Lifestyle 12.12.2016

Weihnachten im Südpolarmeer

Weihnachten im Südpolarmeer

Foto: © Cleo BarnhamI/Hugo Boss/Vendée Globe

Die Vendée Globe ist die härteste Einhandregatta um die Welt. Ihre DNA ist simpel: alleine, nonstop und ohne Assistenz.

Die Meeresgebiete südlich des 60. Breitengrades, die den Kontinent Antarktika, die eigentliche Landmasse der Antarktis, umgeben, werden auch Südpolarmeer, Südliches Eismeer oder Antarktischer Ozean genannt. Zusammen mit der Landmasse Antarktika bilden sie die Weltregion Antarktis.

Es ist völlige menschliche Abgeschiedenheit. Das Südpolarmeer gilt bei Seeleuten als das stürmischste aller Weltmeere. Es sind horrende Winde und Schneeflocken zwischen meterhohen Wellen. Aus Bruchstücken des Schelfeises schieben sich Tafeleisberge zusammen. Jenen zu begegnen, ist eines Seemanns Wunsch und Albtraum zu gleich.

November 2016

Massen pilgern nach Les Sables-d'Olonne. Die Ausnahmestellung dieser Abenteuer-Regatta ist in Les Sables-d'Olonne seit Wochen allgegenwärtig.

Tausende Journalisten berichten über die Veranstaltung. In der Woche vor dem Start liegen die Jachten an ihren Stegen und die Fans kommen in Massen vorbeigepilgert. Die französische Bahn fährt Sonderzüge für die Strecke Paris–La Rochelle. An jedem Tag ist der riesige Busparkplatz vor dem Hafen überfüllt. Bevor sich die Absperrgitter jeweils um Punkt 10 Uhr öffnen, warten Tausende schon seit Stunden am Regattahafen von Les Sables-d'Olonne. Dann schwappt die Menschenflut über das Hafengelände. 1,5 Millionen Besucher sind gezählt worden. Die Massen schieben sich vorsichtig über die Bretter des auslegenden Steges und defilieren an den Booten vorbei. Ein paar Schaulustige fallen dennoch ins Wasser. Sie alle wollen diesen Gladiatoren der Meere nahe sein, einem der Skipper die Hand schütteln oder vielleicht sogar ein Autogramm ergattern.

Franzosen sind segelbegeistert, sie haben mit dem Mittelmeer und dem Atlantik zwei bedeutende Küsten als Zugang zur Welt. Wenn die Zuschauer ihre Helden mit Bewunderung und Verehrung zur Startlinie verabschieden, senden mehr als 45 Fernsehstationen vor Ort die Sensationsbilder in alle Länder.

Die Vendée Globe ist die härteste Hochsee-Einhandregatta der Welt. Nonstop geht es für die Protagonisten über drei Monate um den Globus. 24.000 Seemeilen, sprich 45.000 Kilometer, alleine auf den Ozeanen dieser Welt. Kap der Guten Hoffnung, Kap Leeuwin und Kap Hoorn bleiben an Backbord, 30 Prozent der Strecke führen durch das Südpolarmeer entlang der Treibeisgrenze. Rekord ist 78 Tage.

Es ist der Heilige Gral der Hochseesegler, der Mount Everest des Segelsports.

Aber wer ihn erklimmen will, muss mit seinen Kräften und denen der Jacht haushalten. Es gibt einen Grundsatz, ein wichtiges Dogma für diese extremen Langstrecken:

„To finish first, you have to finish first!“

Die Ausfallquote bei der alle vier Jahre stattfindenden Regatta liegt bei fast 50 Prozent. Masten brechen, Kiele versagen, Segler machen schlapp. Es versteht sich von selbst, ein Boot hart zu segeln, ohne es zu zerstören.

Seit 1989 wird der Wettkampf ausgetragen. Zwei Segler starben, einer gilt als verschollen, andere konnten in letzter Minute gerettet werden, wieder ein anderer nähte sich selbst die Zunge wieder an, die er sich vorher bei einem Sturm abgebissen hatte.

Es ist eine Hatz, die vornehmlich von Franzosen dominiert wird, eine Regatta, die hierzulande kaum bekannt ist, obwohl sie Weltruf genießt und alles hat, was ein modernes Seeabenteuer benötigt: Es gibt Heldentum, Tragik sowie das ständige Überschreiten der eigenen physischen und psychischen Grenzen.

