Parodontologie 07.04.2014

Parodontologie im Fokus: Hygiene, Funktion und Gesundheit

Parodontologie im Fokus: Hygiene, Funktion und Gesundheit

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Die Faktoren Entzündung, Belastung, Rauchen, Ernährung und Bewegung sind allen chronischen Erkrankungen in der Medizin und Zahnmedizin zugrunde liegende gemeinsame Merkmale. Dabei stehen Entzündung, Schmerz, Hygiene und Statik als Schwerpunktthemen im Fokus ärztlichen Interesses. Von Prof. Dr. Rainer Buchmann, Düsseldorf.

Die Parodontitis ist weltweit die am meisten verbreitete Erkrankung des Zahnhalteapparates. Von entscheidender Bedeutung ist, dass sie im Rahmen der Diagnostik frühzeitig festgestellt wird und gezielte Präventionsmaßnahmen getroffen werden. Zur Förderung einer verbesserten medizinischen Breitenversorgung ist eine fachübergreifende Beurteilung im Praxisalltag erforderlich. Der vorliegende Beitrag stellt die Bedeutung des Fachgebietes Parodontologie aus ärztlicher Sicht vor.

1. Relevanz

Die Effekte fehlender Hygiene und funktioneller Dekompensation auf das Immunsystem, das Fortschreiten bestehender Erkrankungen und die Aufrechterhaltung der Gesundheit werden häufig unterschätzt. Ähnlich wie durch multikausale Effekte ausgelöste chronische Rückenschmerzen verursachen Parodontalerkrankungen eine nachhaltige Veränderung der Lebensqualität,1,2 wiederholte Krankschreibungen bei operativer Therapie, immense Folgekosten in der Rekonstruktion und eine umfassende langzeitmedizinische Betreuung.3

2. Prävention

Die Bedeutung eines gesunden Mundes für die Gesundheit und den Erkrankungsschutz ist in der Ärzteschaft fest verankert. Die Eigenverantwortung des Patienten für Gesundheit erfährt durch Angebote aus den Medien, der Industrie, Dienstleistern im Gesundheitswesen und Krankenversicherungen eine zunehmende Fremdbestimmung. Die Verantwortung für Gesundheit und ihre Behandlung wird vertrauensvoll an den Arzt übertragen. Bislang wurden nur für schwere Parodontalerkrankungen erhöhte Serumtriglycerid- (> 100 mg/dl) und Cholesterinkonzentrationen (> 200 mg/dl) sowie eine erhöhte Toxinreaktivität gegenüber LPS-Antigenen zusammen mit einem hohen IgG-Titer gegenüber P. gingivalis nachgewiesen.4

Auch leichte Formen parodontaler Entzündungen (Übergangsparodontitis) und ihre durch Enzymdegradation5 entstandenen Reaktionsprodukte finden nach Passage durch den Gefäßplexus in der Gingiva6 und die Tonsillen7 über die Funktionseinheit Arterie–Vene–Nerv Ausbreitung in den Respirationstrakt mit Anlagerung an das Nachbarorgan Herz und damit Weiterleitung in den großen Körperkreislauf mit Anschluss an den Gastrointestinal- und Urogenitaltrakt.8 Die Degeneration von Schwachstellen wie chronisch belastetem, immungeschwächtem, medikamentengeschädigtem oder anfälligem Parenchym wird gefördert.

Labormedizinische Tests besitzen keine ausreichende Sensitivität und Spezifität zum Nachweis des Schadenpotenzials von Zerfallsprodukten aus chronischer Entzündung.9,10 Dies gilt auch für die aktuelle Studienlage, die aufgrund der Heterogenität der Daten (Rekruitment, Intervention, Randomisierung, Prospektivität etc.) keine konkreten praxisrelevanten Hinweise liefert.11–18 Hier ist die evidenzbasierte Beurteilung überfordert und muss durch ärztlichen Sachverstand mit ganzheitlichem Urteilsvermögen ergänzt werden.

3. Gefäßregulation

Die Bedeutung der Parodontalbehandlung als präventivmedizinischer Faktor liegt in der Stabilisierung der Körperschutzzonen, der Kontrolle organbedingter Entzündungen und der Verminderung vorschneller Gefäßalterung (Abb. 1). Vergleichbar zum Säureschutzmantel der Haut mit seinem basischen pH-Wert oder der regulatorischen Muzinschichten des Gastrointestinaltraktes entlasten orale Biofilme den Körper vor Übersäuerung durch Entzündung und sind wichtige Schutzzonen mit Ausscheidungs- und Entgiftungsfunktion zur Umwelt. Lang andauernde chronische Entzündungen als Folge eines strukturierten Erregerwachstums im Biofilm belasten den Körper, erhöhen die Gefäßpermeabilität (Abb. 2), beschleunigen bei Persistenz die Gefäßalterung und führen mit zunehmendem Lebensalter zu regionalen Durchblutungsstörungen mit Verhärtung und Einengung der Gefäßlumina in den Endstromgebieten der Extremitäten. Als Folgeerkrankungen treten Hypertonie, gestörter Fettstoffwechsel durch Überernährung und Bewegungsmangel mit resultierender Insulinresistenz auf. Bluthochdruck, Übergewicht, Hyperlipidämie und Insulinresistenz sind als metabolisches Syndrom der Risikofaktor Nr. 1 für koronare Herzerkrankungen weltweit.19,20

