Kieferorthopädie 28.02.2011

Kieferorthopädie und parodontale Ästhetik



Kieferorthopädie und parodontale Ästhetik

In der Kieferorthopädie hat die dento-faziale Ästhetik seit jeher einen hohen Stellenwert. Sie ist das entscheidende Behandlungsmotiv für unsere jugendlichen und erwachsenen Patienten. Das ästhetische Bewusstsein ist einerseits Ausdruck unserer abendländischen Kultur, geprägt durch die Studien von Leonardo da Vinci, Michelangelo, Botticelli oder Dürer. Andererseits wird dieses Phänomen durch die heutigen Medien (Topmodels, Schauspieler, Werbung) in vielfältiger Weise akzentuiert.


Bezogen auf die dento-faziale Ästhetik spielt der Erhalt des „jugendlichen Lächelns“ eine wesentliche Rolle: Es gilt als Sinnbild für physische Attraktivität und ist bedeutsam für das Selbstwertgefühl unserer Patienten und für deren soziale und berufliche Kontakte (Abb. 1). Diese Harmonie kann durch parodontale Erkrankungen empfindlich gestört sein, und zwar durch pathologische Zahnwanderungen, dysharmonischen Gingivaverlauf und Papillenverlust (Abb. 2).

Pathologische Zahnwanderungen

Pathologische Zahnwanderungen sind ein häufiges Begleitsymptom einer fortschreitenden aggressiven Parodontitis. Nach Studien von Martinez-Canut et al. (1997) und Towfigi et al. (1997) sind die ätiologischen Hauptfaktoren für Frontzahnauffächerung, Lückenbildung und Elongation: fortgeschrittener Attachmentverlust, Zahnverlust im Seitenzahnbereich und parodontale Entzündung. Als untergeordnete Kofaktoren beeinflussen Zungendysfunktion, okklusale Parafunktionen und Habits die typische Symptomatik.

Durch neuere Verfahren der regenerativen Parodontaltherapie (Membranverfahren, Schmelzmatrixproteine) hat sich die Prognose für die orthodontische Reorientierung der gewanderten Zähne entscheidend verbessert. Die traditionelle, nicht regenerative Parodontaltherapie (Scaling, Wurzelglättung, offene oder geschlossene Kürettage) führte lediglich zu einer Reparation: Ein langes Saumepithel besiedelt aufgrund der höheren Proliferationsgeschwindigkeit die dekontaminierte Wurzeloberfläche und die kollagenen Fasern bilden ein gingivales Narbengewebe mit parallelem Verlauf zur Wurzeloberfläche, d.h. ohne funktionelle Orientierung. Bei Ausbildung eines solchen langen epithelialen Attachments ist eine Zahnbewegung in Richtung auf und durch einen intraossären Defekt kontraindiziert (Polson et al., 1984). Auch die Intrusion von elongierten Zähnen mit reduziertem Halteapparat birgt das Risiko, dass das epitheliale Attachment unterhalb des Limbus alveolaris verlagert wird oder dass eine kontinuierliche Resorption des Alveolarknochens induziert wird (Diedrich et al., 1992).

Eine parodontale Regeneration hingegen hat das Ziel, die zerstörten funktionellen und strukturellen Komponenten möglichst vollständig wieder herzustellen. Voraussetzung für diese regenerative Wundheilung ist die Rekrutierung und Differenzierung von Zemento-, Fibro- und Osteoblasten aus paravaskulären Progenitorzellen, die im intakten Restdesmodont lokalisiert sind.

Neue Möglichkeiten des Bioengineerings erlauben eine therapeutische Beeinflussung des Wundheilungsprozesses in Richtung auf das Idealziel einer vollständigen parodontalen Restitution. Dazu zählen: Osseoinduktion/-konduktion durch Knochentransplantate/-ersatzmittel, Gewebekompartimentierung durch Membranverfahren, Signalmoleküle, Wachstumsfaktoren (zum Beispiel BMP-2, BMP-7), Schmelzmatrixderivate (Emdogain®), monoklonale Integrin-Antikörper und Adhäsionsproteine (Fibronektin, Osteopontin etc.).

