Recht 30.06.2017

Lingualtechnik endlich als medizinisch notwendig anerkannt



Lingualtechnik endlich als medizinisch notwendig anerkannt

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Die Ursprünge der Lingualtechnik gehen bis in die Mitte der 1970er-Jahre zurück. Ließ die Euphorie der zunächst hauptsächlich in den USA angewandten innovativen Behandlungsmethode Ende der 1980er-Jahre zunächst nach, flammte sie Mitte der 1990er-Jahre umso mehr auf und hält bis heute an. Längst hat sich die Lingualtechnik auch in Deutschland zu einem festen Bestandteil des kieferorthopädischen Behandlungsspektrums entwickelt.

Lingualtechnik in der Rechtsprechung bisher nicht erstattungsfähig

Die Rechtsprechung zur Erstattungsfähigkeit der Lingualtechnik war bisherig spärlich. Die wenigen bekannten gerichtlichen Entscheidungen kamen nicht zur Bejahung der medizinischen Notwendigkeit bei Anwendung dieser Behandlungsmethode. Es war somit an der Zeit, das Rad der Geschichte endlich weiterzudrehen und für Lingualbehandler und Patienten positive Erstattungsentscheidungen gegenüber der privaten Krankenversicherung zu erwirken. Denn eine positive Entscheidung, wie sie nun durch ein Musterverfahren von der Kanzlei des Autors erwirkt worden ist, hat gravierende Auswirkungen. Zunächst war es die Aufgabe, sich mit den älteren Gerichtsentscheidungen auseinanderzusetzen.

In einer Entscheidung des AG Hamburg vom 30.01.2014 (Az. 8 b C 60/12) war die Erstattung für Material- und Laborkosten abgelehnt worden, da vor den Bracketpositionen Material- und Laborkosten extra berechnet worden sind und dies nach der alten Gebührenordnung der Zahnärzte (GOZ ’88) unzutreffend berechnet worden war. Auch das Verwaltungsgericht Münster (17.02.2016, Az. 5 b K 1880/15) sah in einer beihilferechtlichen Entscheidung den Einsatz der Lingualtechnik zur Heilung als nicht beihilfefähig an.

Wenn hingegen der Blick auf die Rechtsprechung der Schienenbehandlung gelenkt wird, begegnen dem Interessierten seit Jahren eine Vielzahl positiver Gerichtsentscheidungen. So ist u. a. in einer Entscheidung des Landgerichts Koblenz (16.05.2006, Az. 14 S 388/03) eine private Krankenversicherung zur Leistungszusage eines kieferorthopädischen Schienensystems verklagt worden. Dabei ist hinzuzufügen, dass die Schienensysteme zu diesem Zeitpunkt sogar relativ neu am Markt waren und nicht über eine rund dreißigjährige Geschichte wie die Lingualtechnik verfügten.

Musterentscheidung aus Mülheim

Die Erstattungsfähigkeit der Lingualtechnik ist nun in einer aktuellen Entscheidung des Amtsgerichts Mülheim vom 11.01.2017 (Az. 13 C 167/16) für die klagende Patientin bejaht worden. Verklagt wurde eine große bekannte private Krankenversicherung aus Nordrhein. Dem Fall lag folgende Anamnese zugrunde: Die Klägerin hatte einen transversal schmalen Kiefer (Richtung senkrecht zur Mediansagittalebene) mit 14 permanenten Zähnen. Bei den Schneidekanten waren deutliche Schmelzdefekte erkennbar. Ferner stellte der behandelnde Kieferorthopäde starke Abrasionen fest.

Der gerichtliche Gutachter wurde mit den folgenden, zusammengefassten Beweisfragen unter Prüfung der medizinischen Notwendigkeit konfrontiert:

  • Ist die Anwendung der Lingualtechnik medizinisch notwendig?
  • Sind die erhöhten Faktoren 6100, 6150 und 6050 GOZ gerechtfertigt?
  • Sind die Material- und Laborkosten gerechtfertigt?

Medizinische Notwendigkeit vorhanden?

Die erste Frage bezieht sich rechtlich auf die medizinische Notwendigkeit. Bei der Bestimmung und Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs wird insbesondere auf die Grundsatzentscheidung vom Bundesgerichtshof vom 29.11.1987 (Az. IV ZR 175/77) Bezug genommen. Eine „medizinisch notwendige“ Heilbehandlung liegt jedenfalls dann vor, wenn es nach den objektiven medizinischen Befunden und Erkenntnissen im Zeitpunkt der Vornahme der ärztlichen Behandlung vertretbar war, sie als notwendig anzusehen (Senatsurteile vom 10. Juli 1996 aaO, vom 29. November 1978 – IV ZR 175/77, 12 VersR 1979, 221 unter III; vom 29. Mai 1991 – IV ZR 151/90, VersR 1991, 987 unter 2a und ständig).

Einschätzung durch den gerichtlichen Sachverständigen

Der gerichtliche Gutachter begründete die medizinische Notwendigkeit damit, dass bei der Klägerin durch die Lingualtechnik eine bessere Kontrolle der sagittalen Bewegung der Zahnachsen möglich wäre. Zur Auflösung von Engständen wäre der linguale Kraftansatz eindeutig von Vorteil, da mit der geringen Kippneigung bei lingual geklebten Schneidezahnbrackets eine relativ gleichmäßige und damit potenziell physiologische Kraftverteilung im Paradontium einhergehe. Eine weitere Kippung der Schneidezähne und somit möglicher Knochenverlust oder mögliche Wurzelresorption könnten folglich vermieden werden. Mit der Lingualtechnik können Zähne mit einer exzellenten Präzision eingestellt werden. Das Risiko der Dekalzifikation wird reduziert und im Übrigen wäre die Technik zum Wohl des Patienten nahezu unsichtbar. Dabei wäre die Lingualtechnik nicht auf ästhetische Aspekte zu beschränken, da folgende Vorteile bei der wissenschaftlich anerkannten Technik festzustellen sind, u. a. Vermeidung von sichtbaren Demineralisationen (White Spots) und parodontaler Rezessionen. Die verklagte private Krankenversicherung sah diese Einschätzung außergerichtlich und gerichtlich anders, da auch mit einer bukkal angebrachten Apparatur das Behandlungsziel erreicht werden könne.

Endlich gerichtliche Bejahung der medizinischen Notwendigkeit

Das Gericht folgte dem gerichtlichen Gutachten und bejahte die medizinische Notwendigkeit im Rahmen der Feststellungsklage. Ebenfalls sind die anderen Beweisfragen zugunsten der Klägerin entschieden worden. Im Ergebnis ist endlich und in einer einmaligen Deutlichkeit zugunsten der Lingualbehandler, Lingualhersteller und Patienten eine Entscheidung getroffen worden, die für die Patienten die berechtigte Hoffnung auf Kostenübernahme ihrer jeweiligen privaten Krankenversicherung begründet. Es gilt nun, die Rechtsprechung auch auf höherinstanzliche Gerichte auszuweiten und sich dafür einzusetzen, dass das restriktive Erstattungsverhalten der privaten Krankenversicherung ein Ende nimmt.

Dieser Beitrag ist erstmals in den KN Kieferorthopädie Nachrichten 6/17 erschienen.

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