4. Körperhaltung

Die Einheit von Kiefergelenken und Halswirbelsäule steht in Wechselwirkung zu den Hüftgelenken. Kraniokaudale Dysfunktionen wie Fehlbisse, Seitenverschiebungen und Kieferfehlstellungen führen häufig zu Mundtrockenheit, Erkältungen, Bronchitiden oder Gleichgewichtsproblemen bis hin zu Verdauungsstörungen. Störungen im Bewegungsapparat (Fehlhaltungen, Asymmetrien, unterschiedliche Beinlängen etc.) resultieren bei mangelnder Dekompensation aufsteigend in erhöhter kraniomandibulärer Abnutzung und Degeneration. Davon ist nicht nur die Kiefergelenk- und Gebissentwicklung bei Kindern und Jugendlichen betroffen, sondern auch die Progression parodontaler Schäden im Erwachsenenalter (Abb. 3).

Zur Mitbeurteilung kraniokaudaler Haltungsstörungen empfiehlt sich daher eine einfache Gang-, Haltungs- und Funktionsanalyse des Bewegungsapparates. Bei Handlungsbedarf erfolgt fachübergreifend eine osteopathische, physiotherapeutische oder orthopädische Behandlung. Zusammen mit einer intraoralen Schienentherapie resultiert eine funktionelle Entlastung mit nachfolgender Selbstregulation.21, 22 Neben der Schmerzreduktion und Auflösung der körperlichen Fehlhaltung wird aufsteigend der funktionell geschwächte Kieferknochen entlastet.

5. Lebensalter

In der Behandlung älterer Menschen mit chronischen Erkrankungen – dazu zählen auch die Erkrankungen des Mundes – nimmt mit zunehmendem Lebensalter (50 plus) die Reservekapazität des Immunsystems ab, die Belastungsfähigkeit für komplexe Behandlungen sinkt. Müdigkeit, Erschöpfung, Kopf-, Muskel- und Gelenkbeschwerden oder Organdruckschmerz sind erste Symptome. Folgende Medizinbefunde mit resultierender Gesundheitsgefährdung werden diagnostisch sichtbar:

  • 1. Gefäßablagerungen mit Schädigung der Endothelzellschicht aufgrund von stetigem Kontakt mit Abbau- und Zerfallsprodukten aus Körperstaufeldern (Entzündung), Fettverbindungen (Ernährung und Bewegung) und Giftstoffen (Rauchen) (Abb. 4).
  • 2. Arteriosklerotisch verengtes Gefäßlumen als Folge der auf tiefere Bereiche der Arterienwand übergreifender Entzündungsreaktion (Abb. 5).
  • 3. Endoprothesen mit Implantatlockerung als Folge des Materialabriebs mit Fremdkörperreaktion (Entzündung), Ödem (lymphozytärem Stau) und Aufweitung des Interfaces (mechanische Belastung) (Abb. 6).

Die klinisch bereits im Alter von 30 bis 40 Jahren einsetzende Dekompensation einzelner Organabschnitte wird verdrängt und führt erst nach klinischer Auffälligkeit im Lebensalltag durch Einschränkung oder Ausfall zur ärztlichen Untersuchung. Ein Zeitversatz zwischen Erkrankungs- und Behandlungsbeginn von mehr als 5 Jahren (Angst) ist medizinische Regel. Diese Analogie gilt ebenso für Parodontalpatienten und verdeutlicht die medizinische Notwendigkeit der parodontalen Therapie bereits im mittleren Lebensalter.23, 24

6. Lebenserwartung

Die in höherem Lebensalter (65 plus) auftretenden Risikofaktoren wie geschwächte körperliche Reservekraft, Infektanfälligkeit (insbesondere gegenüber unbekannten Erregern), verzögerte Heilung mit zeitintensiver Pflege und erhöhtem Komplikationsrisiko bei endo- und implantatprothetischer Therapie (Dekompensation, Gefäßembolie) werden mit einer konsequenten

Lebenshygiene (Ernährung, Pflege, Schlaf ) weitgehend aufgefangen. Die persönliche Lebensführung beinhaltet eine ausgewogene Ernährung und Bewegung zur Balancierung der Energiebilanz von Kohlenhydraten und Fetten. Zum Aufbau und Stabilisierung der Körperschutzzonen (Biofilme) und weiteren Schutz vor Entzündungen wird eine bewusste Körperpflege immer wichtiger.25, 26

Im Zusammenhang mit einer kontrollierten Körperhygiene liegt der medizinische Nutzen einer optimierten Mundpflege einschließlich der Parodontalbehandlung in einer Verringerung der Gefäßpermeabilitat und dem daraus resultierenden erhöhten „Schadensschutz“. Dieser Kommunikationsfokus sollte im ärztlichen Tagesgeschäft kompetent und mit Vorbildfunktion realisiert werden.

