Kieferorthopädie 17.10.2024
Lückenschluss im Unterkiefer mit CAD/CAM-Mesialslider und Alignern
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Wie vorhersagbar ist eine körperliche Zahnbewegung mit Alignern?
Als ästhetische Alternative werden heutzutage in zunehmendem Maße Aligner verwendet. Neben der Ästhetik gilt als weiterer Vorteil die geringere Anzahl an Demineralisierungen nach Therapie mit Alignern verglichen mit festsitzenden bukkalen Apparaturen.1 Mittels Alignern können Zähne mit einer hohen Verlässlichkeit gekippt und je nach Zahnform auch derotiert werden.2 Eine begrenzte Wirksamkeit zeigen Aligner jedoch, wenn eine körperliche Zahnbewegung bzw. Wurzelbewegung gewünscht ist, wie es bei einem Lückenschluss, einer transversalen Expansion oder einer Distalisierung der Fall ist.3 In der Literatur lassen sich zwar vereinzelte Artikel finden, die über eine Molarenbewegung von bis zu 2,5 mm berichten, als nachteilig werden jedoch die eher kippenden Bewegungen sowie eine sehr lange Behandlungsdauer genannt.4–6 Um die körperliche Bewegung von Molaren mit einer höheren Verlässlichkeit und Geschwindigkeit zu erreichen, gibt es die Möglichkeit, die Effektivität der Aligner-Therapie durch skelettal verankerte Slider zu unterstützen.
Lückenschluss mit dem Mesialslider
Der Oberkiefer-Mesialslider hat sich in den letzten Jahren aufgrund der Möglichkeit zur Nutzung von Miniimplantaten im anterioren Gaumen etabliert.7, 8 In diesem Artikel wird nun der Einsatz eines Mesialsliders im Unterkiefer dargestellt. Unter den skelettalen Verankerungssystemen stehen heute die orthodontischen Miniimplantate aufgrund ihrer vielseitigen Einsatzmöglichkeiten, ihrer geringen Invasivität und der relativ geringen Kosten im Vordergrund.9-14 Zu beachten gilt jedoch, dass bukkale (interradikuläre) Miniimplantate bei Kindern aufgrund der geringen Mineralisationsdichte des alveolären Knochens eine erhöhte Verlustrate aufweisen. In unserer Klinik gilt daher die Regel, dass bei Kindern unter 14 Jahren bukkale Miniimplantate nicht inseriert werden. Ist dennoch eine skelettale Verankerung im Unterkiefer notwendig, kann eine Mentoplate für die Klasse III-Therapie oder den Lückenschluss eingesetzt werden.
Mesialslider und digitaler Workflow
Mittels eines digitalen Workflows können Miniimplantat-getragene Geräte heutzutage im 3D-Metall-Druckverfahren hergestellt werden.15, 16 Werden zusätzlich noch Insertionsguides verwendet, können Miniimplantate und Slider in nur einer Sitzung eingesetzt werden (One-Appointment Protokoll).
„Es hat sich klinisch herausgestellt, dass die Insertion mit Guide bei bukkalen Miniimplantaten aufgrund der schrägen Insertion und der Gefahr des Abrutschens am Alveolarknochen nicht praktikabel ist. Daher favorisieren wir bei bukkalen Miniimplantaten die Freihandinsertion mit anschließendem Scan.“
Als Alternative können die Miniimplantate auch entweder frei Hand oder mit Guide eingesetzt werden und das Einsetzen des Gerätes erfolgt nach dem Scan in einem zweiten Termin (Two-Appointments Protokoll). Es hat sich klinisch herausgestellt, dass die Insertion mit Guide bei bukkalen Miniimplantaten aufgrund der schrägen Insertion und der Gefahr des Abrutschens am Alveolarknochen nicht praktikabel ist. Daher favorisieren wir bei bukkalen Miniimplantaten die Freihandinsertion mit anschließendem Scan.
Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH)
Die MIH (Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation) erfuhr in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit. Sie betrifft vor allem die bleibenden ersten Molaren und häufig auch die Inzisiven. Charakteristisch für die MIH sind weiße, gelbe oder braune Flecken auf den betroffenen Zähnen, die durch eine fehlerhafte Mineralisierung des Zahnschmelzes entstehen.17 Diese Störung führt dazu, dass der Zahnschmelz weicher und poröser ist als normalerweise. Das macht die betroffenen Zähne anfälliger für Karies und andere Zahnschäden. Kinder leiden oft unter Schmerzen oder Empfindlichkeiten, insbesondere beim Essen oder Zähneputzen. Die genaue Ursache der MIH ist noch nicht vollständig geklärt, aber man vermutet, dass verschiedene Umweltfaktoren, Krankheiten oder die Einnahme von Medikamenten während der Schwangerschaft und frühen Kindheit eine Rolle spielen könnten. Die Behandlung der MIH hängt vom Schweregrad der Erkrankung ab. In leichten Fällen kann eine Fluoridbehandlung oder Versiegelung der Zähne helfen. In schwereren Fällen können Kronen bzw. die Extraktion der betroffenen Zähne notwendig sein.18 Da die MIH weltweit zunehmend häufiger auftritt, wird intensiv an der Erforschung der Ursachen und besseren Behandlungsmöglichkeiten gearbeitet. In ausgeprägten Fällen einer MIH erscheint insbesondere bei jugendlichen Patienten sowie vorhandenen Weisheitszähnen der kieferorthopädische Lückenschluss vorteilhaft.18 Vorhandene Weisheitszähne driften dann nach Mesialisierung der zweiten Molaren aufgrund der interdentalen Fasern mit nach mesial und finden auf diese Weise in der Regel ausreichend Platz im Zahnbogen. Auf diese Weise kann eine Weisheitszahnoperation oft vermieden werden.
Patientenbeispiel
Die Kombination von Unterkiefer-Mesialslider und Alignern wird anhand eines zwölfjährigen Patienten mit einer MIH unter Beteiligung aller ersten Molaren dargestellt (Abb. 1a–g). Wunsch der Eltern und des Hauszahnarztes war die Extraktion aller 6er mit anschließendem Lückenschuss der zweiten und dritten Molaren nach mesial. Aufgrund der vorhandenen Klasse I-Verzahnung und des nicht vorhandenen Frontengstandes bzw. einer Frontprotrusion sollte eine reine Mesialisierung der zweiten und dritten Molaren mit maximaler Verankerung erfolgen. Der Patient und die Eltern wünschten eine ästhetisch möglichst wenig beeinträchtigende Behandlung mittels Aligner-Schienen. Die Eltern wurden darüber aufgeklärt, dass der Einsatz eines Sliders im Unterkiefer erst in zwei Jahren erfolgen sollte, um eine ausreichende Stabilität der bukkalen Miniimplantate zu erreichen. Als erste Maßnahmen wurden bei den unteren ersten Molaren eine Hemisektion der distalen Anteile sowie die Extraktion der ersten oberen Molaren durchgeführt. Wenn die oberen zweiten Molaren noch nicht durchgebrochen sind, gibt es eine gute Chance, dass sie nach Extraktion der ersten Molaren ohne ausgeprägte Kippungen nach mesial shiften. Im Unterkiefer ist es hingegen meistens so, dass die zweiten Molaren nach Extraktion der ersten Molaren nach mesial kippen. Mit einer spontanen Einstellung der zweiten Molaren im Unterkiefer ist nicht zu rechnen. Im Alter von 14 Jahren wurde daher ein Mesialslider avisiert und zwei Miniimplantate (2 x 9 mm, Benefit, PSM) interradikulär zwischen den Eckzähnen und den ersten Prämolaren eingesetzt (Abb. 2a–f). Es empfiehlt sich, bukkale Miniimplantate schräg nach unten anguliert im Bereich der Mukogingivalgrenze einzusetzen. Nach Insertion der Miniimplantate wurde die Unterkieferdentition samt Vestibulum mittels eines Intraoralscanners (Trios, 3Shape) digitalisiert und der Slider mittels Software designt (TADMAN; Abb. 3a–c). Die Verwendung von sogenannten Scanbodys ist dabei nicht mehr notwendig. Der Mesialslider bestand aus einem rechteckigen Slidersteg (1,2 x 1,4 mm) und aus digital designten Tubes, die im dargestellten Fall an den zweiten Molaren befestigt werden sollten. Die Shells wurden mit einem Abstand von 0,05 mm zwischen Metall- und Zahnoberfläche designt, um Platz für die Kunststoff-Klebeverbindung zu haben. Der im 3D-Design entworfene Mesialslider wurde anschließend durch selektives Lasersintering materialisiert. Im Anschluss wurde der Mesialslider mit Deckschrauben an den Miniimplantaten befestigt und die Shells und Tubes adhäsiv mit Transbond (3M Unitek) an den Zähnen angebracht. Die Apparatur wurde anschließend mit elastischen Ketten aktiviert (Abb. 4). Nach vier Monaten stießen die zweiten unteren Molaren an die mesialen Anteile der ersten unteren Molaren (Abb. 5b), sodass diese auch entfernt wurden (Abb. 5c).
