Kieferorthopädie 16.12.2013
Platzmanagement und skelettale Verankerung in der Kieferorthopädie
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Extraktion versus Nicht-Extraktionstherapie: Weichteilästhetik und Langzeitstabilität spielen dabei eine wichtige Rolle.
Das Platzmanagement gehört zu den häufigsten und entscheidenden Aufgaben des Kieferorthopäden. Eine Zahnbreiten-Zahnbogenlängen-Diskrepanz wird typischerweise in Millimetern angegeben und eingeteilt in Platz, minimaler (kleiner als 4 mm), moderater (von 4 bis 6 mm) oder ausgeprägter Engstand (über 6 mm).
Um den Platzmangel aufzulösen, kommen im Allgemeinen folgende Maßnahmen infrage: Extraktionstherapie, die sagittale/transversale Expansion, das Reduzieren von Zahnhartsubstanz (proximales Stripping).
In der Entscheidungsfindung Extraktion versus Nicht-Extraktions-Therapie spielen die Weichteilästhetik und die Langzeitstabilität eine wichtige Rolle. Dabei wurde in der Vergangenheit eine Nicht-Extraktions-Therapie bei Diskrepanzen der Zahnbreiten zu ihrer knöchernen Basis weitestgehend kritisiert. Es wurde bemängelt, dass eine Non-Ex-Therapie die Langzeitstabilität des erreichten Behandlungsergebnisses gefährde. Jedoch wurde diese Theorie widerlegt. Denn es ist nachgewiesen, dass die Stabilität auch durch andere Variablen beeinflusst wird, wie z.B. durch eine ausgeglichene muskuläre Funktion.
Fehlende evidenzbasierte Studien, die eine Notwendigkeit der Extraktion für ein langfristig stabiles Behandlungsergebnis aufzeigen, sowie das Patientenbedürfnis sind Gründe für den dramatischen Rückgang von Extraktionsfällen in den letzten Dekaden.
Offensichtlich erscheint eine Behandlung aus Sicht der Patienten attraktiver, wenn Extraktionen vermieden werden können. Dies mag auch aus kieferorthopädischer Sicht wahr sein, weil Extraktionsfälle bekannt sind für eine längere aktive Behandlungsdauer und oftmals eine große Herausforderung darstellen. Dies beeinflusst den Kieferorthopäden in seiner Entscheidung, zu extrahieren oder nicht.
Obwohl das Behandlungsergebnis zwischen Extraktions- und Nicht-Extraktions-Therapie gemäß Literatur unbedeutend differiert, ist das Ausmaß der Weichteilreaktion höchst variabel und interindividuell unvorhersehbar, laut einiger Autoren meist das Ergebnis einer ungenügenden Diagnose und Behandlungsplanung.
Als generelle Regel sollten in einem umfassenden Behandlungsplan folgende Faktoren evaluiert werden: Alter, Geschlecht, Gesichtsmorphologie (Nase, Kinn, Lippen, Weichteilgewebe), Zahnfleisch-Biotyp, Wachstumsmuster, Lachästhetik, Zahnbogenform, skelettale Diskrepanzen, Dentition (Inklinationen, Rotationen, Kippungen, Leeway-Space, Speekurve, etc. ...).
Das Alter des Patienten muss berücksichtigt werden, da das späte mandibuläre Wachstum zu einer Reduktion eines vergrößerten Overjets beitragen kann, sodass eine Zahnentfernung unnötig ist. Zudem sollten bei erwachsenen Patienten, bei denen der Weichteiltonus der Oberlippe eher nachlässt, jegliche profilabflachende Maßnahmen unterlassen werden, da diese die Gesichtsästhetik älter erscheinen lassen.
Dementsprechend verhält es sich mit dem Geschlecht. Beim weiblichen Geschlecht tendiert die Oberlippe mit der Zeit zu einer schnelleren Verlängerung als beim männlichen Geschlecht, und eine mehr ausgeprägte Lippe wird heutzutage als attraktiver empfunden. Eine exzessive Retraktion lässt die Nase ausgeprägter und die Lippen schmaler erscheinen.
