Kieferorthopädie 20.06.2016

Frühbehandlung bei Klasse III mit GNE und Protraktion



Frühbehandlung bei Klasse III mit GNE und Protraktion

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Ein Behandlungskonzept mit Aufklärungsblatt und Durchführungs-Checkliste sowie das klinische Vorgehen werden von 
Dr. med. dent. Karin Habersack und MDDr. Lilian Bauer präsentiert.

Einleitung

Der Gedanke, bei Klasse III-Befunden im Mittelgesicht therapeutisch sowohl eine transversale als auch sagittale skelettale Wirkung auszuüben, beruht auf der Kombination von zwei bewährten kieferorthopädischen Behandlungsmethoden, der Gaumennahterweiterung (GNE) und der Protraktion der Maxilla. Die Methode der GNE ist hinreichend untersucht und in ihrer Wirkung beschrieben worden. Die Sutura palatina mediana entwickelt sich altersabhängig von einer im Kindesalter leicht zu öffnenden Sutur, die jedoch mit zunehmender Ossifikation und damit verbundener Rigidität im zweiten und dritten Lebensjahrzehnt immer schwerer ohne chirurgische Unterstützung distrahiert werden kann.3 Studien belegen, dass mit einer GNE nicht nur der Gaumen, sondern auch viele Suturen und Wachstumszonen des Mittelgesichtes beeinflusst werden.4–7

Bereits im Jahre 1860 wurde die GNE im Dental Cosmos in einem sehr lesenswerten Artikel von Emerson Colon Angell, Zahnarzt in New York, präsentiert.8, 9 Seiner Schlussfolgerung, die zwei Hälften der Maxilla separiert zu haben, wurde von den Koryphäen der damaligen Zeit jedoch heftig widersprochen. Nach einem Medizinstudium widmete sich Angell dann der Anwendung von Bädertherapien und erwies sich damit erneut als ein Vorreiter, diesmal der Präventivmedizin. Erst 1907 konnte die Methode der GNE mittels einer Röntgenaufnahme von Landsberger10 schlüssig belegt werden und ist nach jahrzehntelangen Perioden geringer Beachtung nun als unverzichtbar in der Kieferorthopädie angekommen.11 Die Methode der Protraktion der Maxilla wurde von Jean Delaire, Professor für MKG-Chirurgie in Nantes/Frankreich, im Jahre 1972 vorgestellt. Seit 1969 konnte er zunächst bei jungen Patienten mit LKG-Spalten durch Applikation starker orthopädischer Kräfte über eine Gesichtsmaske eine sagittale Mittelgesichtsvorverlagerung erreichen. Durch die Kinnabstützung resultiert eine nach vertikal/posterior gerichtete Kraftkomponente auf die Mandibula (Abb.1). Delaire legte großen Wert auf eine frühe Anwendung der Protraktion, um eine überwiegend skelettale statt einer dentoalveolären Wirkung zu erzielen.12, 13 Beide Methoden für die Klasse III-Behandlung zu kombinieren, schien naheliegend und fand, insbesondere in der Frühbehandlung, als orthopädisch/orthodontische Maßnahme Eingang in das kieferorthopädische Therapiespektrum.14 Eine spätere Hauptbehandlung kann in der bleibenden Dentition erforderlich werden, sei es rein kieferorthopädisch oder in Kombination mit gnathischer Chirurgie. Diese oft auch für den erfahrenen Kieferorthopäden schwierige, rechtzeitige differenzialdiagnostische Abklärung liegt an der Komplexität von Klasse III-Dysgnathien mit möglicher Progredienz des kondylären Wachstums sogar über das Ende des Körperwachstums hinaus (Björk).15

