Psychologie 17.05.2017
Keiner ist erhaben: Sucht unter Zahnärzten
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Teil 1: „Suchterkrankung bei Zahnärzten“
Angesichts der Aufmerksamkeit, die die sogenannten „harten Drogen“, wie beispielsweise Crystal Meth, in den Medien bekommen, gerät schnell in den Hintergrund, dass Alkohol und Medikamente die Rangliste der Suchtmittel in Deutschland anführen. Der schleichende Prozess, der in die Abhängigkeit führt, macht es schwer, Suchtmuster frühzeitig zu greifen. Zudem ist das Thema immer noch ein Tabu. Unter den Medizinern zählen Zahnärzte zu den besonders suchtgefährdeten Berufsgruppen. Warum ist das so? Wie viel und was für Stress haben Zahnärzte im Besonderen? An welchen Kriterien ist Abhängigkeit zu erkennen? Gibt es Warnsignale oder einen typischen Verlauf? Oder ist Sucht „einfach“ ein reines Berufsrisiko? In unserer neuen Artikelreihe „Suchterkrankung bei Zahnärzten“ wird diesen Kernfragen nachgegangen, um eine gezielte Aufklärung und Enttabuisierung zu unterstützen. Im ersten Teil stehen dabei suchtfördernde Faktoren und die Suchtdiagnose im Mittelpunkt.
Schon Ende der 1980er-Jahre kamen Forscher zu dem Ergebnis, dass der Zahnarztberuf mehr Stress und stressbezogene Probleme mit sich bringe als die meisten anderen Berufe.1–3 Gerade Zahnärzte hätten ein zu 25 Prozent höheres Herzinfarktrisiko als der Durchschnitt der Bevölkerung.3 Außerdem seien erlebnisreaktive und psychoneurotische Störungen bei Zahnärzten 2,5 Mal häufiger als zum Beispiel bei Humanmedizinern.3 Vor diesem Hintergrund wird es kaum überraschen, dass der Anteil der abhängigen Zahnärzte und der Angehörigen anderer Heilberufe in der Bevölkerung deutlich höher liegt als der von nichtmedizinischen Suchtkranken. Geschätzt werden Anteile von 15 bis 20 Prozent in den Heilberufen gegenüber 10 Prozent in der Normalbevölkerung.4 Die Dunkelziffer ist hoch. Auch deshalb gibt es keine genauen Zahlen.5 Der Trend ist dennoch eindeutig.6 Auch die Therapeuten der Sucht- und Entzugseinrichtung My Way Betty Ford Klinik in Bad Brückenau bestätigen, dass sich ein signifikanter Anteil ihrer Klientel aus Zahnärzten und Ärzten zusammensetzt. Um über den Themenkomplex Abhängigkeit aufzuklären und die Problematik aus der Tabuzone herauszuholen, haben es sich die Suchtexperten der My Way Betty Ford Klinik aktuell zur Aufgabe gemacht, die Öffentlichkeit gezielt für diese Krankheit zu sensibilisieren.
Suchtauslöser
Zahlreiche Faktoren werden dabei thematisiert und für das besondere Berufsrisiko der Zahnärzte als verantwortlich erachtet:3, 7
• Die Angst vor dem Zahnarztbesuch, unter der trotz moderner Methoden immer noch viele Patienten leiden, setze den Zahnarzt unter Druck. In seinem Bestreben, bei den Patienten Schmerzen weitgehend zu vermeiden, erfahre er zusätzlichen Stress und Zeitdruck. 57 Prozent der befragten Zahnärzte gaben in einer Studie an, dass „schwierige Patienten“ den größten Stressor in der Praxis darstellten.3 Der Zahnarzt kann sich in der schuldgefühlsträchtigen Rolle des Aggressors erleben.
• Auch Zahnärzte verschrieben Tag für Tag Medikamente, um Patienten die Angst zu nehmen oder ihnen anderweitig zu helfen. Medikamente und Substanzen ständen ihnen nicht nur jederzeit zur Verfügung, sie würden auch täglich an deren Wirkmöglichkeiten erinnert. Somit linderten prädis-ponierte Zahnärzte ihre eigenen Leiden ebenfalls mit entsprechenden Substanzen. Identifikationsprozesse und Lernen am Modell können eine Rolle spielen.
• Die Selbstständigkeit mache den Zahnarzt abhängig von Patienten, die seine Leistungen nur ungern in Anspruch nehmen. Die Frustration des Zahnarztes gehe einher mit einer häufig wahrgenommenen Geringschätzung vonseiten der Patienten, welche wiederum Selbstwertproblematiken aktivieren können.
