Kieferorthopädie 12.12.2022

Die Nivellierung der Spee-Kurve im Unterkiefer mit der WIN-Apparatur



Die Nivellierung der Spee-Kurve im Unterkiefer mit der WIN-Apparatur

Foto: Prof. Dr. Dr. h.c. Dirk Wiechmann

Eine ausgeprägte Spee-Kurve im Unterkiefer ist häufig mit anderen Leitsymptomen wie beispielsweise einem Tiefbiss oder Distalbiss vergesellschaftet. Da im Normalfall beim Einsatz von festsitzenden kieferorthopädischen Apparaturen die Nivellierung der Spee-Kurve keiner besonderen Mechanik bedarf, wird diesem wichtigen Teil der ersten Behandlungsphase häufig keine größere Bedeutung beigemessen. Erst wenn diese Behandlungsaufgabe nicht ausreichend gelöst wurde, wie z.B. vielfach beim Einsatz herausnehmbarer Schienensysteme, werden die daraus resultierenden Probleme im weiteren Behandlungsverlauf offensichtlich. Besonders problematisch ist eine nicht ausreichend korrigierte ausgeprägte Spee-Kurve im Unterkiefer in der Retentionsphase, wenn der Platz für einen festsitzenden Retainer im Oberkiefer nicht ausreicht. In diesem Beitrag soll die Effizienz vollständig individueller lingualer Apparaturen (VILA) bei der Nivellierung der Spee-Kurve im Unterkiefer überprüft und diskutiert werden.

Warum sind vollständig individuelle linguale Apparaturen so effizient bei der Nivellierung des Unterkiefers?

Nach Palot (2003) und Barthelemi et al. (2014) kommt es bei der Nivellierung der Spee-Kurve im Unterkiefer mit lingualen Apparaturen zu einer Intrusion im Bereich der Unterkieferfrontzähne sowie zur Extrusion im Bereich des unteren zweiten Prämolaren und ersten Molaren. Beide Effekte addieren sich zu einer zuverlässigen Nivellierung der Spee-Kurve im Unterkiefer, wobei der Anteil der Frontzahnintrusion etwa doppelt so groß ist wie der Anteil der Extrusion im Seitenzahnbereich. Dies gilt sowohl für linguale Apparaturen mit einem frontalen Aufbissplateau (z.B. 7th Generation, Ormco, Orange, CA, USA) als auch für Apparaturen mit halben okklusalen Pads im Bereich der zweiten Molaren (VILA).

Begünstigt werden diese Zahnbewegungen bei der WIN-Apparatur (DW Lingual Systems GmbH, Bad Essen) durch die „ribbonwise“ Ausrichtung des Behandlungsbogens, was dazu führt, dass bei den rechteckigen Behandlungsbögen die hohe Kante senkrecht steht. Bei gleicher Bogendimension ergibt sich dadurch eine bessere Kontrolle in der Vertikalen (Abb. 1). Anders als bei vestibulären festsitzenden Apparaturen ist beim Einsatz lingualer Systeme die vertikale Position, vor allem der Schneidekanten der Frontzähne, von der Kontrolle der dritten Ordnung abhängig (Abb. 2). Ein exakter Torque ist dabei von entscheidender Bedeutung. Denn je geringer das Torquespiel ist, desto besser gelingt auch die Kontrolle der vertikalen Dimension. Stamm et al. (2000) haben diesen wichtigen Zusammenhang bereits vor über 20 Jahren beschrieben und damit Bestrebungen in Gang gesetzt, die auf eine reproduzierbare Verringerung des Torquespiels abzielten.

Beim WIN-System werden die Bracketslots in einem separaten Prozess gefräst. Die Genauigkeit der Slotdimension ist nach Al-Qabandi (2013) deshalb mit Toleranzen von maximal bis zu ± 2/1.000 mm außergewöhnlich hoch. Zudem ist aufgrund der für die Bogenherstellung eingesetzten CAD/CAM-Technologie ein präzises Einbringen von Extratorque-Biegungen (13° oder 21°) im anterioren Bereich der rechteckigen Behandlungsbögen möglich (bevorzugt .016'' x .024'' SS). Das Zusammenspiel dieser einzigartigen Merkmale des WIN-Systems ermöglicht dem Behandler eine erfolgreiche und reproduzierbare Nivellierung der Spee- Kurve im Unterkiefer ohne zusätzliche Hilfsmittel.

Die Abbildungen 3 bis 5 zeigen drei klinische Beispiele mit unterschiedlicher Ausgangslage. Während bei der Patientin aus Abbildung 3 die Ausrichtung des Behandlungsbogens in „ribbonwise“ Richtung für die körperliche Intrusion der Unterkieferfrontzähne hilfreich war, ist bei der Patientin aus Abbildung 4 eher die Kontrolle der dritten Ordnung mit kontrollierten Torquebewegungen der Unterkieferfrontzähne ein wesentlicher Beitrag zur gelungenen Nivellierung. Beim jugendlichen Patienten aus Abbildung 5 hat sich die Ausgangslage durch die funktionskieferorthopädische Vorbehandlung deutlich verbessert. Dadurch konnte die Dauer der festsitzenden Behandlung erheblich reduziert werden.

