Kieferorthopädie 16.05.2022

Kieferorthopädischer Lückenschluss bei Nichtanlagen und Zahnverlust



Kieferorthopädischer Lückenschluss bei Nichtanlagen und Zahnverlust

Foto: Prof. Dr. Dr. h.c. Dirk Wiechmann

Originaltitel „Kieferorthopädischer Lückenschluss als Methode der Wahl bei Nichtanlagen und Zahnverlust”

Die Möglichkeiten des kieferorthopädischen Lückenschlusses von distal im Oberkiefer sind ähnlich weitreichend wie im Unterkiefer (Teil 1). Bei nachgewiesener Weisheitszahnanlage sollte dieser kieferorthopädische Ansatz immer als eine differenzialtherapeutische Variante mitberücksichtigt werden. In diesem Beitrag werden kieferorthopädische Lösungen bei häufig vorkommenden klinischen Situationen vorgestellt und diskutiert.

Teil 2: Lückenschluss im Oberkieferseitenzahnbereich

Im Gegensatz zum Lückenschluss im Unterkiefer, der im Regelfall nur sinnvoll ist, wenn in dem jeweiligen Quadranten eine Weisheitszahnanlage vorhanden ist, kann ein Lückenschluss bei fehlenden Schneidezähnen oder Prämolaren im Oberkiefer im Einzelfall auch bei nicht angelegtem Weisheitszahn eine gute Lösung sein, da somit der zweite Molar im Gegenkiefer nicht antagonistenlos wird. Bei fehlendem ersten Molaren und nicht angelegtem Weisheitszahn macht die Mesialisierung des zweiten Molaren im Oberkiefer im Regelfall allerdings keinen Sinn, da dies zu einer wesentlichen Verkürzung der Zahnreihe führen würde. Im Unterkiefer wird ein Lückenschluss von distal mit lingualen Apparaturen im Regelfall durch den gleichzeitigen Einsatz einer Herbst-Apparatur unterstützt (Klang et al. 2018). Bei kleineren Mesialisierungsstrecken und kooperativen Patienten kann auch der Einsatz intermaxillärer Klasse II-Gummizüge einen Lückenschluss von distal ermöglichen. Im Gegensatz dazu wird für einen effizienten und komplikationslosen Lückenschluss von distal im Oberkiefer neben Klasse III-Gummizügen auch eine skelettale Verankerung eingesetzt. Diese kann mittels interradikulärer oder mittig palatinaler Minischrauben erfolgen. Bei interradikulär gesetzten Minischrauben entfällt die in einigen Fällen relativ auf wendige Suprakonstruktion (Berens et al. 2006, Wiechmann et al. 2007).

Lückenschluss von distal nach Verlust des ersten Molaren im Oberkiefer mit skelettaler Verankerung und direkter Mechanik

Bei nachgewiesener Weisheitszahnanlage im betreffenden Quadranten ist der kieferorthopädische Lückenschluss nach dem Verlust des ersten oberen Molaren die Differenzialtherapie, die einer „Restitutio ad Integrum“ am nächsten kommt. Insbesondere bei jungen Patienten haben alle anderen Möglichkeiten neben einer deutlich höheren Invasivität den Nachteil einer ungünstigeren Langzeitprognose bei gleichzeitig deutlich höheren Kosten. In Fällen mit neutraler Bisslage muss der Lückenschluss ausschließlich von distal erfolgen. Beim Einsatz einer simplen skelettalen Verankerung mit interradikulären Minischrauben und direkter Mechanik verläuft der Lückenschluss von distal zuverlässig ohne relevante mechanotherapeutische Nebenwirkungen und auch ohne zusätzliche Anforderungen an die Mitarbeit des Patienten. Die Minischrauben werden im anterioren Bereich bukkal und palatinal interradikulär inseriert. Der Lückenschluss von distal erfolgt dann mithilfe einer Doppelkabelmechanik. Die Aktivierung sollte 150–200 cN pro Minischraube nicht überschreiten (Büchter et al. 2005 und 2006). Am seitlich geraden Stahlbogen (.016'' x .024'') erfolgt ein kontrollierter körperlicher Lückenschluss.

Klinisches Fallbeispiel 1

Die Abbildungen 1a bis dd zeigen eine jugendliche Patientin mit einer Molaren Inzisiven Hypomineralisation (MIH), die neben den mittleren oberen Schneidezähnen primär die ersten Oberkiefermolaren betraf. Der Zahn 26 war bereits endodontisch versorgt, aber trotzdem nicht beschwerdefrei und musste extrahiert werden. Zudem bestand ein Platzmangel im Ober- und Unterkiefer mit frontal knappem vertikalen Überbiss.