• Der Zahnarztberuf sei in mehrfacher Hinsicht einzigartig unter den Helferberufen, da er oftmals täglich feinste, akribische Chirurgie verlange, ohne Pause oder Abwechslung. Das Streben nach Meisterschaft ist verbunden mit großem Funktionsdruck. Die Arbeit sei körperlich und geistig anstrengend und finde darüber hinaus in einem räumlich eingeschränkten Arbeitsumfeld statt. Andere chirurgische Berufe hätten im Gegensatz dazu am Arbeitsplatz mehr Bewegungsfreiraum (zum Beispiel im Krankenhaus).
• Die Infektionsrisiken, zum Beispiel mit Hepatitis oder AIDS, sind enorm. Hinzu kommen gesundheitliche Risiken durch Körperhaltungsbeschwerden, Verstrahlung durch das Röntgen, Quecksilbervergiftungen und Formaldehyddämpfe sowie eine erhöhte Anfälligkeit für Allergien.
• Während Humanmediziner meist in eine Gemeinschaftspraxis oder in ein Krankenhaus eingebettet seien, arbeiteten Zahnärzte meist in Solopraxen und würden von den niedergelassenen Kollegen sogar als Bedrohung und Konkurrenz betrachtet werden. Solidarisches Handeln und die Entwicklung von Gemeinschaftsgefühl sind so nur erschwert möglich. Die überwiegende Isolation der Zahnärzte sowie das hohe finanzielle Risiko in der Selbstständigkeit könnten das Risiko der Substanzabhängigkeit bei Zahnärzten durchaus erhöhen.
• Zudem leiden viele Zahnärzte unter dem vermeintlich geringen Ansehen ihrer Berufsgruppe, ob wegen der ihrem Empfinden nach weitverbreiteten Meinung, sie sähen nur ihren finanziellen Vorteil, oder weil sie sich dadurch minderwertig fühlen, dass ihr Beruf nicht dieselbe gesellschaftliche Anerkennung genieße wie der humanmedizinische Beruf.
Einige der genannten Faktoren treffen auf Ärzte und Zahnärzte gleichermaßen zu, einige sind überwiegend und typischerweise bei der dentalen Dispositionsgruppe zu finden. Ob Arzt oder Zahnarzt – sie alle tabuisieren den eigenen Alkohol- oder Medikamentenkonsum. Nicht zuletzt, weil die Berufsausübung und damit die Existenzgrundlage durch die Sucht akut gefährdet ist. Auch deshalb gilt es, dem Suchtverhalten frühzeitig entgegenzuwirken. Das gelingt jedoch nur, wenn die Betroffenen und ihr Umfeld genau hinschauen.
Anzeichen der Abhängigkeit
Wer hat vielleicht schon selbst daran gedacht, weniger zu trinken? Wer hat sich schon einmal über Kritik am eigenen Trinkverhalten geärgert oder sich dafür schuldig gefühlt? Wer trinkt morgens zuerst Alkohol, um sich nervlich zu stabilisieren oder den Start in den Tag zu erleichtern? Diese Anzeichen können – neben dem Wunsch, lieber allein als in Gesellschaft zu trinken, und weiteren Warnsignalen – auf eine Abhängigkeitsproblematik hinweisen. Die Unsicherheit bei Betroffenen und ihren Angehörigen ist ebenso groß wie die Angst vor einer gesellschaftlichen Ächtung und dem drohenden Ruhen der zahnärztlichen Approbation. Dass Abhängigkeit eine Krankheit ist und als solche adressiert und akzeptiert werden sollte, ist den wenigsten bewusst.
Suchtkreislauf
Obwohl sich der individuelle Verlauf der Erkrankung sehr unterscheidet, gibt es ein häufig auftretendes Muster. Anfänglich wird in der Regel konsumiert, um Probleme zu bewältigen und bestimmte Situationen erträglicher zu machen. Die Grundannahme ist dabei, dass die Auslösesituation, wie zum Beispiel Traurigkeit, Einsamkeit, Angst oder Überforderung, mit der Einnahme besser zu ertragen ist. Begleitet wird diese Annahme von einer sehr bald automatisierten Abfolge von Gedanken („Ich bestelle mir ein Bier“), der sich anschließenden Handlung (Einnahme der Substanz) und einer daraus resultierenden erneuten Auslösesituation (zum Beispiel das Gefühl von Scham, Schuld oder Verzweiflung), womit sich der Kreis schließt.
Die erwähnte Grundannahme führt dazu, dass die Substanz sehr häufig als Selbstmedikation bei Depressionen, Ängsten, Panikattacken oder in als schwierig empfundenen sozialen Situationen eingesetzt wird. Dieses Verhalten lässt ebenfalls ein Muster entstehen, da die beschriebenen Gefühlszustände oder Situationen vermeintlich nur mithilfe der Substanz überstanden werden können. Der typische Teufelskreis tritt in der Regel erst im fortgeschrittenen Verlauf auf, wenn körperliche Entzugssymptome auftreten, die sich nur durch eine erneute Aufnahme der Substanz mildern beziehungsweise beseitigen lassen.
