Endodontologie 29.04.2024
Interdisziplinärer Zahnerhalt im Grenzbereich
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Zahnunfälle haben weltweit eine Prävalenz von 25 bis 30 Prozent, wobei die Inzidenz des dentalen Traumas von Patienten im Alter bis etwa 35 Jahre auf bis zu 20 Prozent geschätzt wird.1-3 Vor allem tiefe subgingivale bzw. subkrestale Frakturverläufe stellen den Behandler vor große Herausforderungen. Der vorliegende Fallbericht schildert den Versuch des Zahnerhalts bei einer Kronen-Wurzel-Fraktur mittels intraalveolärer Transplantation und anschließender endodontischer sowie prothetischer Therapie.
Anamnese und Befund
Der zum Zeitpunkt des Behandlungsbeginns zehnjährige Patient erlitt im Urlaub einen Zahnunfall, bei dem die Zähne 11 und 21 betroffen waren (Abb. 1). Als Erstversorgung im Notdienst alio loco wurden die augenscheinlichen Schmelz- bzw. Schmelz-Dentin-Frakturen mittels Komposittechnik restauriert. Ein Röntgenbild wurde nicht angefertigt.
Eine Woche nach dem Trauma fiel den Eltern eine Lockerung der oberen Frontzähne auf. Wiederum alio loco wurde eine TTS-Schiene angebracht von 12-21 (Abb. 2). Die im Rahmen dieser Behandlung angefertigte Röntgenaufnahme (Abb. 3) zeigte bereits deutlich eine tief subkrestal gelegene Kronen-Wurzel-Fraktur des Zahnes 11. Zurück zu Hause stellte sich die Familie bei ihrer Kinderzahnarztpraxis vor und wurde zur weiteren Therapie an unsere Praxis überwiesen.Die allgemeinmedizinische Anamnese des jungen Patienten war unauffällig. Bei Erstvorstellung stellte sich die Vitalitätsprobe mittels Schaumstoffpellet und Eisspray an den Zähnen 12 und 22 als normal und an den Zähnen 11 und 21 als verzögert positiv dar. Die Perkussion in horizontaler und vertikaler Richtung an den Zähnen 11 und 21 war leicht positiv. Eine apikale Druckdolenz zeigte sich an keinem der Oberkieferfrontzähne und die oben erwähnte TTS-Schienung war in situ. Auf ein zusätzliches Röntgenbild wurde verzichtet, da von der Kinderzahnarztpraxis eine aktuelle Aufnahme angefordert werden konnte (Abb. 4).
Diagnose
Als Diagnose wurde am Zahn 11 eine Kronen-Wurzel-Fraktur mit Pulpabeteiligung und am Zahn 21 eine bereits versorgte unkomplizierte Schmelz-Dentin-Fraktur gestellt. Die Eltern wurden in einem sehr zeitaufwendigen Gespräch über die Behandlungsmöglichkeiten an Zahn 11 aufgeklärt. Folgende Therapieoptionen standen zur Diskussion:
- kieferorthopädische Extrusion
- chirurgische Extrusion (intraalveoläre Transplantation)
- Prämolarentransplantation
- Extraktion und kieferorthopädischer Lückenschluss bzw. konventionelle Brücke/Adhäsivbrücke
Aufgrund des jungen Patientenalters von zehn Jahren sollte eine Extraktion unbedingt vermieden werden. Nach Abwägung aller Vor- und Nachteile der jeweiligen Behandlungen wurde zusammen mit den Eltern die Entscheidung des Versuchs der Zahnerhaltung mittels chirurgischer Extrusion und anschließender endodontischer/prothetischer Versorgung getroffen.