Die Wirkung einer Extraktionstherapie auf das Weichgewebe wird kontrovers diskutiert.
Extraktionstherapien würden unvorteilhafte Veränderungen im Profil und der Lach-Ästhetik infolge Verengung der Zahnbögen und dunkler bukkaler Korridore verursachen.
Aus ästhetischer Sicht wird seit den späten 1960er-Jahren bis heute ein Paradigmenwechsel in der Kieferorthopädie beobachtet. Damals glaubten die Kieferorthopäden, dass die Hartgewebe die einzigen Parameter wären, die bei der Planung einer kieferorthopädischen Zahnbewegung berücksichtigt werden sollten. Heutzutage sind nicht nur die Hart-, sondern auch die Weichgewebe Schlüsselfaktoren, um eine Entscheidung für eine Extraktion oder Nicht-Extraktiontherapie zu treffen. Unterdessen haben die Kieferorthopäden realisiert, dass das breite Publikum eher volle und prominente Lippen bevorzugt als früher. Deswegen berücksichtigt der Kieferorthopäde, der entscheiden muss, ob Zähne extrahiert werden oder nicht, üblicherweise sowohl die Gesichtsweichteilästhetik als auch die Funktion. Ein exzessives bialveolär-protrudiertes Profil wird zwar von einer Retraktion der oberen und unteren Frontzähne profitieren (Abb. 1 a–d), andererseits führt Platzgewinn durch transversale Expansion in einem länglichen Gesicht mit schmalen Wangen zu einer unausgeglichenen Gesichtsästhetik.
Fälle mit einem ausgeprägten Platzmangel benötigen normalerweise Extraktionen, bei Grenzfällen mit einem schönen harmonischen Gesicht wird jedoch eine Nicht-Extraktions-Therapie bevorzugt. Dies ist nur richtig, wenn der Biotyp des Patienten eine Zahnbewegung in der Alveole ermöglicht, ohne eine Verletzung des Gewebes hervorzurufen.
Ein dünner Gingiva-Biotyp ermöglicht kleine Expansionsmaßnahmen (Abb. 2 a und b). Dieses Bild veranschaulicht die unterschiedliche Knochendicke, die den Knochen um den einzelnen Zahn charakterisiert. Es ist offensichtlich, dass je nach Bewegungsrichtung bestimmte Bewegungen kontraindiziert sein können oder nur dann zulässig sind, wenn eine kontrollierte dreidimensionale Wurzelbewegung sichergestellt werden kann.
Die zunehmende Verbesserung der Bildqualität und eine reduzierte Strahlendosis der dentalen Volumentomografie (CBCT) machen eingehende Studien über den Alveolarknochen besser durchführbar als früher. CBCT ist bereits als nützliches Werkzeug in der Forschung verwendet worden, um die Knochenmenge rund um Zähne nach sagittaler und transversaler Expansion zu analysieren. Diese Art von Studien haben gezeigt, dass Knochen während einer kieferorthopädischen Zahnbewegung nicht immer den Wurzeln folgt; infolge dessen können anatomische Gegebenheiten entstehen, die zu Fenestrationen führen.1 In Zukunft kann man vermuten, dass die dreidimensionalen bildgebenden Verfahren noch zuverlässiger werden und dadurch eine Identifikation der spezifischen Biotypen zulassen. Dies bestätigt einmal mehr die Notwendigkeit der dreidimensionalen Kontrolle der Wurzeln hinsichtlich des umgebenden Gewebes.
Die nicht-extrahierende Therapie, z.B. die transversale und sagittale Expansion, tendiert zur Entstehung einer posterioren Rotation des Unterkiefers, woraus eine vergrößerte vertikale Dimension die Folge ist. Letzteres ist kontraindiziert bei Patienten, in deren Wachstumsmuster bereits eine posteriore Rotation vorgegeben ist (Abb. 1 a–d).