„Die genaue Ursache der MIH ist noch nicht vollständig geklärt, aber man vermutet, dass verschiedene Umweltfaktoren, Krankheiten oder die Einnahme von Medikamenten während der Schwangerschaft und frühen Kindheit eine Rolle spielen könnten.“
Nach weiteren acht Monaten waren die Lücken geschlossen, der Slider wurde entfernt und ein Scan für das Finishing mit Alignern angefertigt (Abb. 5d). Bis zum Einsetzen der Aligner (Abb. 6) diente eine Tiefziehschiene der temporären Retention. Nach 17 Monaten konnte die Behandlung erfolgreich abgeschlossen werden (Abb. 7a–k).
Diskussion
Eine MIH stellt den Zahnarzt insbesondere bei einer ausgeprägten Form vor eine Herausforderung, da sowohl die konservierende Versorgung als auch eine Extraktion jeweils Vor- und Nachteile mit sich bringen.17 Der Vorteil der Extraktion und des Lückenschlusses ist, dass die Probleme und Konsequenzen einer MIH vollständig mit der Extraktion eliminiert werden können. Zudem können vorhandene Weisheitszähne nach Mesialisierung der Molaren aufgrund der interdentalen Fasern mit nach mesial driften und auf diese Weise ausreichend Platz im Zahnbogen finden. Eine Weisheitszahnoperation entfällt also nach Extraktion der ersten Molaren mit erfolgreichem Lückenschluss nach mesial. Nachteilig ist jedoch, dass der kieferorthopädische Lückenschluss nach Extraktion recht lange dauern kann. Wenn kein ausgeprägter Frontengstand vorliegt, ergibt sich zudem in der Regel eine hohe Anforderung an die Verankerung, um eine Retrusion der Front zu vermeiden. Mittels des Mesialsliders kann heute ein Verankerungverlust vermieden werden. Zudem werden die Molaren körperlich bewegt, was insbesondere bei gewünschter Aligner-Therapie essenziell ist. Werden nur Aligner eingesetzt, neigen insbesondere Molaren zu einer ausgeprägten Kippung bei einem gewünschten Lückenschluss.2
Grundsätzlich betrachtet ist sowohl das zweiphasige Vorgehen (erst Lückenschluss mit Mesialslider, dann Finishing mit Alignern) als auch das simultane Vorgehen (gleichzeitig Lückenschluss und Nivellierung mittels Alignern) möglich. Es hat sich herausgestellt, dass beim Lückenschluss das zweiphasige Vorgehen empfehlenswert ist, da Slider- und Aligner-Bewegungen bei diesem Vorgehen nicht synchronisiert werden müssen. Der digitale Workflow mit einem CAD/CAM Gerätedesign konnte in den letzten Jahren auch für die kieferorthopädischen Apparaturen implementiert werden.15, 19 Miniimplantat-Suprakonstruktionen (in diesem Artikel Mesialslider) können nun noch individueller gestaltet und perfekt angepasst werden. Schon jetzt ist offensichtlich, dass die neuen Workflows und Gerätedesigns erhebliche Vorteile für die klinische Anwendung bringen.
14. Benefit User Meeting am 16. und 17. Mai 2025
Die Verankerung im Unterkiefer ist eines der Hauptthemen beim nächsten Benefit User Meeting. Dank des anterioren Gaumens sind Oberkiefer-Slider heute der Standard für eine effektive Distalisierung und den Lückenschluss. Da es jedoch im Unterkiefer keinen Gaumen gibt, werden bei diesem Meeting von den Experten ein Update zu Mentoplate sowie bukkalen Miniimplantaten gezeigt und mit den Teilnehmern die Indikationen sowie die Vor- und Nachteile der jeweiligen Lösungen diskutiert.
Eine Literaturliste steht Ihnen hier zum Download zur Verfügung.
Dieser Beitrag ist in den KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.