Kieferorthopädie 02.02.2012

Das „Customized“ Alignersystem



Das „Customized“ Alignersystem

Inwieweit durch Einsatz modernster Computertechnologie die Aktivierung von Korrekturschienen noch präziser realisiert werden kann, demonstriert Dr. Wajeeh Khan anhand des von ihm entwickelten orthocaps®-Alignersystems*.

Herausnehmbare Aligner aus thermoplastischen Kunststoffen sind orthodontische Geräte, die seit mehreren Jahrzehnten in der Kieferorthopädie verwendet werden. Durch die Transparenz dieser Kunststoffe sind die Align­er fast unsichtbar und deswe­gen auch meistens die bevorzug­te Wahl in der kieferorthopädischen Behandlung vieler erwachsener Patienten. Wie bei festsitzenden Behandlungen, wo unterschiedliche Befunde den Einsatz von verschiedenen Behandlungsmitteln (z.B. orthodontische Drähte, TPA, Auxiliaries usw.) benötigen, sollten auch bei Aligner-Behandlungen individuelle Behandlungsmerkmale und Besonderheiten berücksichtigt werden. Dies bedeutet ne­ben der individuellen Planung die Benutzung von behandlungsspezifischen thermoplastischen Kunststoffen. Nur so können Align­er auch effektiv wie andere übliche Behandlungsmittel die Kraft über die Zähne auf den Knochen übertragen, durch mechanische Transduktion Knochenumbaumechanismen (Remodeling) hervorrufen und damit orthodontische Bewegung ermöglichen.

Herstellungsprozess mittels CAD/CAM

Anfang der 1980er-Jahre wand-te der französische Zahnarzt François Duret erstmals den CAD/CAM-Prozess in der Zahnmedizin an. Auch bei der Herstellung von Alignern bieten die CAD/CAM-Methoden entscheidende Vorteile im Vergleich zu herkömmlichen Prozessen. Das orthocaps®-System nutzt deswe­gen diese innovativen Techniken, um präzise Zahnbewegungen durchzuführen. Schwierige Zahnbewegungen sind dadurch leichter durchzuführen und komplexere Set-ups einfacher zu reali­sieren.

Simulation der Zahnbewegung

Die Erfassung der Daten für den CAD/CAM-Prozess erfolgt durch das Einscannen der Abdrücke oder Zahnmodelle oder direkt beim Patienten mithilfe eines In­traoral-Scanners. So ist es allerdings nur möglich, die Zahn­kronen in der Software darzustellen. Die Wurzeln der Zähne werden hingegen durch solche Scan-Verfahren nicht erfasst. Für die Nachbildung der Wurzeln sind ent­we­der DVT- oder CT-Daten notwendig oder virtuelle Wurzeln müssen mittels CAD-Software hergestellt werden. Beim orthocaps®-Prozess werden die Wurzeln mithilfe einer CAD-Software hergestellt. Die Berücksichtigung der Wurzellänge bei der Behandlungssimulation ist notwendig, um das Ausmaß der linearen Verschiebung im Wurzelbereich zu kalkulieren. Dieser Wert ist für alle Bewegungssituationen (Rotation, Kippung, Torque usw.) außer der einer reinen Translationsbewegung relevant (Abb. 1). Mit der CAD-Software des ortho­caps®-Systems werden die virtu­ellen Wurzeln entsprechend den eingescannten Kronen adaptiert, um damit einen kompletten Zahn zu bilden. Nur so ist es möglich, mit der tatsächlichen Bewegung im Wurzelbereich innerhalb des vordefinierten Limits zu bleiben und dieses nicht zu überschreiten.

Materialeigenschaften

Nicht nur die CAD/CAM-Metho­de, sondern auch die Materialeigenschaften der thermoplastischen Kunststoffe spielen bei den Behandlungen eine sehr gro­ße Rol­le. Es ist sehr wichtig, dass wir als Kieferorthopäden es verstehen, die Prozesse der Zellbiolo­gie auf mikroskopischer Ebe­ne und die Regeln der biomechanischen Kraftauswirkung bei Aligner-Therapien nicht von Behandlungen mithilfe anderer Geräte zu un­ter­scheiden. Dies bedeutet, dass die wissenschaftlichen Kenntnisse, welche wir in über 100 Jahren moderner Kieferorthopädie gewonnen haben, hinsichtlich der Vorteile der Verwendung leichter Kräfte auch für die Behandlung mit Alignern gültig sind. Wir wissen, dass orthodontische Zahnbewegungen durch leichte orthodontische Kräfte ohne negative Nebeneffekte erreicht werden können. Leichte Kräfte verursachen weniger Schmerzen, Wurzelresorptionen oder unterminierende Resorptionen. Deswegen ist es unser Ziel, diese orthodontischen Kräfte soweit wie möglich niedrig zu dosieren und somit die Nebeneffekte gering zu halten. Die Verwendung elastischer thermoplastischer Kunststoffe in der Herstellung der orthocaps®-Align­er ist neben dem Einsatz mo­der­­ner Herstellungsverfahren ein sehr wichtiges Element. Nicht nur, um orthodontische Kräfte zu reduzieren, sondern auch um während der Behandlung die plastische Deformation der Aligner zu vermeiden und damit eine kontrollierte Zahnbewegung zu ermöglichen. Nur dann können schwierig zu behandelnde Zahnfehlstellungen effektiv therapiert werden.

