Recht 15.02.2022
Die stillende Oralchirurgin und das Mutterschutzgesetz
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Muss einer angestellten Oralchirurgin, die stillende Mutter ist, die oralchirurgische und zahnärztliche Tätigkeit verboten werden? Über diese Frage stritt sich eine Oralchirurgin mit ihrer Arbeitgeberin.
Als die Schwangerschaft der angestellten Oralchirurgin bekannt wurde, sprach die Arbeitgeberin für die Zeit der Schwangerschaft nach den Vorschriften des MuSchG ein Beschäftigungsverbot aus, mit der Begründung, dass die Arbeitnehmerin bei ihrer Tätigkeit als Oralchirurgin stets der Gefahr ausgesetzt sei, sich an einem kontaminierten Instrument zu verletzen. Seit der Geburt des Kindes stillt die angestellte Oralchirurgin. Nach Ende des Mutterschutzes nahm sie Resturlaub. Danach wurde sie aufgefordert, ihre Tätigkeit wieder aufzunehmen.
Gefährdungen am Arbeitsplatz
Da die Oralchirurgin von einer unverantwortbaren Gefährdung bei Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit ausging, meinte sie, ihr gegenüber seien bis zum Ende der Stillzeit oralchirurgische und zahnärztliche Tätigkeiten durch ihre Arbeitgeberin zu untersagen. Hierauf richtete sie ihren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung. Sämtliche von ihr ausgeübten Tätigkeiten würden unverantwortbare Gefährdungen beinhalten. Tatsächlich habe sie sich insoweit in der Vergangenheit auch an Instrumenten im Rahmen der Arbeit verletzt. Zudem bestehe die Gefahr, dass sie anderweitig mit Blut oder Speichel des Patienten in Berührung komme, beispielsweise durch das Spritzen entsprechender Körperflüssigkeiten des Patienten ins Auge der Klägerin. Auch dies sei schon vorgekommen. Ebenso sei eine Übertragung von Krankheiten durch Aerosole möglich. Die derzeitige Situation der Coronapandemie sei dabei auch zu berücksichtigen.
In ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung führte die angestellte Oralchirurgin diverse konkrete Tätigkeiten auf:
- Tätigkeiten, bei denen die Klägerin mit Amalgam/Quecksilber in Berührung kommen kann, insbesondere die Vornahme von Füllungen mit diesen Materialien, die Entfernung solcher Materialien oder sonstige Behandlungen in einem Raum, in dem zuvor mit diesen Stoffen gearbeitet wurde und der vorher nicht mindestens zehn Minuten gründlich gelüftet wurde.
- Tätigkeiten, bei denen die Klägerin mit Biostoffen der Gruppen 1, 2 oder 3 derart in Berührung kommen kann, insbesondere mit Hepatitis-C-Viren, Hi-Viren und Coronaviren (SARS-CoV-2), dass eine Übertragung nicht ausgeschlossen ist, namentlich: …
Hier folgt im Antrag eine Vielzahl von implantologischen und oralchirurgischen Tätigkeiten, wie zum Beispiel Implantation, Freilegung, Sinuslift, Wurzelspitzenresektion, chirurgische Parodontaltherapien usw. bis hin zur „Besprechungen mit Patienten zur beabsichtigten Behandlung“. Im Zusammenhang mit der Coronapandemie stellte das Gericht nebenbei klar, dass nach dem Mutterschutzgesetz Schwangere und stillende Mütter auch vor einer Infektion mit dem Coronavirus zu schützen sind.
Gerichtliches Urteil
Im Ergebnis aber verneinte das Gericht nach summarischer Prüfung im Rahmen des einstweiligen Verfügungsverfahrens in fast allen Punkten die Verpflichtung der Arbeitgeberin, ein Beschäftigungsverbot für alle oralchirurgischen und zahnärztlichen Tätigkeiten der stillenden Oralchirurgin aussprechen zu müssen.
Dieser Beurteilung lag auch die Tatsache zugrunde, dass das zuständige Bezirkspräsidium sowohl die Räumlichkeiten der Praxis als auch die konkreten Tätigkeiten ins Auge genommen hatte.