Bisher wurde durch zahlreiche klinische und histologische Studien insbesondere der therapeutische Nutzen der Membranverfahren und der Schmelzmatrixderivate belegt. Membranen führen zu einem mechanischen Ausschluss von Epithel-, Bindegewebs- und Knochenzellen, die die initiale Wundheilung stören und fördern eine Besiedlung der dekontaminierten Wurzeloberfläche mit Zementoblasten – die Basis jeder parodontalen Regeneration. Xenogene Schmelzmatrixproteine fördern die Differenzierung und Proliferation regenerativ relevanter Zellen aus desmodontalen Progenitorzellen, zudem hemmen sie die Epitheltiefenmigration und pathogene Keime.

Grundsätzlich haben die regenerativen Verfahren nicht nur das therapeutische Spektrum in der Parodontologie bereichert, sondern auch die Voraussetzungen für die orthodontische Bewegung parodontal erkrankter Zähne entscheidend verbessert. Auf der Zugseite werden neue suprakrestale und desmodontale Fasern gewonnen, um den orthodontischen Kraftstimulus auf den Alveolarknochen zu übertragen. Dies ist vorteilhaft für die Extrusion und Intrusion von Zähnen mit infraalveolären Taschen oder Furkationsbefall und für die Aufrichtung gekippter Molaren mit mesialen Knochentaschen. Ebenso sind die histologischen Beobachtungen und Schlussfolgerungen von Polson et al. (1984) mit Blick auf die Technik der gesteuerten Geweberegeneration zu überdenken: Wenn es nämlich gelingt, präorthodontisch eine apikale Epithelproliferation zu verhindern, sind körperliche Zahnbewegungen in Richtung auf oder durch einen intraossären Defekt sowie Intrusionen Erfolg versprechend.

Erste mikromorphologische Befunde von Diedrich et al. (2004) sprechen für die Umsetzbarkeit dieser Hypothesen. In einer tierexperimentellen Studie wurde die Interaktion parodontal regenerativer Maßnahmen und orthodontischer Zahnbewegungen (Translation, Intrusion) analysiert: Nach Erzeugen einer experimentellen Parodontitis mit dreiwandigen approximalen Knochendefekten erfolgte eine regenerative Parodontaltherapie: Scaling, Zitronensäurekonditionierung der Wurzeloberfläche, Kombination von Schmelzmatrixprotein (Emdogain) und resobierbarer Polyglactinmembran (Vicryl). Anschließend wurden die behandelten Zähne sowohl intrudiert als auch körperlich distalisiert, das heißt in den Defekt hinein (Druckseite) sowie vom Defekt weg (Zugseite). Die qualitativen und histomorphometrischen Daten zeigten eine weitreichende parodontale Regeneration an allen intrudierten Wurzelabschnitten und im Bereich der Zugseiten. Die Zemento- und die Osteoneogenese erreichten durchschnittlich Werte von 70% bis 80%; die Epitheltiefenmigration war gering. Die knöcherne Regeneration auf der Druckseite war niedriger, die Neubildung von Wurzelzement mit inserierenden Sharpey’-schen Fasern lag jedoch auch hier bei nahezu 70% (Abb.3).

Die Behandlungssequenz (Abb. 4a–h) belegt das Potenzial der modernen regenerativen Parodontaltherapie am Beispiel eines pathologisch gewanderten Zahnes 21.

Dysharmonischer Gingivaverlauf


Wichtige Komponenten eines attraktiven Lächelns sind bezogen auf die Lippenlinie eine minimale Gingivaexposition und bezogen auf die Lachlinie eine parallele Kurvatur der Inzisalkanten der oberen Schneidezähne zur Unterlippe. Der Verlauf der Oberlippe soll gerade oder aufwärts gerichtet sein, ein schmaler Bukkalkorridor und Seitensymmetrie sowie dentogingivale Harmonie sind ebenfalls von grundlegender Bedeutung (Abb. 1).

Die marginale Gingiva sollte symmetrisch verlaufen und keine Hyperplasie, Hypertrophie oder Rezession aufweisen. Das Gingivaniveau verläuft physiologischerweise bei den mittleren oberen Schneidezähnen und Eckzähnen weitgehend gleich, bei den seitlichen Schneidezähnen etwa 1 mm weiter kaudal.

Die Behandlungssequenz in Abbildung 5a–e zeigt eine interdisziplinäre, d.h. parodontale, orthodontische und prothetische Therapie, wobei vor einer erneuten prothetischen Restauration die orthodontische Harmonisierung des Gingivaverlaufes ein wesentlicher integraler Bestandteil des Gesamtkonzeptes war.