Unerlässlich ist daher eine umfassende Diagnostik mit Fokus auf Familienanamnese, Funktion und Morphologie zur Klärung des Charakters einer Klasse III-Malokklusion. Mittels der individualisierten Kephalometrie nach Hasund16-18 lässt sich im jeweils vorliegenden Gesichtstyp erkennen, inwiefern Maxilla, Mandibula oder beide Kiefer die Klasse III bedingen. Zu einem retrognathen wie orthognathen Gesichtstyp gehört von Natur aus eine mehr posteriore Neigung der Mandibula als zum prognathen Gesichtstyp. Die Beurteilung dieser vertikalen Komponente ist vom individuellen Gesichtstyp abhängig 
und bestimmend für die sagittale Entwicklung der Mandibula. Die transversale Wirkung einer GNE führt zu einer mehr posterioren Neigung der Maxilla; sekundär auf die Mandibula auftretende Rotations- und Translationseffekte sind sorgfältig zu beachten. Eine Wachstumsprognose ist unerlässlich (Björk, Ödegaard, Hasund). Generell gilt, dass in einem retro- oder orthognathen Gesicht eine Klasse III-Dysgnathie „leichter“ zu behandeln ist, als in einem prognathen Gesicht. Die Indikation für eine Klasse III-Frühbehandlung betrifft junge Patienten mit sagittaler maxillärer Retrognathie und transversaler maxillärer Hypoplasie mit uni- oder bilateralem Kreuzbiss, meist verbunden mit behinderter Nasenatmung. Das Vorliegen einer lateralen und/oder sagittalen Zwangsbissführung, insbesondere ein frontaler Kreuzbiss, erfordern bereits in der Milchgebiss- und in der ersten Wechselgebissphase orthopädisch/orthodontische Maßnahmen. Diese sollen, primär im Sinne einer interzeptiven Behandlung, Abweichungen beheben und bei günstiger Wachstumsprognose eine regelrechte Gebissentwicklung ermöglichen.

Bei ungünstiger Wachstumsprognose für die Mandibula kann es sinnvoll sein, nach einer Frühbehandlung auf eine weitere transversale Erweiterung der Maxilla zu verzichten. Es gilt, zu vermeiden, dass bei einer viele Jahre späteren OP-Planung eine überbreite Maxilla im Zielbiss vorliegt, ein Befund, welcher die prächirurgische kieferorthopädische Dekompensation erschwert. Unter den ausgeführten Prämissen hat die Frühbehandlung einen hohen Wert. Bei Klasse III-Dysgnathien ist eine Langzeitüberwachung bis zum Ende des mandibulären Wachstums erforderlich.19, 20

Wahl der Apparatur

Die Acrylschienen-GNE-Apparatur (Abb. 3) wird von uns in 
der Frühbehandlung bevorzugt.21 Ausschlusskriterien sind Stützzoneneinbruch oder in Kürze bevorstehender Zahnwechsel in der Stützzone. Alternativ können hier klassische bändergetragene oder gegossene GNE-Apparaturen bis hin zu skelettal verankerten Varianten gewählt werden.5, 11, 22 Der Vorteil der Acrylschiene liegt in der geringen Stuhlzeit für die kleinen Patienten, da nur eine Abformung von OK/UK und eine zentrische Bissnahme für die Herstellung im Labor nötig sind. Dies gilt auch für das Einsetzen der Apparatur mit Glasionomerzement. Hingegen sind das Entfernen der Acrylschiene, die Reinigung der Zähne und der Apparatur zeitaufwendig. Als Nachteil der Acrylschiene muss die Irritation der Gingiva genannt werden, die sich aber innerhalb von Tagen zurückbildet. Das meist darauffolgende herausnehmbare HANSA III-Gerät (Abb. 4) mit Retraktor-Labialbogen, Bertoni-Schraube und Protraktionshäkchen erlaubt eine weitere Adjustierung und Stabilisierung in allen drei Dimensionen: transversal, vertikal und sagittal.23, 24

Kasuistik 1

Befund
Patientin, Alter 8,1 Jahre, behinderte Nasenatmung, erste Wechselgebissphase, Kopfbiss der Seitenzahnreihen und 11/41 in RKP, Kreuzbiss der rechten SZ-Reihe und 11/41 in IKP, retrognather Gesichtstyp, vertikal tiefe Basenrelation, sagittal neutrale Basenrelation in RKP, initialer Schmelzdefekt an 41 durch Frühkontakt. 