Untersuchung der Zuverlässigkeit der WIN-Apparatur bei der Nivellierung der Spee-Kurve im Unterkiefer

Die im Rahmen eines internationalen Masterprogramms (MSc. in Lingual Orthodontics) an der Medizinischen Hochschule Hannover durchgeführte Untersuchung wurde 2019 als Masterthese publiziert (Sohani 2019). Nachuntersucht wurden 29 Patienten mit Klasse II/2-Malokklusion, die nach der Behandlung mit einer VILA konsekutiv entbrackettiert worden waren (Alouini et al. 2020).

Um die Ergebnisse im Hinblick auf die erzielte Intrusion im Bereich der Unterkieferfrontzähne mit der aktuellen Literatur vergleichen zu können, wurde die Methode von Kravitz et al. (2009) übernommen (Abb. 6). Hierbei wurden Gipsmodelle des Unterkiefers zu Behandlungsbeginn (T0) und zu Behandlungsende (T1) sowie das individuell definierte Behandlungsziel (Set-up) eingescannt und im Bereich der Seitenzähne nach dem „Best Fit“-Prinzip überlagert. Anschließend wurde die vertikale Differenz im Bereich der Schneidekanten der unteren vier Schneidezähne von T0 zu T1 (erzielte Intrusion) sowie von T0 zu Set-up (geplante Intrusion) gemessen. Im Durchschnitt kam es dabei zu einer Intrusion von 2,5 mm, wobei die maximal erzielte Intrusion 5,7 mm betrug.

Die Behandlungsplanung konnte in jedem Fall umgesetzt werden. Aufgrund der individuellen klinischen Entscheidung des jeweiligen Behandlers, bei der Feineinstellung in einigen Fällen einen Unterkiefer-Stahlbogen mit 13° oder 21° Extratorque einzusetzen, wurde die geplante durchschnittliche Intrusion von 2,48 mm sogar leicht übertroffen (die erzielte Intrusion entsprach 102,4 Prozent der geplanten Intrusion). Wie die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen, ist eine erfolgreiche Intrusion im Bereich der Unterkieferfrontzähne mit der vollständig individuellen lingualen Apparatur WIN zuverlässig möglich, auch wenn in der Planung mehrere Millimeter Frontzahnintrusion vorgesehen sind.

Diskussion

Es besteht Einigkeit in der Literatur, dass die Nivellierung einer Spee-Kurve im Unterkiefer mit festsitzenden kieferorthopädischen Apparaturen auch ohne die Mitarbeit des Patienten zuverlässig gelingt. Beim Einsatz einer diskutablen ästhetischen Alternative, den durchsichtigen Schienensystemen, wird deren Wirksamkeit und/oder Effizienz in vergleichbaren Untersuchungen mehrheitlich angezweifelt (Kravitz et al. 2009, Krieger et al. 2012, Khosravi et al. 2017, Galan-Lopez et al. 2019, Haouili et al. 2020, Blundell et al. 2021). Vereinzelt, wie zum Beispiel bei Rossini et al. (2015), wird den durchsichtigen Schienensystemen aber auch eine Effizienz bei der Frontzahnintrusion bescheinigt. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es sich bei der Arbeit von Rossini et al. nicht um die Ergebnisse einer eigenen Untersuchung handelt, sondern im Zuge einer Übersichtsarbeit die Ergebnisse fremder Studien zusammengefasst wurden. In dieser Arbeit von Rossini et al. wird als alleinige Quelle zum Beleg für die Effizienz von Schienensystemen bei der Frontzahnintrusion die oben bereits zitierte Untersuchung von Kravitz et al. angeführt. Bei den Untersuchungen von Kravitz et al. war es allerdings nur zu einer durchschnittlichen Frontzahnintrusion im Unterkiefer von ca. 0,3 mm gekommen – ein bemerkenswerter Widerspruch.

Eine neue iatrogene Malokklusion

Im klinischen Alltag begegnen uns heute immer häufiger Patienten mit Tiefbiss, bei denen es im Zuge einer Behandlung mit durchsichtigen Schienensystemen zu einer Bissöffnung im Seitenzahnbereich gekommen ist. Es imponiert somit eine ungewöhnliche Malokklusion mit frontalem Tiefbiss bei gleichzeitig seitlich offenem Biss. Die Brisanz dieser ungünstigen okklusalen Verhältnisse mit Blick auf das Kiefergelenk und dessen Funktion ist allgemein bekannt. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass bei den meisten dieser Patienten zu Behandlungsbeginn kein nennenswertes Engstandsproblem im Bereich der Unterkieferfront bestand. Die Korrektur eines so entstandenen seitlich offenen Bisses ist auch mit festsitzenden Apparaturen nicht immer einfach, insbesondere wenn sich die Zungenfunktion an den seitlich offenen Biss adaptiert hat. Die Abbildungen 7 und 8 zeigen derartige Beispiele.

Zusammenfassung

Die zuverlässige Nivellierung einer ausgeprägten Spee-Kurve im Unterkiefer ist eine wesentliche Voraussetzung für ein qualitativ hochwertiges Behandlungsergebnis sowie eine weitestgehend komplikationslose Retentionsphase. Bei Fällen mit Tiefbiss muss die Spee-Kurve im Unterkiefer im Regelfall deutlich mehr als 2 mm nivelliert werden. Mit vollständig individuellen lingualen Apparaturen kann diese Nivellierung effizient und zuverlässig ohne den Einsatz zusätzlicher Hilfsmittel umgesetzt werden. Die Effizienz durchsichtiger Schienensysteme bei der Nivellierung der Spee-Kurve im Unterkiefer ist unklar.

Literatur

Dieser Beitrag ist in den KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.

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