Die Rennjachten vom Typ IMOCA Open 60 sind 18,30 Meter lang. Die Vollkarbon-Rümpfe haben einen schwenkbaren Kiel, 28 Meter Mast und bis zu 620 Quadratmeter Segelfläche. Normalerweise werden Boote dieser Größe von mindestens 15 Mann Besatzung gesegelt. Für den Otto Normalsegler schier unvorstellbar, mit so einer Jacht überhaupt heil in den Hafen zu kommen. Die Schiffsrümpfe erinnern an Space Shuttles. Im hoch geschnittenen Cockpitbereich, der mehr oder weniger vor Wind, Kälte und überkommenden Wellen schützt, halten sich die Skipper die meiste Zeit während der Weltumseglung auf. Von hier kann alles gesteuert und getrimmt werden: Pinne, Fallen, Schoten, Strecker, Winschen, Ruderblatt-Aufhängung, Kielneigungs-Elektronik, Autopilot usw. Über 60 Schoten werden mit Muskelkraft bedient und so unaufhörlich an der maximalen Geschwindigkeit gearbeitet.

Unter Deck ist alles kahl und roh, als hätte das Schiff die Werft vorzeitig verlassen. Pures Karbon, Elektrik, nichts ist verkleidet oder verschönt. Die Küche ist quasi nur ein Gaskocher, das Bett eine im Winkel verstellbare Rohrkoje, Badezimmer Fehlanzeige. Der Spagat der Konstrukteure ist ein rund 4 Millionen Euro teurer Leichtbau, der dennoch den härtesten Bedingungen auf diesem Planeten standhalten muss. Jeglicher Luxus ist dabei unnötiges Gewicht.

Circa 24.000 Seemeilen und mindestens an die 80 Tage allein auf See liegen vor den Skippern und Jachten – Zahlen, die auf einen echten Härtetest für Mensch und Material hindeuten!

Und genau hier spaltet dieses Jahr eine große Frage die Segelgemeinde. Erstmals in der Geschichte ist ein Teil der Flotte mit sogenannten Foils ausgestattet. Diese seitlich schräg herausstehenden Tragflügel generieren ab etwa 20 km/h Bootsgeschwindigkeit so viel Auftrieb, dass sie die zehn Tonnen schweren Boote nahezu komplett aus dem Wasser heben. Durch die geringere Wasserverdrängung klettert die Geschwindigkeit. Es ist ein Novum, ein Generationswechsel in Rumpfdesign und Fahrtechnik, der gerade erst begonnen hat und alles andere als sicher erprobt wurde. Klar ist, dass diese Boote noch mehr Strapazen für die Skipper bedeuten: extreme Bewegungen in hohem Seegang, teils ohrenbetäubender Lärm von den Foils. Auf dem Papier sind sie schneller als die herkömmlichen Boote. Aber halten die neuen Konstruktionen und bleiben die Skipper fehlerfrei in deren Bedienung auf dem langen Weg um den Globus? Momentan dominieren die Foiler das Feld, doch die gewaltigen Seestürme im Südpolarmeer werden der ultimative Test.  

6. November 2016

Diesmal haben es 29 Segelhelden an die Startlinie geschafft. Die Wetterbedingungen mit nordöstlichen Winden sind ideal an jenem Sonntag. Spannung liegt in der Luft. Die Experten erwarten nach dem Start ein Highspeed-Szenario mit vielen Segelwechseln, das den Skippern für die ersten 40 Stunden keinen Schlaf geben wird. Auch wenn das Rennen um die 80 Tage dauert, geht von Anfang an die Post ab. Wer zuerst das Kap Finisterre umrundet, sollte einen besseren Windwinkel bei der Ansteuerung des bremsenden Azorenhochs erwarten. Danach werden sie ein paar Tage von den Trade-Winden bis zu den sogenannten Doldrums getragen. Von diesen nervtötenden Äquatorflauten geht es südlicher, weit südlicher und aus erdrückender Hitze und Schweißperlen werden ziemlich schnell fünf Paar Skiunterwäsche und Überlebensanzug. Zwölf Klimazonen durchquert die Route insgesamt.

Den Schlafrhythmus der Skipper gibt die Natur und der Gegner vor. Maximal 30 bis 45 Minuten sind die Schlafintervalle lang. Manchmal kommen sie über lange Strecken und Tage überhaupt nicht zur Ruhe. Einige Skipper pushen, bis der Schlafmangel zu akustischen – ja sogar visuellen Halluzinationen führt.

Ein besonderes Kapitel im Hochseesegeln ist die Ernährung an Bord. Einerseits benötigen die Segler aufgrund der außergewöhnlichen Anstrengungen wesentlich mehr Kalorien als der Schreibtischtäter, andererseits muss das mitgeführte Essen so wenig wie möglich wiegen. Zwischen 120 und 180 Kilogramm werden für Vorräte einkalkuliert, davon ist ein Großteil vakuumverpacktes, gefriergetrocknetes Essen. Diese sehr leichte Pudervariante wird mit Frischwasser aufgekocht, das ein Watermaker aus Salzwasser generiert.  

