Kieferorthopädie 28.02.2011

„Minischrauben bewegen sich durchaus“



„Minischrauben bewegen sich durchaus“

Zu den Experten weltweit, was den Einsatz kieferorthopädischer Miniimplantate angeht, zählt ohne Zweifel Professor Dr. S. Jay Bowman. KN sprach mit ihm während des AAO-Kongresses in Washington, in dessen Rahmen er Referent eines Kurses zum Thema war.

Sind Sie auch im Jahr 2010 noch ein Fan skelettaler Verankerungen?

Nachdem ich über 1.000 Mini­schrauben gesetzt habe (was in den USA für einen späten Anwender dieser Technik etwas ungewöhnlich ist), bin ich noch immer sehr optimistisch was ihren Einsatz zur Erhöhung der Ef­fektivität und Leistungsfähigkeit der kieferorthopädischen Biomechanik betrifft. Damit meine ich aber auch, dass unser eingangs überschwänglicher Einsatz der Minischrauben in jeder denkbaren Anwendung sich nun auf ein normales Maß einpendeln sollte. Anders gesagt, wir werden jetzt langsam erkennen, bei welchen Anwendungen und Patiententypen Minischrauben die besten Ergebnisse bringen.


Welche Nachteile konnten Sie in Ihrer täglichen Arbeit mit Minischrauben erkennen?

Die primären Nachteile beim Einsatz von Minischrauben in der klinischen Praxis beruhten ursprünglich auf dem Verabreichen der Anästhesie, der Durchführung eines wie auch immer gearteten invasiven Verfahrens und dem Einführen eines neuen Instrumen­tariums und neuer Verfahren in den klinischen Alltag. Seitdem diese Hürden überwunden sind, ist der verfrühte
Verlust der Minischrauben das primäre Dilemma, das viele Kieferorthopäden kapitulieren ließ. Ein gewisser Prozentsatz an Verlusten muss von Anfang an einkalkuliert und mit dem Patienten auch klar kommuniziert werden, sodass später keine Überraschungen auftreten. Dann ist auch ein potenzieller Verlust weniger problematisch. Die Zeit, die für das Einbringen einer Minischraube nötig ist, macht im Vergleich zur erzielten Effektivitätssteigerung der Biomechanik diesen inhärenten Aufwand wett.

Wo liegen Ihre Hauptindikationen?

Als ich mit den Minischrauben anfing, galt mein besonderes Interesse ihrem Einsatz bei der Distalisierung der Molaren und hier speziell der Verwendung mit der Distal Jet-Apparatur. Meine Intention war die Reduzierung der iatrogenen Nebenwirkung des anterioren Verankerungsverlustes (d.h. Protrusion der Frontzähne und Bewegung der Prämolaren). Gemeinsam mit Aldo Carano begann ich ca. fünf Jahre, bevor ich in den USA Zugang zu Minischrauben hatte, an einem Patent für eine modifizierte skelettal verankerte Distal Jet-Apparatur zu arbeiten. Wir erprobten verschiedene Designs (darunter auch eines, das dem von Kinzinger und Mitarbeitern entsprach; wir publizierten dieses Konzept gemeinsam im Journal of Clinical Orthodontics), doch ich kehrte schließlich zum Originaldesign, dem Horse­shoe Jet, zurück. Das ist das wesentlichste Grundkonzept, es beruht auf einer rein ske­lettalen Verankerung und somit kann kein anteriorer Verlust auftreten. Ich denke, dass ich für mich daraus schlussfolgere, meine primäre In­dikation für Minischrauben müss­te die Klasse II-Malokklusion sein. Ich setze Minischrauben bei En masse-Retraktionen, zur Distalisierung von Molaren, zur Retraktion nach Extraktionen, zur Kontrolle der vertikalen Dimension (z.B. Molarenintrusion, Schneidezahnextrusion), zur Protraktion von unteren Molaren und auch als Hilfsmittel zur Reduzierung des iatro­genen labialen Tippings der unteren Frontzähne bei festen funktionellen Apparaturen ein.

Welche Schraubenlänge, welchen Durchmesser und Schraubenkopf setzen Sie am häufigsten ein?