Hierauf nahm das Arbeitsgericht Freiburg in seinen Entscheidungsgründen zu seinem Urteil vom 14.6.2021 (Az. 8 Ga 1/21) ausdrücklich Bezug: „Hinsichtlich der vorzunehmenden summarischen Prüfung im Rahmen des einstweiligen Verfügungsverfahrens ist für die erkennende Kammer nicht ersichtlich, dass hier eine unverantwortbare Gefährdung bei Fortführung ihrer Tätigkeiten als Oralchirurgin gegeben ist.“
Insoweit hat das Regierungspräsidium Freiburg am 26.3.2021 sowie am 1.6.2021 zum vorgenommenen Dienstbesuch vom 25.3.2021 unter Bezugnahme auf das Empfehlungspapier des Ad-hoc-Arbeitskreises Stillschutz erklärt, dass die Gefährdungsbeurteilung der Beklagten als vertretbar und nachvollziehbar anzusehen ist. Insoweit hat das Regierungspräsidium die Räumlichkeiten bei der Beklagten ebenso ins Auge genommen wie die konkret durchgeführten Tätigkeiten. Die vorgenommenen Bewertungen basieren insoweit auch auf einer breiten wissenschaftlichen Expertise, nämlich derjenigen des Ad-hoc-Arbeitskreises Stillschutz, vgl. zu alldem die Anl. VB 1 und VB 4. Diese wurde zudem vom LASI AG 5 der Länder einstimmig begrüßt, um insoweit ein bundesweit einheitliches Niveau beim Vollzug des Mutterschutzgesetzes für stillende Frauen schaffen zu können.
Bereits unter Zugrundelegung dieser Kriterien, welche im Rahmen der summarischen Prüfung für die Kammer nachvollziehbar und plausibel erscheinen, ist eine unverantwortbare Gefährdung der Klägerin trotz deren Argumentation nicht erkennbar. Wissenschaftliche Erkenntnisse aktuellen Standes, welche entgegenstünden, hat die Klägerin nicht dargetan. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang aufgrund der Dynamik der Entwicklung von Gefahren und entsprechender Schutzmaßnahmen nämlich stets der aktuelle Stand der Wissenschaft. Dieser ist im Rahmen der vorgenommenen summarischen Prüfung durch das Arbeitsgericht in der Mustergefährdungsbeurteilung, welche das Regierungspräsidium Freiburg im Schriftsatz vom 1.6.2021 angesprochen hat, in vollem Umfang enthalten.
Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass diese Mustergefährdungsbeurteilung für stillende Frauen in Zahnarztpraxen von den Regierungspräsidien in Baden-Württemberg und der Landeszahnärztekammer abgestimmt und ausgearbeitet wurde.Diese sind zum Ergebnis gekommen, dass lediglich das Legen von (frischen) Amalgamfüllungen nicht von einer stillenden Frau durchgeführt werden sollte. Ansonsten können hiernach fast alle zahnärztlichen Tätigkeiten auch in der Stillzeit ausgeführt werden.
Vor dem Hintergrund, dass in Baden-Württemberg das zuständige Ministerium am 9.3.2021 die Regierungspräsidien angewiesen hat, die Hinweise und Empfehlungen des Adhoc-Stillpapieres beim Vollzug des Mutterschutzgesetzes anzuwenden, und das Regierungspräsidium Freiburg auch entsprechend vorgegangen ist, ist für das Arbeitsgericht nicht erkennbar, weshalb der Klägerin oralchirurgische oder auch zahnärztliche Tätigkeiten grundsätzlich nicht möglich sein sollen.
Hierbei ist nämlich nach wie vor zu berücksichtigen, dass die Mustergefährdungsbeurteilung das derzeit aktuellste Papier zu diesem Thema ist, das dem Arbeitsgericht bekannt ist und welches vom höchsten fachlichen Gremium für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik unterhalb der Ebene der Arbeits- und Sozialministerkonferenz, nämlich vom LASI AG 5, einstimmig begrüßt worden ist.
Es ist zu berücksichtigen, dass die Empfehlungen des Ad-hoc-Arbeitskreises Stillschutz nicht nur von den Vertreterinnen der Länder erarbeitet worden sind, sondern auch in Zusammenarbeit mit dem Robert KochInstitut, dem Bundesinstitut für Risikobewertung, der Nationalen Stillkommission etc. Daher ist davon auszugehen, dass diese Empfehlungen dem aktuellen wissenschaftlichen und derzeit gegebenen Stand entsprechen und vorliegend Anwendung finden.Aufgrund all dessen und der insoweit gegebenen wissenschaftlichen Erkenntnisse, welche die Beklagte glaubhaft gemacht hat, ist es der Klägerin nicht gelungen, eine hiervon abweichende unverantwortbare Gefährdungssituation darzulegen und glaubhaft zu machen. Der Anspruch auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ist daher im Wesentlichen zurückgewiesen worden.
Fazit
Im Ergebnis hat das Gericht im Rahmen des einstweiligen Verfügungsverfahrens nur die Arbeit mit Amalgam als zu verbieten definiert, nicht aber oralchirurgische und zahnärztliche Tätigkeiten an sich.
Dieser Beitrag ist im Oralchirurgie Journal erschienen.