Schleichende Anfänge
Der Konsum steigt meist schleichend an, gleichzeitig werden die abstinenten Tage immer weniger. Da sich dies über einen Zeitraum von mehreren Jahren erstrecken kann, wird in den meisten Fällen erst nach längerer Substanzeinnahme deutlich, dass ein Missbrauch, ein schädlicher Gebrauch oder eine Abhängigkeit vorliegt. Versuche, den Konsum zu verringern bzw. ganz einzustellen, bleiben langfristig ohne Erfolg beziehungsweise scheitern ganz, was zu weiteren Schuld- und Schamgefühlen, depressiver Verstimmung, Verzweiflung, aber auch Resignation führen kann. Durch das Auftreten von Entzugssymptomen wird dann der oben beschriebene Kreislauf in Bewegung gesetzt.
Um die Diagnose einer Abhängigkeit zu stellen, müssen laut WHO mindestens drei von sechs definierten Kriterien über einen Zeitraum von mindestens einem Monat beziehungsweise wiederholt innerhalb von zwölf Monaten zutreffen. Dazu zählen ein starkes Verlangen oder ein Zwang, die Substanz zu konsumieren, eine verminderte Fähigkeit, den Konsum zu kontrollieren, körperliche Entzugssymptome beim Absetzen der Substanz, eine Toleranzentwicklung (um die glei-che Wirkung zu erhalten, müssen größere Mengen eingenommen werden), Vernachlässigung anderer Interessen sowie ein anhaltender Substanzkonsum trotz eindeutig schädlicher Folgen.
Scham- und Schuldempfinden
Das Thema „Sucht“ bzw. Abhängigkeit ruft nach wie vor Scham- und Schuldgefühle hervor und wird nur schwer als Krankheit akzeptiert. Eine Suchtberatung aufzusuchen oder das Thema beim Hausarzt oder bei Freunden und Angehörigen anzusprechen, fällt sehr schwer. Zu groß ist die Angst vor Zurückweisung, Schuldzuweisungen und Enttäuschung. Der Begriff Sucht ist in unserer Gesellschaft negativ besetzt und wird oft mit Personen am Rande der Gesellschaft gleichgesetzt. Dass es jedoch auch und gerade bei beruf-lich erfolgreichen und finanziell unabhängigen Menschen zu schädlichem Gebrauch oder Abhängigkeit von Substanzen kommen kann, wird häufig nicht gesehen. Gerade im beruflichen Bereich herrscht zudem große Sorge, die Erkrankung könnte bekannt werden und Nachteile oder Einbußen bis hin zum Verlust der Existenzgrundlage durch Approbationsverlust nach sich ziehen.
Die hohe Stressbelastung, der Zahnärzte täglich ausgesetzt sind, fördert das Suchtverhalten. Darüber hinaus sind Menschen, denen adäquate Strategien zum Umgang mit und dem Aushalten von negativen Gefühlen fehlen, prinzipiell besonders anfällig für eine Abhängigkeitserkrankung. Eine große Sorge der Betroffenen ist häufig, die Krankheit selbst verschuldet zu haben. Meist sind sie überzeugt, einfach aufhören zu können, aktuell jedoch einfach nicht zu wollen.
Heilung heißt: Sucht verstehen
Welche Macht ein Suchtmittel besitzt und welche tief sitzenden Mechanismen dahinter liegen, ist häufig erst im Verlauf einer Therapie erkennbar. Die Therapeuten der Betty Ford Klinik erleben bei ihren Patienten – beruflich sehr erfolgreichen Menschen aller Berufsgruppen, die meist schnelle Entscheidungen treffen müssen, eine schnelle Auffassungsgabe benötigen und kognitiv stark beansprucht werden – im-mer wieder, dass der Zugang zu den eigenen Gefühlen und dem bewussten Erleben von Situationen eingeschränkt ist. Überlegungen wie „Warum trinke ich? Ich habe doch alles … Eigentlich geht es mir doch gut“ und der Wunsch nach „Rüstzeug“ für eine Abstinenz dominieren häufig die ersten Gespräche. Da es ein solches pauschales Rüst-zeug nicht gibt, gilt es, die persönlichen Zusammenhänge zwischen der häuslichen/sozialen beziehungsweise beruflichen Situation und dem Trinkverhalten zu verstehen und den Umgang damit zu lernen. Aus diesem Grund wird die Eigenmotivation der Patienten in der Betty Ford Klinik stark gefördert. Die hoch frequente Suchttherapie der Klinik umfasst fünf Einzelgespräche und fünf Gruppensitzungen pro Woche. Dazu bietet die Klinik umfassende Suchtinformation und ein breites Begleitprogramm.
Eine ausführliche Literaturliste finden sie hier.
Der Artikel ist in der ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis 5/2017 erschienen.