Papillenverlust

Die interdentale Gingiva, insbesondere zwischen den oberen mittleren Schneidezähnen, ist ein Schlüsselfaktor für eine harmonische Dentition und ein attraktives Lächeln. Eine fortgeschrittene Parodontitis, entzündliche Weichgewebsdestruktion und Gewebsschrumpfung nach chirurgischer Parodontaltherapie führen häufig zur Rezession der Interdentalpapillen. Aber auch ein inzisaler Kontaktpunkt nach Engstandkorrektur, Lückenschluss oder als Folge falscher Bracketpositionierung kann Ursache fehlender Papillen sein. Diese dunklen, leeren approximalen Dreiecke haben nicht nur einen negativen Einfluss auf das Aussehen des Patienten, sie können auch dessen Sprache und Selbstwertgefühl beeinträchtigen.

Als Richtlinie für die interdisziplinäre Behandlungsstrategie dienen die klinischen und metrischen Befunde von Tarnow et al. (1992): Das Vorhandensein der Interdentalpapille korrelierte eng mit der vertikalen Distanz vom approximalen Kontaktpunkt zum Limbus alveolaris. Wenn die Distanz 5 mm oder weniger betrug, waren fast alle interapproximalen Bereiche mit Gingiva ausgefüllt. Lag die Distanz bei ≥6mm, xwar der Papillenerhalt auf 56% oder mehr reduziert. Ab einer Distanz von 10mm war keine Papille mehr vorhanden (Abb. 6). Das Behandlungskonzept zum Papillenmanagement integriert drei Ansätze, einen parodontalen, einen restaurativen und einen orthodontischen (Abb.7).

Falls bei einer regenerativen Therapie ein offener Zugang zur Tasche notwendig ist und die Zähne lückig stehen, sollte ein Papillenerhaltungslappen mit palatinaler (Takei et al., 1985) oder vestibulärer Schnittführung (Cortellini et al., 1995) durchgeführt werden.

Eine parodontalchirurgische Papillenrekonstruktion durch gestielte Rolllappen, Spaltlappen oder Tunnelierung der interdentalen Gingiva in Verbindung mit Bindegewebstransplantaten bzw. durch Knochenaufbau (GBR) zu erreichen, wurde bislang nur in einzelnen Fallberichten dokumentiert. Zurzeit scheint kein parodontalchirurgisches Verfahren in der Lage zu sein, das verloren gegangene interdentale Gewebe völlig und zuverlässig zu rekonstruieren. Es bedarf diesbezüglich mehr wissenschaftlich fundierter Langzeitstudien.

Auch restaurativ prothetische Maßnahmen (Komposit, Veneers, Kronen) können dazu beitragen, einen partiellen Verschluss dunkler interdentaler Dreiecke zu erzielen. Besonders geeignet ist die approximale Verschalungstechnik nach Hugo (2001): mithilfe eines speziellen Matrizenverfahrens und Kompositschichtung wird der Approximalraum individuell gestaltet (siehe Abb. 3g). Auch orthodontisch kann eine partielle Papillenrekonstruktion unterstützt und das Entstehen leerer interdentaler Dreiecke vermieden werden. Durch Stripping und nachfolgendem Lückenschluss erfolgt einerseits eine apikale Verlagerung des Kontaktpunktes, d. h. die relevante Distanz zwischen Kontaktpunkt und Limbus alveolaris wird reduziert. Darüber hinaus begünstigt die Kompression und Verlängerung der vorhandenen interdentalen Gingiva eine Auffüllung des approximalen Weichgewebsdefektes (Abb.8). Auch sollte darauf geachtet werden, dass bei orthodontischer Korrektur von Engständen oder beim Diastemaschluss keine inzisalen Kontaktpunkte entstehen, gegebenenfalls ist eine Odontoplastik indiziert oder es ist von einer artistischen Frontzahnausrichtung abzusehen.

Fazit

Adjunktive orthodontische Maßnahmen im parodontal geschädigten Gebiss erzielen durch Attachmentgewinn nicht nur eine Verbesserung der parodontalen Prognose, sondern sie liefern auch einen entscheidenden Beitrag, ästhetische Beeinträchtigungen als Folge profunder parodontaler Destruktionen zu beseitigen.


Die vollständige Literaturliste ist bei den Verfassern erhältlich.


Autoren: Prof. Dr. Dr. Peter Diedrich, Prof. Dr. Ulrike B. Fritz, Klinik für Kieferorthopädie des Universitätsklinikums der RWTH Aachen (Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den Prof. Dr. Dr. Peter Diedrich auf dem Kongress „Vienna Perio“ am 6. Dezember 2008 gehalten hat.)


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