Elastizität

Die Elastizität eines Materials ist jene Eigenschaft, unter Krafteinwirkung seine Form zu verändern und bei Wegfall der einwirkenden Kraft in die Ursprungsform zurückzukehren. Das Elastizitätsmodul (E-Modul) beschreibt das Verhalten zwischen Spannung und Dehnung eines Materials. Es ist unabhängig von der Querschnittsfläche und Formstruktur des Materials und stellt damit ei­ne Materialkonstante dar. Je niedriger das E-Modul ist, desto elastischer ist das Material. Das schematische Spannungs-Dehnungs-Diagramm (Abb. 2) zeigt eine Kurve, die den Zu­sam­menhang zwischen Spannung und Dehnung darstellt. Das E-Modul wird auf dem anfangs linearen Bereich der Kurve gemessen: Elastizitätsmodul = Spannung:Dehnung. Der Übergang zwischen linearem und flachen Teil der Kurve wird als die Fließgrenze (Elastic Limit) bezeichnet. Bis zu dieser Grenze bleibt ein Material elastisch. Danach fängt es an, sich permanent zu verformen (plastische Deformation). Dabei ist F:A die mechanische Spannung und Dl:L die Dehnung. Die Dehnung ist das Verhältnis von Längenänderung zur ursprünglichen Länge.

Elastizitätsmodul = Spannung: Dehnung: E = (F:A):(Dl:L), wobei F = Kraft; A = Querschnitt; Dl = Längenänderung und L =
ursprüngliche Länge ist. Auch die resultierende Kraft ist proportional zum E-Modul. Je elastischer das Material, desto niedriger ist die Kraft: F = AE (Dl:L).

Steifigkeit

Die Steifigkeit ist der Widerstand eines Körpers gegen Verformung durch eine Kraft oder ein Drehmoment. Im Gegenteil zur Elastizität ist diese Eigenschaft neben dem Material auch von der Geometrie des Körpers abhängig. Ma­thematisch gesehen ist die Steifigkeit k: k = F:Dl    oder   k = AE:L

Aus der ersten Gleichung wird deutlich, dass neben dem E-Modul die Steifigkeit proportional zum Querschnitt und umgekehrt proportional zur ursprünglichen Länge des Materials ist.

Elastizität fi Steifigkeit

Es ist sehr wichtig, den Unterschied zwischen Elastizität und Steifigkeit zu verstehen. Wenn eine plastische Verformung des Materials vermieden werden soll, muss ein elastisches Material für die Herstellung der Align­er gewählt werden. Ein dünneres, jedoch weniger elastisches Material mag zwar nicht so steif sein, wird sich aber genauso schnell verformen wie ein dickeres Material (siehe oben).

Finite-Elemente-Methode

Durch die Verwendung der Fi­ni­te-Elemente-Methode-Software ist es möglich, unterschiedliche thermoplastische Materialien vir­tu­ell miteinander zu vergleichen und dadurch resultierende Kräf­te grafisch darzustellen. Die Ortho Caps GmbH benutzt die FEM-Software nicht nur, um unterschiedliche thermoplastische Materialien in unterschiedlichen Behandlungssituationen miteinander zu vergleichen, sondern auch für die Darstellung der biomechanischen Kräfte und für die Optimierung der Attachmentformen in verschiedenen Behandlungsszenarien (Abb. 4, 5). Ein speziell für orthocaps® programmiertes Plug-in (Abb. 5) erleichtert das Handling der sehr komplexen und aufwendigen Software. Durch den Einsatz der Finite-Elemente-Software sind zahlreiche Verbesserungen in der Materialauswahl sowie neue Kenntnisse hinsichtlich aligner-relevanter Biomechanik gewonnen worden, die den Herstellungsprozess weiterentwickelt haben.

Fallbeispiel (Abb. 6 bis 15)

Eine 30-jährige Patientin mit einer Klasse I-Verzahnung, aus­ge­prägtem Engstand sowie Tiefbiss wurde mit der orthocaps®-Apparatur behandelt.

