Recht 28.04.2023
Zehn Implantate OK und acht Implantate UK
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Medizinische Notwendigkeit und Abrechnungsfragen im Streit
Im Jahre 2009 hatte das Landgericht Köln in einem Gerichtsstreit zwischen einer Patientin und ihrer privaten Krankenversicherung bezüglich der Frage der medizinischen Notwendigkeit einer umfangreichen implantologischen Versorgung und gebührenrechtlichen Kürzungen zu entscheiden.
Der Sachverhalt
Die später klagende Patientin hatte Heil- und Kostenpläne der behandelnden Zahnärzte – die die Einbringung von acht Implantaten im Oberkiefer und sechs Implantaten im Unterkiefer vorsahen – bei ihrer PKV mit der Bitte um Kostenzusage eingereicht. Die PKV erteilte lediglich eine eingeschränkte Leistungszusage auf der Grundlage der von ihr ermittelten kostengünstigeren Alternativversorgung mit sechs Implantaten im Oberkiefer (Regio: 15, 13, 11, 21, 23 und 25) mittels Wurzelkappen sowie einer darauf befestigten steggetragenen Prothese und zwei Implantaten im Unterkiefer (Regio: 34, 44) sowie Wurzelkappen auf Regio 34, 31, 41 und 44, ebenfalls mit einer steggetragenen Prothese. Die Klägerin ließ die angedachte Behandlung durchführen. Dabei wurden jedoch statt der beabsichtigten Implantate nunmehr zehn Implantate im Oberkiefer und weitere acht Implantate im Unterkiefer gesetzt. Auf die Rechnungen erbrachte die beklagte PKV lediglich Teilleistungen. Daraufhin verklagte die Patientin die PKV auf Erstattung der Restbeträge und verwies auf die medizinische Notwendigkeit der Behandlung und die korrekte Abrechnung der Leistungen.
Die PKV bestritt die medizinische Notwendigkeit der vorgenommenen Behandlungen, soweit sie über die von ihr ermittelte und zugesagte Alternativversorgung hinausging und behauptete, dass allein die von ihr ermittelte Versorgung mit sechs Implantaten im Oberkiefer und zwei weiteren Implantaten im Unterkiefer und entsprechenden steggetragenen Prothesen medizinisch notwendig gewesen sei. Weiterhin bestritt sie die medizinische Notwendigkeit der Behandlung unter dem Gesichtspunkt der Sofortbelastung. Schließlich erhob sie hilfsweise hinsichtlich sämtlicher Rechnungen gebührenrechtliche Einwendungen.
Sachverständig beraten, gab das Landgericht Köln der Patientin in weiten Teilen Recht. Grundlage für die Entscheidung des Landgerichts Köln waren die Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen, der die medizinische Notwendigkeit der bei der Klägerin durchgeführten Behandlung bestätigte. Der Sachverständige erklärte, dass bei der Klägerin eine komplexe implantologisch-prothetische Versorgung des Ober- und Unterkiefers vorgenommen worden sei. Eine Besonderheit der Versorgung sei in dem Umstand zu sehen, dass die Patientin bereits über lange Jahre eine subtotale Prothese des Oberkiefers getragen habe und sie nach einer initialen Zahnsanierung zunächst im Ober- und Unterkiefer vollständig zahnlos gewesen sei. Erschwerend komme die hochgradige bis extreme Schrumpfung des Oberkieferkammknochens („extreme Alveolarkammatrophie“) hinzu. Daher haben vor einer Implantation aufbauende chirurgische Maßnahmen erfolgen müssen. Hierfür sei das im Unterkiefer vorzufindende Knochenangebot noch ausreichend gewesen, jedoch habe zunächst eine Entfernung sämtlicher Unterkieferzähne erfolgen müssen, da diese in der Prognose (= Verbleib in der Mundhöhle) erheblich eingeschränkt gewesen seien.
Die Entscheidung
Zu den einzelnen, bei der Klägerin vorgenommenen Maßnahmen führte das Landgericht Köln auf Basis der Feststellungen des Sachverständigen aus:
3D-Rekonstruktion und Computertomografieanalyse
Die Abrechnung der 3D-Rekonstruktion und Computertomografieanalyse in der Rechnung vom […] sei nicht zu beanstanden. Bei der Klägerin habe eine außerordentlich schwierige Ausgangssituation vorgelegen, sodass hier eine besonders sorgfältige Planung der Implantat-Lokalisation unter optimaler Ausnutzung des dreidimensionalen Knochenangebotes habe stattfinden müssen. Daher sei der Einsatz der dreidimensionalen interaktiven Computertomografieanalyse nicht zu beanstanden. Diese Analyse stelle einen eindeutigen Fortschritt gegenüber vorher gebräuchlichen Röntgenauswertungsverfahren dar.