Die kieferorthopädische Behandlung wurde mit einer vollständig individuellen lingualen Apparatur (VILA) durchgeführt, die wegen der zu Beginn bestehenden bilateral neutralen Bisslage mit interradikulären Minischrauben zur Mesialisierung des zweiten Molaren kombiniert wurde. Zur Erhöhung der Verbundfestigkeit wurden die zweiten Molaren im Ober- und Unterkiefer mit einem okklusalen Pad beklebt. Diese werden gegen Ende der Behandlung entweder eingeschliffen oder vorzeitig entfernt, um ein optimales Settling zu er möglichen.

Nach zwanzigmonatiger Behandlungsdauer wurden die Therapieziele vollständig erreicht. Die stabilen und prognostisch günstigen Verhältnisse bei der Retentionskontrolle zwölf Jahre nach Ende der festsitzenden kieferorthopädischen Behandlung unterstreichen die Überlegenheit des Behandlungskonzepts mit kieferorthopädischem Lückenschluss. Weder für die Patientin noch für den Versicherer ist es zu weiteren Folgekosten aufgrund des fehlenden ersten Oberkiefermolaren gekommen. Der Weisheitszahn konnte in dem betreffenden Quadranten belassen werden und komplettierte die Oberkieferzahnreihe.

Lückenschluss von distal bei nicht angelegten zweiten Prämolaren im Oberkiefer

Eine frühzeitige Therapieentscheidung und vorausschauendes Handeln kann bei nicht angelegten zweiten Prämolaren die kieferorthopädische Behandlung deutlich vereinfachen und deren Dauer verkürzen. Insbesondere bei neutraler Bisslage und nachgewiesener Weisheitszahnanlage sollten des halb die zweiten Milchmolaren frühzeitig entfernt werden, um eine Aufwanderung der Molaren zu begünstigen.

Liegt eine moderate distale Bisslage vor, so kann diese Aufwanderung während der funktionskieferorthopädischen Behandlung durch das Einschleifen des okklusalen Reliefs der Molaren in der herausnehmbaren Apparatur begünstigt werden. Strategisch erscheint es bei einem ausgeprägten Distalbiss (volle PB) allerdings günstiger, zunächst die Milchmolaren zu belassen, um bei schlechter Mitarbeit des Patienten die Möglichkeit einer dentoalveolären Kompensation mit Lückenschluss von mesial nicht frühzeitig auszuschließen.

Klinisches Fallbeispiel 2

In den Abbildungen 2a bis w sehen wir eine 14-jährige Patientin mit beidseits nicht angelegten zweiten oberen Prämolaren. Da die zweiten Milchmolaren frühzeitig entfernt wurden, waren die Molaren nach mesial gedriftet, was den Restlückenschluss von distal deutlich vereinfachte. Die wichtigsten Behandlungsaufgaben waren nun die Wurzelaufrichtungen im Bereich der Nichtanlagen, der körperliche Restlückenschluss von distal, die Derotation der Seitenzähne sowie die Einstellung eines korrekten Interinzisalwinkels.

Nach zwanzigmonatiger Behandlungsdauer wurden die Behandlungsziele erreicht. Der Restlückenschluss von distal wurde durch intermaxilläre Klasse III-Gummizüge unterstützt. Die frühzeitige Extraktion der Milchmolaren und die daraus resultierende beidseitige Aufwanderung haben sich sehr günstig auf die Komplexität der Behandlungsaufgaben ausgewirkt. Trotzdem war der Einsatz festsitzender Apparaturen unabdingbar, um die noch notwendigen körperlichen Zahnbewegungen (Translation, palatinaler Wurzeltorque) durchzuführen.

Beidseitiger Lückenschluss von distal mit Minischrauben und direkter Mechanik

Beim Vorliegen einer symmetrischen Neutralbisslage kann eine einfache skelettal getragene Lückenschlussmechanik eingesetzt werden, bei der die Gummiketten direkt am Kopf der Minischrauben befestigt werden. Die Doppelkabelmechanik verhindert Rotationen während der Molarenmesialisierung und ist sowohl effizient als auch wenig störanfällig.