Einer der häufigsten Gründe für die Überweisung eines Patienten ist die Lachästhetik. Es impliziert nicht immer nur die Nivellierung und gerade Zähne, sondern auch die Lokalisation des Lächelns in der gesamten Gesichtsharmonie.
Mit der Lachästhetik hängt die Zahnbogenform zusammen. Ein enger Zahnbogen verursacht ausgeprägte schwarze Korridore, wodurch Mechanismen zur Extraktion folglich geeigneter erscheinen als eine Extraktion zur Auflösung des Zahnengstandes (Abb. 5 und 6 a–c).
In Fällen von skelettalen Diskrepanzen ist die Entscheidung zwischen Extraktion oder Nicht-Extraktion besonders schwierig. Ein abgeflachtes Profil wird eher aus der Zahnexpansion zur Unterstützung der Oberlippe Nutzen ziehen als durch eine Zahnextraktion, um die Platzdiskrepanz zu beseitigen (Abb. 3 a–f). Dies gilt auch bei einer Zahnextraktion im retrognathen Gesichtstyp (Abb. 4 a–d).
Die Position der Dentition im Zahnbogen muss bei der Platzanalyse berücksichtigt werden. Wenn bei einem Grenzfall eine tiefe Spee-Kurve reduziert werden soll, wird die Entscheidung eher in Richtung Extraktion gehen, da die Nivellierung der Speeschen Kurve bekannterweise Platz benötigt. Die Qualität der Zähne ist ebenfalls ein wichtiger Faktor bei Grenzfällen, da es wenig Sinn hat, Zähne im Mund zu erhalten, wenn deren Prognosen ungünstig sind.
Durch die Einführung der intraoralen ossären Verankerung, das sogenannte Temporary Anchorage Device (TAD), wurde die Auswahl möglicher Behandlungen erweitert, besonders für den Fall einer asymmetrischen Korrektur. Die Benutzung der temporären ossären Verankerungsmethode hat das Prozedere des Platzmanagements vereinfacht, sowohl für den Kieferorthopäden als auch für die Patienten (Abb. 5). Da eine maximale Verankerung erreicht werden kann, ist ein Lückenschluss möglich, ohne das Profil zu beeinflussen, wie in Fällen eines ausgeprägten Zahnengstandes in einem harmonischen Profil oder bei Lückenschluss aufgrund fehlender Zähne (Abb. 6 a–c). Wie auch bei einer Zahnextraktion vereinfacht die temporäre ossäre Verankerungsmethode die Non-Extraktionschancen durch das Ermöglichen einer Distalisation in symmetrischen wie auch in asymmetrischen Fällen (Abb. 7 a–e), ohne die Benutzung extraoraler Apparaturen.
Zusammenfassung
Die Wahl zur Extraktion oder Nicht-Extraktion stellt eine herausfordernde und reizvolle Aufgabe für den Kieferorthopäden dar, dessen Kenntnisse genutzt werden, um die okklusale Relation zu verbessern, indem die natürliche Unterstützung durch die Zähne und die ästhetische Harmonie des Profils berücksichtigt wird. Während in der Vergangenheit die Wahl der Therapie durch biomechanische Faktoren beeinflusst wurde, hat heutzutage die Einführung der skelettalen Verankerung diesen Teil der Behandlung überflüssig gemacht.
Die skelettale Verankerung muss in Fällen eingesetzt werden, in denen eine konventionelle Verankerung keine zufriedenstellenden Ergebnisse garantiert, wie z. B. beim asymmetrischen Lückenschluss, Typ C-Verankerung oder der Molarendistalisation.
Referenzen
1. Cattaneo PM, Treccani M, Carlsson K, Thorgeirsson T, Myrda A, Cevidanes LH, Melsen B: Transversal maxillary dento-alveolar changes in patients treated with active and passive self-ligating brackets: a randomized clinical trial using CBCT-scans and digital models. Orthod Craniofac Res. 2011 Nov; 14(4):222–33.
2. Melsen B, Verna C, Luzi C. Mini-Implants and their clinical application: The Aarhus Expericence – vol 30. Edizioni Martina – 2013 Bologna ISBN 978-88-7572-116-9.