und teure Therapien ausgegeben - oft mit zweifelhaftem Nutzen.
Quelle: dpa, 15.01.09