Indikation für Frühbehandlung
Verbesserung der Nasenatmung, Kopfbiss/Kreuzbiss, sagittale und laterale Zwangsbisslage, Schmelzdefekt an 41. 

Planung
Begrenzte orthopädisch/orthodontische Maßnahmen zur transversalen Erweiterung der Maxilla, zum Einstellen eines gesicherten vertikalen und sagittalen Frontzahnüberbisses sowie zum Beseitigen der Zwangsbisslage. 

Behandlungsverlauf
Acrylschiene (26 Aktivierungen), Tragen der Delaire-Maske ab der 4. Woche, Entfernen der Acrylschiene nach fünf Monaten, Tragen eines HANSA III-Gerätes zur Retention bis zum Ende der Frühbehandlung nach 18 Monaten. 

Überwachung
Kontrollen der Dentitions- und Wachstumsentwicklung im Abstand von sechs bis neun Monaten: Befunderhebung im Alter von 16 Jahren, nach weitgehend abgeschlossenem Körperwachstum zur Planung einer Hauptbehandlung; FRS-Überlagerungen zeigen eine günstige Entwicklung zum orthognathen Gesicht mit verstärkt posteriorer Neigung der Maxilla und anteriorer Neigung der Mandibula. Eine Behandlung der dentoalveolären Abweichungen wie Rotationen und kleine Lückenbildungen wurde mit festsitzender Apparatur vorgeschlagen. Dies wurde abgelehnt, da die Patientin subjektiv weder funktionel
le noch ästhetische Störungen empfand.

Kasuistik 2  

Befund
Patientin, Alter 7,5 Jahre, Klasse III mütterlicherseits hereditär (ein FRS wurde bei der Mutter für deren eigene Beratung erstellt), erste Wechselgebissphase, Kopfbiss/Kreuzbiss der linken Seitenzahnreihe und der Frontzähne, keine Zwangsbisslage, disharmonisch prognather Gesichtstyp, posteriore Neigung der Mandibula, vertikal offene Basenrelation: N1 (mand), sagittal mesiale Basenrelation.

Indikation für Frühbehandlung
Kopfbiss/Kreuzbiss

Planung
Begrenzte orthopädisch/ orthodontische Maßnahmen zur transversalen Erweiterung der Maxilla, zum Überstellen des Kreuzbisses im linken Seitenzahnbereich und in der Front.

Behandlungsverlauf
Acrylschiene (31 Aktivierungen), Tragen der Delaire-Maske ab der 3. Woche, Entfernen der Acrylschiene nach sieben Monaten, Tragen eines HANSA III-Gerätes mit Delaire-Maske bis zum Ende der Frühbehandlung nach 18 Monaten und danach weiter als Retentionsgerät. Wegen Kopfbisses der Front und progredienten mandibulären Wachstums wurde die Hauptbehandlung im Alter von zwölf Jahren begonnen und nach Tragen herausnehmbarer Retentionsgeräte im Alter von 15 Jahren abgeschlossen.

Überwachung
Retentionskontrollen bis zum Alter von 17 Jahren zeigen einen stabilen Befund. Dritte Molaren sind nur im OK angelegt. Das Körperwachstum war bereits mit 15 Jahren abgeschlossen. Es liegen weder Habits noch eine Zungendysfunktion vor, wodurch die Rezidivgefahr, ein Risiko bei vertikal offener Basenrelation und knappem vertikalen Frontzahnüberbiss, vermindert ist. Die dentoalveoläre Kompensation der mesialen Basenrelation ist stabil, trotz der beschriebenen Problematik im prognathen Gesicht.

Fazit

Eine Frühbehandlung mit GNE und Protraktion kann bei Klasse III-Befunden als besonders wertvoll angesehen werden, da mit einer günstigen Reaktion der Suturen und Synostosen im Mittelgesicht zu rechnen ist. Insbesondere skelettale Abweichungen können somit neben dentoalveolären Malokklusionen frühzeitig positiv beeinflusst werden.

Die Literaturliste kann hier heruntergeladen werden.

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