Psychologie 17.01.2013

Psychische Klassifikationssysteme



Psychische Klassifikationssysteme

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An dieser Stelle können unsere Leser der langjährigen ZWP-Autorin Dr. Lea Höfel Fragen im Bereich Psychologie stellen – in Bezug auf Patienten, das Team und sich selbst. Die Fragen und Antworten finden Sie hier redaktionell aufbereitet wieder. In dieser Ausgabe der ZWP geht es um die Grenze zwischen psychisch gesund und psychisch krank. Psychologin Dr. Lea Höfel antwortet.

Anfrage: Ich werde in der ei-nen oder anderen Form immer wieder darauf angesprochen, wo ich die Grenze zwischen psychisch gesund und psychisch krank ziehe. Dabei kann es sich um die Thematik Zahnbehandlungsangst versus Zahnbehandlungsphobie handeln, um eingebildet versus narzisstisch oder misstrauisch versus paranoid. Dies wird häufig mit der Frage verknüpft, bei welcher psychisch auffälligen „Ausprägung“ man wie handeln sollte. Nicht selten wird auch erwähnt, dass man psychisch kranke Menschen ernster nehmen sollte.

All diese Fragen sind aus meiner Sicht ähnlich zu beantworten, wobei die Antwort meine persönlichen Erfahrungen widerspiegelt und nicht unbedingt in allen Punkten mit der klassischpsychologischen Lehrmethode übereinstimmt. Ob und wie ich eine Grenze zwischen psychisch gesund und psychisch krank ziehe, hängt ganz von den Umständen ab, in denen diese Grenze gezogen werden muss. Einfach zu beantworten ist die Frage im psychiatrisch-klinischen Setting, wenn nach Testergebnissen und Vorlagen des Klassifizierungssystems ICD-10 eine psychische Störung diagnostiziert werden sollte (falls vorhanden). Dies unterstützt möglicherweise die weitere Planung des Behandlungsverlaufs oder hat abrechnungstechnische Hintergründe. In diesem bürokratischen Konstrukt ist eine diagnostische Grenze erwünscht und wird deshalb auch von mir auf dem Papier gezogen. Was heißt das jedoch für den Umgang mit den Patienten im klinischen Setting? Oder für die Klienten, die außerhalb des Klinikums unabhängig von Bürokratie und Krankenkassen Hilfe anfordern? Hier ist meine persönliche Grenze gefragt, welche sehr viel flexibler ist. In meiner Welt gibt es keine psychischen Schubladen, in welche ich Menschen schieben möchte. Ich definiere Menschen lieber nach dem Ziel, das sie erreichen wollen. Ob jemand misstrauisch oder paranoid ist, ist mir dahingehend egal, als dass ich herausfinden sollte, wo der Mensch hin will. Vielleicht möchte diese Person endlich wieder anderen Menschen vertrauen können. Der Weg ist für den paranoiden Klienten vielleicht etwas weiter als für den misstrauischen, der Weg ist jedoch an sich derselbe. Ob jemand traurig ist oder depressiv, sagt etwas über den Startpunkt aus – das Ziel könnte bei beiden „glücklich“ sein. Ginge es nach meinen Vorstellungen, gäbe es kein Klassifikationssystem psychischer Störungen, sondern ein Klassifikationssystem von psychischen Zielen. Ich habe noch keinen Patienten getroffen, den die Diagnose „Depression“ glücklich gemacht hätte. Im Gegensatz dazu habe ich durchaus schon depressive Menschen kennenlernen dürfen, die zum ersten Mal seit Langem lächelten, als sie über Ziele nachdachten.

Grenzen in der Zahnarztpraxis

Um ein Beispiel aus Ihrem Arbeitsalltag zu nehmen: Es ist für meine Arbeit mit Patienten, die Angst vor der Zahnbehandlung haben, wirklich irrelevant, ob sie ängstlich, furchtsam oder phobisch sind. Alle hätten sie gern eine entspannte Behandlung. Dem einen kommt das möglicherweise unerreichbar vor, der andere hat traumatische Erfahrungen gemacht und der nächste hat bei genauerem Hinsehen eher wenig Angst. Vor die Wahl gestellt, ob sie eine „entspannte Behandlung“ oder „grauenvolle Behandlung“ möchten, wählen alle Ersteres. Das zählt für den weiteren Behandlungsverlauf. Erfahrungsgemäß macht es hier auch nicht viel Sinn, der einen Person eine Phobie und der nächsten eine Ängstlichkeit zu attestieren. Die phobische Person fühlt sich dadurch meist noch ein Stück weiter bestärkt in der Annahme, dass sie die Zahnbehandlung nicht erfolgreich überstehen wird. Sie ist ja phobisch! Nun kommen wir zur Frage, ob ich die phobische Person ernster nehmen sollte als die ängstliche. Aus meiner Sicht ein klares Nein. Ich nehme jede Person ernst, die ängstliche, die phobische und die glückliche. Wie schon oben erwähnt, kann der Weg zur entspannten Behandlung unterschiedlich lang sein und unterschiedlich verlaufen. Manchmal jedoch auch nicht. Eine phobische Person, die ganz normal behandelt wird,
fühlt sich möglicherweise wohler als wenn auf jedes Zucken geachtet wird. Und vielleicht ist es im Gegenzug der glücklichen Person recht, ganz zart behandelt zu werden. Jeder Patient ist einzigartig und sollte nicht in eine psychologische Krankheitsschublade geschoben werden. Die wichtigste Frage ist immer: Was möchte die Person und wie will sie sein? Es gibt genügend Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater, die der Frage der psychischen Störungen und deren Ursachen erfolgreich nachgehen. Darüber hinaus finde ich, dass es an der Zeit ist, ein Klassifikationssystem psychischer Ziele zu definieren. Und möglicherweise wäre es am besten, Schubladen der Klassifikation endgültig zu schließen und einfach offen auf jeden Patienten, Klienten und vor allem Menschen einzugehen. Wodurch sich alle eingangs gestellten Fragen sofort auflösen würden.

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