Langzeitprovisorien und Sofortbelastung
Die der Versorgung mit Langzeitprovisorien zugrunde liegenden Behandlungen waren auch unter dem Gesichtspunkt medizinisch notwendig, soweit eine „Sofortbelastung“erfolgt sei. Die vorliegenden klinischen, röntgenologischen und fotografischen Befunde zeigen, dass sowohl das Knochenangebot im Oberkiefer, durch die vorangegangene Kieferkammerhöhung, für eine implantologische Versorgung mit Sofortbelastung ausreichend gewesen sei. Darüber hinaus würden die intraoperativen klinischen Fotos (CD-Rom) eine vermutlich günstige biomechanische Belastung der vier belasteten Implantate durch ein Provisorium zeigen. Zudem zeige der weitere klinische Verlauf bei der Patientin überdies, dass bei den strittigen Implantaten in Regio 14, 11, 21 und 24 keinerlei Knochenabbau zu beobachten sei. Die Eingliederung eines Provisoriums auf sofort belasteten Implantaten sei in diesem Falle auch deshalb vertretbar gewesen, um postoperativ die Ausformung der Schleimhautverhältnisse im Vestibulum und eine suffiziente Sprachfunktion herbeizuführen.
Steigerungsfaktoren
Die Ansetzung des vier- und 4,5-fachen Gebührensatzes bei den Ziffern 2254, 2732, 2442, 2677 und 2381 sei aufgrund besonderer Schwierigkeiten in diesem Fall gerechtfertigt gewesen, da es sich um eine besonders schwierige, anatomisch-klinische Situation gehandelt habe, die die Überschreitung des 3,5-fachen Gebührensatzes rechtfertige. Es müsse von der besonderen Situation der Oberkieferanatomie mit extremer Atrophie, nachgewiesen durch die entsprechenden Kiefermodelle und Röntgenbilder, ausgegangen werden.
Vestibulumplastik selbstständige Leistung
Bei der Ansetzung der GOÄ Ziffer 2677 (Vestibulumplastik je Kieferhälfte) handele es sich nicht um eine unselbstständige Leistung. Bei der Schrumpfung des Kieferknochens komme es zu einer Schrumpfung in vertikaler, transversaler und sagittaler Richtung, d. h. zu einer Schrumpfung in allen drei räumlichen Dimensionen. Gleichzeitig vollziehe sich mit der knöchernen Schrumpfung eine Schrumpfung des Weichteilangebotes, dieses sei aber wiederum außerordentlich wichtig, um später, also zum Abschluss der Operation, eine weichteilige Bedeckung der verpflanzten Knochentransplantate zu erzielen. Erfolge diese Weichteilbedeckung nicht, so liege der transplantierte Knochen an der Oberfläche frei, sterbe ab und müsse schließlich aus der Mundhöhle entfernt werden. Um diese Situation zu vermeiden, müsse eine ausgedehnte Weichteilmobilisation im Sinne einer sogenannten „Vestibulumplastik“ erfolgen. Gerade dieser operative Schritt entscheide über Erfolg und Misserfolg der gesamten operativen Maßnahmen. Insofern liege also kein einfacher Wundverschluss vor, der zur gesamten operativen Maßnahme im Sinne eines „Zielleistungsprinzips“ gehören würde. Auch hinsichtlich der Ziffer GOÄ 2381 handele es sich nicht um eine unselbstständige Teilleistung. Diesbezüglich gelten die gleichen Aspekte wie vorstehend zur Abrechnung der Ziffer GOÄ 2677 und sei auch durch das intraoperativ vorliegende Bildmaterial nachweisbar.
Nicht nur Alternativversorgung medizinisch notwendig
Die Beklagte habe jedoch nicht nachvollziehbar dargelegt, warum lediglich die Alternativversorgung medizinisch notwendig sein solle. Da diesbezügliche Einwände auch im Rahmen der Beweisaufnahme dem Sachverständigen unterbreitet wurden, setzte dieser sich auch mit der angeführten Alternativversorgung auseinander. So sei zwar auch eine kostengünstigere Maßnahme möglich gewesen, doch sei ein therapeutisches Behandlungskonzept – insbesondere die Versorgung von zehn festsitzenden Implantaten im Oberkiefer – gewählt worden, was eindeutig medizinisch vertretbar gewesen sei. Allein aus Kostenerwägungen könne die Beklagte die Klägerin jedoch nicht auf eine andere Maßnahme verweisen (vgl. BGH, NJW 2003, 1596).
Dieser Rechtsstreit demonstriert wieder einmal, dass es für die Entscheidungsfindung auf die Umstände des konkreten Einzelfalles ankommt.
Dieser Beitrag ist im OJ Oralchirurgie Journal erschienen.