Therapie
In interdisziplinärer Zusammenarbeit mit einer oralchirurgischen Praxis wurde vor Behandlungsbeginn noch eine DVT-Aufnahme der Oberkieferfrontzähne angefertigt (Abb. 5–7). In ITN erfolgte die Entfernung der TTS-Schienung an Zahn 11 sowie des koronalen Fragments (Abb. 8). Im Rahmen der Extraktion (Abb. 9–11) der verbliebenen Zahnwurzel wurde größte Sorgfalt auf eine maximal gewebeschonende Entfernung gelegt, um parodontale Schäden auf der Wurzeloberfläche zu vermeiden. Diese können die spätere parodontale Heilung nach Replantation negativ beeinflussen bzw. im schlimmsten Fall zu externen Wurzelresorptionen führen. Noch vor kompletter Entfernung des Zahns aus der Alveole wurde der koronale Anteil der Pulpa extirpiert. Mittels einer Hedström-Feile ISO 110 wurde die Wurzel zur besseren Handhabung fixiert (Abb. 12) und vorübergehend in einer Dentosafe Nährlösung (Medice Arzneimittel Pütter) gelagert (Abb. 13). In der Zwischenzeit wurde an den zur Extraktionsalveole benachbarten Zähnen wieder eine TTS-Schienung angebracht (Abb. 14). Der Zahn 11 wurde nach Aufbau der Defektränder mittels Komposit (Abb. 15) und der Applikation von Ledermix in den Kanal adhäsiv verschlossen. Bei der Fixierung des Zahns 11 an der TTS-Schienung (Abb. 16 und 17) wurde darauf geachtet, dass der gesamte Frakturspalt supragingival zum Liegen kam. Dafür wurde der Zahn 180 Grad um die Vertikalachse rotiert. Dies ermöglichte eine deutlich geringere Supraposition aufgrund des Niveauunterschieds im Gingivaverlauf von bukkal nach palatinal. Als Schienungsdauer wurden sechs Wochen festgelegt, um eine ausreichende Stabilität nach Abnahme der Schienung zu gewährleisten.
Eine Woche nach chirurgischer Intervention wurde die endodontische Therapie des Zahns 11 als Single-Visit-Therapie eingeleitet. Nach Oberflächen- und anschließender Infiltrationsanästhesie wurde Kofferdam angelegt und der Zahn unter Zuhilfenahme eines OP-Mikroskopes trepaniert. Die koronalen Pulpaanteile wurden rotierend mittels Diamanten und Munce Discovery Burs (CJM Engineering, Santa Barbara, CA, USA) der Größen 1 und 2 entfernt. Mit Handinstrumenten der Größen 15 und 20 wurde sofort die endometrische Länge bestimmt. Die definitive Präparation des Kanalsystems wurde mit einem rotierenden NiTi-Instrument (Reciproc R25, VDW) und Handinstrumenten bis ISO 80 unter permanenter ultraschallaktivierter Desinfektion mit erwärmtem NaOCl (5 %; 55 Grad Celsius) durchgeführt. Die Röntgenmessaufnahme bestätigte die vorher bestimmte endometrische Länge (Abb. 18). Um eine ausreichende Desinfektionswirkung zu erzielen, wurde das NaOCl noch für zehn Minuten im Kanal belassen, um es anschließend zu trocknen und den Apex orthograd mit MTA (ProRoot, Dentsply DeTrey) zu verschließen (Abb. 19). Der restliche Kanalanteil wurde mit erwärmter Guttapercha im Sinne einer vertikalen Kompaktion gefüllt (Abb. 20) und zusätzlich ein Glasfaserstift (DT Light Post, VDW) inseriert (Abb. 21). Der koronale Verschluss erfolgte adhäsiv mit Syntac Classic und Tetric EvoFlow beziehungsweise Tetric EvoCeram (jeweils Ivoclar Vivadent, Ellwangen), und die Wurzelfüllung wurde röntgenologisch kontrolliert (Abb. 22). Fünf Wochen nach der Wurzelkanalbehandlung wurde die TTS-Schienung entfernt und der Zahn 11 abschließend noch mit einem einfachen Provisorium aus ProTemp (3M, Neuss) versorgt.
Weitere acht Wochen später konnte der Zahn mittels adhäsiv eingesetzter Vollkeramikkrone klassisch prothetisch versorgt werden (Abb. 23–25). Die Röntgenkontrollaufnahme über sechs Monate nach Therapiebeginn zeigt stabile und physiologische parodontale und endodontische Verhältnisse (Abb. 26).
Epikrise
Die intraalveoläre Transplantation stellt eine Therapieoption bei jungen Patienten mit tief subgingivalen oder subkrestalen Kronen-Wurzel-Frakturen dar.4 Bei derartigen Defekten sollte die Extraktion nur als letztes Mittel angesehen werden, da eine Implantatversorgung bekanntlich nicht in jeder Altersgruppe zum Einsatz kommen kann.5 Als gefürchtete Komplikation bei dieser Art der Behandlung werden progressive Wurzelresorptionen angesehen. In diesem Zusammenhang ist einerseits eine das Wurzelzement und Parodontium maximal schonende Extraktionstechnik von größter Wichtigkeit. Andererseits kommt der rechtzeitigen Einleitung einer endodontischen Therapie ein bis zwei Wochen nach chirurgischer Intervention eine Schlüsselrolle zu, um das Eindringen von Bakterientoxinen über die Dentintubuli in das Parodont zu verhindern.6
Eine Literaturliste steht Ihnen hier zum Download zur Verfügung.
Dieser Beitrag ist im EJ Endodontie Journal 2/24 erschienen.