Psychologie 26.06.2015
Schmerzwahrnehmung bei Kindern
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An dieser Stelle können Leser der Psychologin und langjährigen ZWP-Expertin Dr. Lea Höfel Fragen im Bereich Psychologie stellen – in Bezug auf Patienten, das Team und sich selbst. Diesmal wird auf die Schmerzwahrnehmung bei Kindern eingegangen.
Anfrage: Wir behandeln überwiegend Kinder und Jugendliche in unserer Praxis. Die Kinder (und deren Eltern) sind mit ihren Ängsten häufig eine Herausforderung, doch dafür haben wir recht gute Strategien im Umgang gefunden. Was uns gelegentlich Probleme macht, ist die Schmerzempfindlichkeit der Kinder, die besonders bei ängstlichen Kindern in keinerlei Relation zu der Zahnbehandlung oder den Zahnschäden steht. Gibt es Möglichkeiten, die Schmerzempfindlichkeit auf psychologischem Weg zu reduzieren?
Wie Sie schon selbst erwähnt haben, variiert die Schmerzwahrnehmung individuell von Kind zu Kind. Die Stärke des ursprünglichen Schmerzreizes – sprich die Zahnschäden oder die Behandlungsintensität – hat häufig nichts mit dem persönlichen Empfinden zu tun. Während man früher noch von einem linearen Verhältnis von Reiz zu Empfindung ausgegangen ist, ist heute bekannt, dass auf dem Weg des Reizes zum Gehirn mehrere Einflussfaktoren einwirken, die die Schmerzstärke exponentiell maximieren können.
Schmerzverarbeitung
Gehen wir einmal davon aus, dass ein Schmerzreiz in Form eines Zahnschadens auftritt. Der Schmerz wird in Richtung Rückenmark weitergeleitet, wo er auf ein weiteres Neuron aufgeschaltet wird. Von da aus geht es in Richtung Gehirn, wo der Thalamus als eine Art Filter sitzt. Sehen wir die Schaltstelle als Tor, stellt der Thalamus den Torwächter dar. Je nach Dringlichkeit des Schmerzreizes kann er in Zusammenarbeit mit dem Tor entscheiden, was ins Gehirn geleitet wird. Erst, wenn es dort ankommt, nehmen wir die Schmerzen bewusst wahr. Wie wichtig der Schmerzreiz ist, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. In Ihren jungen Patienten könnten folgende unbewusste Gedanken und Bewertungen ablaufen: Ist der Schmerz lebensbedrohlich? Macht er mir Angst? Ist er möglicherweise nützlich und hilft mir dabei, die nächste Prüfung ausfallen zu lassen? Könnte er bewirken, meine Mama an meine Seite zu ziehen und ihre Aufmerksamkeit zu erlangen? Wird eine dieser Fragen mit Ja beantwortet, öffnet sich das Schmerztor, der Filter lässt alles hindurch und der Schmerz kann sich im Gehirn ausbreiten. Werden die Fragen mit Nein beantwortet, schließt sich das Tor, der Filter hält andere Dinge für wichtig und der Schmerz gelangt kaum bis gar nicht ins Bewusstsein.
Schmerz bei Zahnarztpatienten
Beim Zahnarzt ist der junge und alte Patient üblicherweise leicht angespannt. Wie Sie schon erläutert haben, ist besonders bei ängstlichen Patienten zu beobachten, dass sie stärker Schmerzen empfinden. Ein Mensch, der sich ängstigt, ist empfänglicher für Warnsignale im Körper. Schmerz stellt solch ein Warnsignal dar. Das Schmerztor ist durch die Angst weit geöffnet und lässt bedrohliche Reize ungehindert ins Gehirn ziehen. Dadurch ist wahrscheinlich, dass Ihre jungen Patienten wirklich verstärkt Schmerzen spüren. Zusätzlich kann natürlich jeder geplante Trick helfen, aus der beängstigenden Situation herauszukommen. Manch ein Patient weint vielleicht, der nächste weigert sich, den Mund zu öffnen, der dritte zuckt weg, bevor es los geht. Und manch einer verweigert sich schon im Voraus und gibt Schmerzen als Grund an. Es ist jedoch unbefriedigend und wenig zielorientiert, hinter jedem Schmerz eine ausgeklügelte Taktik zu sehen, weshalb es einfacher ist, den Schmerz zu glauben.
Vorgehen
Die von Ihnen schon gut angewandten Methoden zur Reduktion der Angst helfen somit auch bei einer Reduktion des Schmerzempfindens. Besonders hilfreich haben sich bei Schmerzen Ablenkungstechniken herausgestellt, da sie gleich zu Beginn verhindern, dass sich das Schmerztor zu weit öffnet. Unterstützen Sie Ihre jungen Patienten – und möglicherweise die ängstlichen Eltern – dabei, gedanklich Stadt–Land–Fluss zu spielen, ein Bild zu zeichnen, einen Liedtext im Kopf aufzusagen oder Mathematikaufgaben zu lösen. Lassen sie die linke Hand und den rechten Fuß in entgegengesetzte Richtungen drehen und suchen sie den weißen Hund in Wimmelbildern. Sollten die Eltern sich in die Gespräche einmischen, weisen Sie sie freundlich aber bestimmt darauf hin, dass es das Kind eher verwirrt, wenn mehrere Personen reden. Möglicherweise hilft es Ihnen schon im Umgang, zu wissen, dass das Schmerzempfinden wirklich erhöht und in den seltensten Fällen gespielt ist. Mit einem ausgeklügelten Ablenkungssystem unterstützen Sie Ihre Patienten, das Schmerztor zu schließen und den Filter mit schmerzunabhängigen Themen zu beschäftigen. Was gegen Angst hilft, ist üblicherweise auch gut gegen Schmerz.