Die überwiegende Anzahl der von uns eingesetzten Schrauben ist 6mm lang und misst 1,3 bis 1,5mm im Durchmesser. Vor etwa einem Jahr habe ich mit Axel Bumann darüber diskutiert und wir kamen zu dem Schluss, dass die Länge der Schraube offenbar keinen Einfluss auf die Verlustrate hat und damit die 6-mm-Schraube für die meisten Anwendungen perfekt geeignet ist. Ich habe auch eine Auswahl von 7 bis 8mm langen Schrauben und solche mit 2mm Durchmesser für palatinale Anwendungen, mit denen sich das auf­tretende palatinale Tipping re­duzieren lässt. Vielleicht ist es interessant zu wissen, dass auch Minischrauben scheinbar keine „absolute“ Veran­kerung bieten und sich durchaus auch bewegen; sie neigen sich. Es wäre also vermessen, von ihnen die Eigenschaften eines Bjork-Implantats zu erwarten.
Ich möchte auch erwähnen, dass „Wurzelnähe“ zwar eine der häufigsten Ursachen für vorzeitige Lockerung zu sein scheint, aber auch die biolo­gischen Reaktionen von Wurzelbewegungen und Kontakten mit Schrauben unterschiedlich ausfallen können. Wird eine Schraube sehr nahe dem oder in das Desmodont inseriert, dann ist der Verlust meiner Ansicht nach vorprogrammiert. Wird jedoch eine Wurzel bewegt und berührt dabei eine Schraube, bleibt die Verankerung oftmals erfolgreich erhalten.
Die Auswahl der Kopfform einer Schraube richtet sich nach dem Einsatzzweck. Wenn nur direkte Kräfte aufgebracht werden sollen (Zug oder Druck), kann wahrscheinlich jede beliebige Kopfform verwendet werden. Manche Schrauben verfügen jedoch über spezielle Eigenschaften, die besondere Einsatzgebiete ermöglichen. Sollen indirekte Kräfte aufgebracht werden, dann ist ein Kopf mit einem Schlitz oder einem Kreuzschlitz zu empfehlen. Segmente eines quadratischen oder rechteckigen Drahtes können dann so befestigt werden, dass die beabsichtigte Biomechanik entsteht.

Welche Region halten Sie für die erfolgreichste Implantationsstelle?

Am häufigsten setze ich die Schrauben im bukkalen Al­veolus an der mukogingivalen Grenze zwischen dem ersten Molaren und dem zweiten Prämolaren in allen vier Quadranten ein. Daneben habe ich herausgefunden, dass der palatinale Alveolus zwischen dem maxillären ersten Molaren und dem zweiten Prämolaren ein idealer Implantationsort sowohl für die Dis­talisierung von Molaren als auch für die Protrahierung der maxillären Dentition ist. Da ich Überraschungen nicht mag (und die meisten Patienten auch nicht), sage ich gleich, dass mit einem Verlust von 20% der implantierten Schrauben zu rechnen ist und diese Verluste am häufigsten bei Schrauben auftreten, die zwischen dem unteren rechten ersten Molaren und dem zweiten Prämolaren inseriert werden. Diese Zahlen basieren auf einer koreanischen Studie und decken sich mit meinen klinischen Erfahrungen. Stärkeres Kauen und kräftigeres Putzen wären die einzigen rationalen Erklärungen für dieses Phänomen.

Setzen Sie die Schrauben selbst? Was empfehlen Sie Einsteigern?

Ursprünglich haben ein Pa­rodontologe und ein Facharzt für Mund- und Kieferchirurgie die Schrauben eingesetzt, als ich mit der Biomechanik begann, und ich wollte nicht gerade die Lernkurve für meine Untersuchungen nutzen. Nachdem ich die ersten 100 Schrauben inseriert hatte, wurde mir klar, dass ich die Schrauben selbst setzen muss, um sicherzugehen, dass sie genau dort eingebracht wurden, wo ich es wollte. Außerdem waren die zusätzlichen Kosten, die Zeit, die Frustration der Patienten über den Besuch zusätzlicher Praxen zum Inserieren oder Ersetzen verloren gegangener Schrauben problematisch. Wie viele andere Kieferorthopäden in den USA hatte ich lange Zeit (25 Jahre) keine Spritze mehr angefasst, doch das wurde schnell Routine und Teil meiner täglichen Arbeit.
Ich empfehle Einsteigern mit einem Interesse für Minischrauben zunächst die wirklich notwendige sorgfältige Unterweisung in Hands-on-Kursen verschiedener Dozenten, die auch mit unterschiedlichen Schraubensystemen arbeiten. Ich würde mir zusätzlich eine Auswahl von Lehrbüchern zu Minischraubenimplantaten kaufen. Die Arten der Mechanik und die Anwendungen differieren in Abhängigkeit von der Nationalität der einzelnen Autoren stark. So arbeiten z.B. meine deutschen Kollegen Ludwig, Wilmes und Bumann eher mit segmentalen und indirekten Mechanismen, während Lin und Liou aus Taiwan und viele koreanische Kollegen, wie Hee-Moon Kyung, durchgehende Bogenmechanismen und direkte Kräfte bevorzugen. Nachdem die erforder­liche Ausbildung absolviert ist, empfehle ich den Besuch einer Praxis, in der routinemäßig Minischrauben eingesetzt werden. Dabei sollten zwei Mitarbeiter des eigenen Praxispersonals anwesend sein, denn gerade das Praxispersonal steht solchen Verfahren oft skeptisch gegen­über und muss sich erst einmal sicherfühlen, um auch mit den Patienten entsprechend kommunizieren zu können. Zudem müssen die Praxismitarbeiter den klinischen Arbeitsablauf und die Handhabung des Instrumentariums kennenlernen.