Der chronische Schlafmangel, die ständige Nässe und schwere physische Arbeit zehren am Körpergewicht. Es sind bei Weitem keine Annehmlichkeiten, die diesen Wettkampf zur ultimativen Herausforderung machen. Aber allen Protagonisten ist eins gemein: Sie wissen, worauf sie sich einlassen. Neben den teils selbstverständlichen Gefahren, wie Gewitterstürme, schlafende Wale, treibende Container oder Eisberge, reiht sich ein besonderer Aspekt. Die brutale Einsamkeit und Abgeschiedenheit in der Öde ist die eigentliche Sensation, die diesen Wettkampf zum unvergleichlichen Abenteuer macht.

Das Meeresgebiet zwischen dem 40. und 50. Breitengrad Süd ist berüchtigt für seinen unaufhörlich stürmischen, stechend kalten Westwind. In den „Roaring Fourties“ beginnt es hart zu werden. Hier im Südpolarmeer steht man vor der eigentlichen Herausforderung. Hier beginnt das Rennen gegen sich selbst. Es ist die Angst vor dem Niemandsland, die Angst bei Verletzungen auf sich allein gestellt zu sein. Es ist der längste unassistierbare Abschnitt und der Fakt, dass der Kurs die Protagonisten aus jeder Reichweite normalen Notfallzugriffs und Verantwortung entfernt. In den Weiten des Südpazifiks sind die Segler derart auf sich allein gestellt, dass sie genauso gut auf einem anderen Planeten unterwegs sein könnten. Komplett auf sich und ihre Fähigkeiten zurückgeworfen, müssen die Segler alle Probleme und Herausforderungen meistern, jegliche Art von Reparaturen an Bord selbst erledigen, Krankheiten und Verletzungen ohne Zuspruch überstehen, gar selbst Operationen durchführen.

Point Nemo, so heißt der abgelegenste Ort im Ozean, von drei verschiedenen Küsten gleich weit entfernt. Im Zuständigkeitsbereich der neuseeländischen Seenotrettung, die selbst mit einem hoch motorisierten Schiff eine knappe Woche bräuchte.

Je weiter südlich die Segler gehen, umso schonungsloser wird es. Man referiert von den „Furious Fifties“ und „Shrieking“ or „Screaming Sixties“. Es ist der Südpol, die Erdrotation, fehlende Landmassen, die Schutz geben, und die Winde werden einfach immer, immer stärker. In einer Gegend, wo die Tage jetzt zwar dreimal so lang sind wie die Nächte, wird das Verfehlen von Treibeis trotzdem einem täglich sechsstündigen Zufall in der Dunkelheit überlassen.

Dort, unter dem ohrenbetäubenden Sausen des Sturms und auf dem Rücken von meterhohen Wellen, feiern sie ganz einsam ihr Weihnachten. Die Skipper, Meilen von einander entfernt, im Niemandsland der Antarktis. In diesen Tagen greifen sie die 24-Stunden-Geschwindigkeitsrekorde an. Über 500 Seemeilen, das sind knapp 1.000 Kilometer pro Tag.

Mit 60 km/h surfen sie die Wellenberge nach Lee durch die dunkle Nacht, durch die eisigen Tage, in einem nicht abreißenden Wassertunnel – Stunden, Tage, Wochen, Monate. Es ist eine der ungewöhnlichsten Belastungen für Menschen. 50 Minuten arbeiten, zehn Minuten schlafen. Für drei Monate rufen sie alles ab, was geht.

Aber vielleicht packen sie heute, halbwegs trocken und warm unter Deck, doch ein Weihnachtsgeschenk aus, dass ihre Familien ihnen mitgegeben haben.

Zum Autor Robert Stanjek

Der Berliner schaffte 2000 den Sprung in die Nationalmannschaft und segelt durch eine Laufbahn mit vielen Höhepunkten: Deutscher Meister, Europameister, Weltmeister, World-Cup-Sieger, Deutschlands Segler des Jahres, 6. bei den Olympischen Spielen 2012 in London. Heute widmet er sich ganz dem professionellen Offshore-Segeln. In vielen Nationen ist es eine Selbstverständlichkeit, in Deutschland immer noch eine Ausnahmeerscheinung: Das Berufsbild Segelprofi.

Mehr News aus Lifestyle

ePaper