Diagnose und Behandlungsplanung

Nach Einscannen der Modelle mittels orthocaps®-Software erfolgten die Planung und Fest­legung der Behandlungsob­jek­tive (Abbildung 9a, b). Da es sich um eine reine orthodontische Behandlung handelte, wur­de auf eine FRS-Analyse verzichtet.

Oberkiefer

Der Oberkieferzahnbogen zeig­te eine transversale Einengung zusammen mit palatinaler Kippung der linken Prämolaren. Eine mesiale Aufwanderung von 2 bis 3mm des linken Seitenzahnsegmentes sowie ein Bukkalstand der Zähne 22 und 23 wurden ebenfalls festgestellt.

Unterkiefer

Die Analyse des Unterkieferzahnbogens ergab einen ausgeprägten Engstand der Front, ei-ne linguale Kippung der linken Prämolaren und diverse Einzelzahnrotationen als Befund.

Bisslage

Die Patientin hatte eine beidseitige Klasse I-Okklusion im Mo­larenbereich mit einer leichten Klasse II-Eckzahnrelation auf der linken Seite. Ein dentoal­veolärer Tiefbiss war ebenfalls festzustellen.

Behandlungsziele

Im Behandlungsplan wurden folgende Ziele festgelegt:
a) transversale Nachentwicklung im Oberkiefer und approxima­le Schmelzreduktion (ASR) zur Platzbeschaffung
b) Distalisieren des linken Zahnsegmentes (siehe Abb. 9b)
c) Intrudieren, Derotieren und Torquen der oberen Inzisivi
d) Proklinieren und Intrudieren der unteren Inzisivi
e) Auflösen der Engstände
f) Bisshebung und Einstellung ei­ner regelrechten Verzahnung.
Behandlungsapparatur
Für die orthocaps®-Apparaturen (CAPS) wurden folgende Materialien ausgewählt:
1. Behandlungsphase (Behandlungsschritte 1 bis 3):
• softoCAPS: Ethylenvinylace­tat (EVA), Stärke 3 mm
• hardCAPS: Polypropylen (PP), Stärke 1 mm.
1. Behandlungsphase (Behandlungsschritte 4 bis 8):
• softoCAPS: Polyurethan in Kombination mit Polycarbonat (PC), Gesamtstärke 1,8mm
• hardCAPS: Polyethylenterephthalat (PET-G), Stärke 0,5mm.
2. Behandlungsphase (Behandlungsschritte 9 bis 16):
• softoCAPS: Polyurethan in Kombination mit Polyethylenterephthalat (PET-G), Gesamtstärke 2mm
• hardCAPS: Polyethylenterephthalat (PET-G), Stärke 0,8mm.

Behandlungssequenz

Die softoCAPS wurden immer nachts getragen. Nach einer Tragezeit von einer Woche wurden für die nächsten zwei Wochen zusätzlich die hardCAPS tags­über getragen. Die Behandlungssequenz für alle anderen Behandlungsschritte blieb gleich. Die Aktivierung pro Behandlungsschritt lag zwischen 0,4 und 0,5mm. Die Behandlungsdauer betrug 14 Monate.
 

Ergebnisse

Die in den Abbildungen 10 bis 13 dargestellten Aufnahmen von Ober- und Unterkiefer zeigen den Behandlungsverlauf. Die Abschlussunterlagen (Abb. 14) zeigten, dass die Behandlungsobjektive erreicht wurden. Die Patientin trug weiterhin die letzte hardCAPS im Oberkiefer als Retentionsschiene. Im Unterkiefer wurde zur Langzeitstabilisierung ein Ortho-Flex-Lingualretainer (Fa. Reliance Orthodontics) ein­gesetzt und die Patientin entsprechend über die Notwendigkeit der Retentionsphase aufgeklärt.

Diskussion

Die Erfahrungen mit der orthocaps®-Behandlungsmethode zeigen, dass durch den Einsatz moderner Computertechnologie zur präzisen Aktivierung der Behandlungsschienen (CAPS) zusammen mit einer fallbezogenen Auswahl des thermoplastischen Kunststoffs zur Herstellung der CAPS, auch Zahnfehlstellungen, die mit herkömmlichen Schienensystemen nur schwierig zu realisieren sind, effektiv behandelt werden können. Es zeigt sich ebenfalls, dass die bereits beschriebenen Grundprinzipien der Kieferorthopädie wie sorgfältige Planung, eine Anwendung leichter Kräfte sowie kontrollierte Zahnbewegungen – unabhängig davon, welche Behandlungsapparaturen oder -techniken Anwendung finden – ihre Gültigkeit behalten.

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