Sie sind ein Meinungsmacher für die skelettale Veran­kerung. Wie sehen Sie den anderen großen kieferortho­pädischen Trend, die „selbst­ligierenden“ Brackets? Ist Ihr eindrucksvolles Butterfly-Bracketsystem auch in Deutschland erhältlich?

Der Präsident der American Orthodontics bat mich, bei der Entwicklung eines neuen Low-Profile-Brackets mit vertikalem Slot (für die Befestigung von Zusatzelementen, die ich später kreierte) zu assistieren. Ziel dieses Projektes war die Herstellung eines sehr komfortablen wie ästhetischen Brackets ohne Haken, das eine verbesserte Mundhygiene ermöglicht. Zusätzliche „t-Pins“ können angebracht werden, wann und wo immer Gummizüge nötig sind, um der Unsicherheit der Patienten beim Befestigen der eigenen Gummizüge zu begegnen. Daneben musste ich weitere Vorgaben des American Board of Orthodontics (ABO) berücksichtigen.
Durch das ABO wurde eine Liste von Problemen erar­beitet, die all jene Schwierigkeiten enthielt, die bei der Un­tersuchung von nicht erfolgreichen Fallberichten auf­­getreten waren. Wenn diese Themen tägliche Probleme der „Besten“ waren, dann ge­he ich davon aus, dass sie für die Mehrheit aller klinisch tätigen Kollegen noch bekanntere Problemfelder waren. Aus der Überarbeitung dieser speziellen Problemfelder und meinem persönlichen Anspruch an Ästhetik und Okklusion entstand das Butterfly-System. Nachdem selbstligierende Brackets Trend geworden waren, fühlten sich die Anwender vieler „high friction/high force Twin-Brackets“ auf einmal rückständig. Um das Konzept adäquat kritisieren zu können, habe ich mit sechs verschiedenen SL-Systemen jeweils 30 bis 40 Patienten behandelt und alle funktionierten gut genug, wobei einige leichter und manche weniger leicht zu handhaben waren. Signifikante Vorteile oder gar „Magie“ konnte ich nicht entdecken. Auch die Literatur spiegelt diese Beo­b­achtung wider. Mit anderen Worten, die extravaganten Marketingversprechen sind eher Wunschdenken als biologische Erleuchtungen.
Also haben wir uns einfach auf das altbewährte, komfortable, ästhetische Bracket besonnen, bei dem die Patienten aus einer farbenfrohen Auswahl von Gummis lustvoll wählen können und das eine traditionelle, langzeiterprobte Biomechanik verspricht. Die Entscheidung, selbstligierend oder zu ligieren, wird wahrscheinlich eher eine Entscheidung des prak­tischen Managements (lassen sich damit ein paar Minuten Chairtime sparen) als ein biologischer Imperativ werden. Wer gern mit SL-Brackets arbeitet, soll dies tun. Persönliche Präferenzen sollten kein Thema sein. Es ist jedoch ein Thema, wenn Marketing und Promotion für ein System zur Unterscheidung der praktischen Arbeit Kollegen diffamieren. Dann haben wir ein wirkliches ästhetisches Dilemma und auch dem Patienten, der eine informationsbasierte Entscheidung treffen will, ist damit nicht gedient.
Das Butterfly-System wird vertrieben über American Orthodontics Sheboygan, WI/USA, (Ver­trieb Deutschland unter Ame­rican Orthodontics GmbH in Lemgo, www.americanortho.de, Anm. d. Red.) und wurde in dem Artikel Bowman, S. J.: The Butterfly System, Journal of Clinical Orthodontics, May 2004, vorgestellt.


Mehr Fachartikel aus Kieferorthopädie

ePaper