7. Implantatmedizin

Endoprothetische und kardiale Implantate sind von Natur aus funktionell in den Körper integriert. Sie entwickeln sich zum Gefährdungspotenzial, sobald Implantatknochenschäden (Hüfte, Knie) durch Zementverluste oder Aufbiegung, Überlastung oder Infektion aus Streuregionen (Mund) ein Eindringen von Erregern in die Haversschen Kanäle ermöglichen. Das Risiko bei kardialen Implantaten (Schrittmacher) liegt in der Dislokation in Spalträume, der Inaktivierung (Klappen) durch Zerfallsprodukte, Fibrinnetze etc. oder in thromboembolischem Verschluss mit Nekrosen (Stent). Gelenkimplantate reagieren mit Entzündung, Schmerzbildung und nachfolgender Bewegungseinschränkung, orale Implantate mittels Mukositis mit resultierender Periimplantitis. Zur Optimierung des Körperschutzes vor Entzündungen im Zusammenhang mit Implantatersatz ist eine systematische Parodontaltherapie (Hygiene) vor jeder Implantatversorgung (Schrittmacher, Klappen, Hüft- und Knieendoprothesen) dringlichst zu empfehlen.27 Bei weit fortgeschrittener Parodontitis und nicht mehr hygienefähigen Zähnen sind Zahnentfernungen unumgänglich.

8. Handlungsempfehlungen

Aus den genannten Strukturbausteinen Alter (Immunabwehr), Prävention (Verantwortung), Gefäßschutz (Vaskularisation) und Ortho-pädie (Statik) sind zum Entzündungsschutz folgende medizinische Beobachtungen ratsam. Sie dienen vornehmlich der zielgerichteten Ausschlussdiagnostik von Schadensfaktoren für Parodontalerkrankungen und sollten bei jeder ärztlichen Untersuchung durchgeführt werden:

  • a. Mundgeruch: Olfaktorische Beurteilung (Geruch) und Trockenheit.
  • b. Rauchen: Gilt als Suchterkrankung und wird auch als solche mit dem Patienten besprochen.
  • c. Stoffwechselerkrankungen: Diabetes mellitus Typ I und II mit reduzierter Vaskularisation in den Endstromgebieten (Auge, Zahnhalteapparat, Extremitäten).
  • d. Großes Blutbild mit besonderer Beachtung der HbA1c-Werte, der Leukozytenzahl, der Leberwerte (Transaminasen GOT, GPT etc.), des Gesamtcholesterins sowie der HDL- und LDL-Fraktion und der Osteoporose-Marker (alkalische Phosphatase) (Abb. 7).28, 29
  • e. Funktions- und Haltungsschäden: Gang (schief), Haltung (Torsion, Flexion), und funktionelle Belastung (Asymmetrie, Gelenkkompression usw.).

Zur Therapie kardialer Erkrankungen (Herzinfarkt, Bypass, Herzrhythmusstörungen, Endokarditis), Immunerkrankungen (Rheuma, CED, HIV-Infektion, Schilddrüsenunterfunktion und Hashimoto, Tumorleiden, Organtransplantation) oder hirnorganischer Schäden (Transitorische ischämische Attacke [TIA] und Schlaganfall) sollte der parodontale Schadenszustand unmittelbar beurteilt und therapiert werden.

9. Zusammenfassung

Langfristige Behandlungserfolge in der Medizin setzen ein ganzheitliches Verständnis für die Erkrankungen des Menschen, ein hohes Maß an Urteilsfähigkeit für die notwendige Therapie und eine defensive Therapiewahl voraus. Die Wertschöpfung der Parodontalbehandlung liegt in der Kontrolle organbedingter Entzündungen, der Stabilisierung der Körperschutzzonen und der Verminderung vorschneller Gefäßalterung. Die Therapie der Parodontitis liefert einen Grundbeitrag zur Förderung der Allgemeingesundheit. Die systematische Parodontalbehandlung ist forensisch wichtig vor kardiologischer, kardiochirurgischer und endoprothetischer Implantation. Bei internistischer und orthopädischer Therapie ist eine therapiebegleitende Sanierung erforderlich.

Hier gibt's die vollständige Literaturliste.

Autor: Prof. Dr. Rainer Buchmann

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