Klinisches Fallbeispiel 3

Im vorliegenden Fall (Abb. 3a–bb) war der Zahn 15 nicht angelegt und der retinierte Zahn 25 wurde chirurgisch entfernt. Alle Weisheitszähne waren röntgenologisch nachweisbar. Weiterhin waren die zweiten Milchmolaren im Oberkiefer offensichtlich ankylosiert. Ankylosierte Milchzähne ohne bleibenden Nachfolger sollten grundsätzlich entfernt werden, um die Ausbildung einer größeren Okklusionsstörung zu verhindern. In diesem Fall ist es aber offensichtlich nicht zu einer iatrogenen Verschlechterung der Seitenzahnokklusion gekommen.

Neben der beidseitigen Molarenmesialisierung war die Überstellung der frontalen Kreuzbisseinzelverzahnung sowie die Mittenkorrektur im Oberkiefer geplant. Zu Beginn des Lückenschlusses von distal am .016'' x .024'' Stahlbogen war der frontale Kreuzbiss bereits überstellt. Die Minischrauben sollten mit ca. 150–200 cN Zugkraft belastet werden.

Nach 24-monatiger Behandlung waren alle Therapieziele erreicht. Der Lückenschluss von distal wurde direkt nach der Entfernung der Minischrauben sporadisch mit intermaxillären Klasse III- Gummizügen unterstützt. Weitergehende Anforderungen an die Mitarbeit des Patienten gab es nicht.

Einseitiger Lückenschluss von distal mit indirekter Mechanik

In einigen Fällen ist zeitgleich mit der Mesialisierung der Oberkiefermolaren der Einsatz von intermaxillären Klasse II-Gummizügen auf der betreffenden Seite notwendig. Würde man in diesen Fällen die oben beschriebene direkte Mechanik einsetzen, hätte dies eine vorhersehbare vorzeitige Lockerung der Minischrauben zur Folge, da der anteriore Block (3-3) durch den Zug der intermaxillären Klasse II-Gummizüge auf diese zubewegt werden würde. Der Kontakt hätte dann die Lockerung der Minischrauben zur Folge. Um dies zu vermeiden, sollte in derartigen Situationen eine indirekte Mechanik eingesetzt werden.

Bei einer indirekten Mechanik werden zwei bukkale Minischrauben jeweils mesial und distal des ersten Prämolaren inseriert. Diese werden dann nach dem Aufrauen der Schraubenköpfe mittels Sandstrahlen über einen individuell adaptierten Teilbogen aus Stahl (.016'' x .022'') mit dem Prämolaren verklebt. Es entsteht eine stabile Einheit, die sowohl den Zugkräften der Mesialisierung als auch denen der intermaxillären Gummizüge standhalten kann. Aufgrund der etwas höheren Gesamtzugkraft sollten in diesen Fällen auch bukkal etwas dickere Schrauben verwendet werden (z.B. Dual Top: 10 mm Länge, 1,6 mm Durchmesser).

Klinisches Fallbeispiel 4

Die Abbildungen 4a bis w zeigen eine 14-jährige Patientin mit einer linksseitigen Klasse II-Verzahnung und Tiefbiss. Die Unterkiefermitte war im Vergleich zur Gesichtsmitte nach linksverschoben, die Oberkiefermitte stimmte mit der Gesichtsmitte überein. Der Zahn 25 war nicht angelegt, der Weisheitszahn im betreffenden Quadranten war röntgenologisch nachweisbar.

Primär geplant waren der Lückenschluss im Oberkiefer von distal durch Mesialisierung der Molaren sowie die Korrektur der Unterkiefermitte mit intermaxillären Klasse II-Gummizügen. In derartigen Fällen ist der Einsatz einer indirekten Mechanik günstig, da aufgrund der stabilen Verblockung keine Zahnbewegungen in Richtung Minischrauben stattfinden können. Zudem wird so der Zug der Klasse II-Gummizüge keinen Einfluss auf die Position der Oberkiefermitte haben.

Zwei Jahre nach Behandlungsbeginn waren alle Therapieziele erreicht und sowohl die Oberkiefermitte als auch die Unterkiefermitte stimmten mit der Gesichtsmitte überein.

Schlussfolgerung

Auch bei Nichtanlagen im Oberkieferseitenzahnbereich ist der kieferorthopädische Lückenschluss in vielen Fällen die Methode der Wahl. Fundierte fachzahnärztliche Kenntnisse sind bei derartigen Behandlungsaufgaben eine unabdingbare Voraussetzung für die im Vergleich zu alternativen zahnärztlichen Konzepten überlegene kieferorthopädische Lösung. Der sachkundig durchgeführte kieferorthopädische Lückenschluss kommt auch bei Nichtanlagen im Oberkieferseitenzahnbereich einer „Restitutioad Integrum“ am nächsten.

Dieser Beitrag erschien in den KN Kieferorthopädischen Nachrichten.

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