Oralchirurgie 12.09.2024

Präemptive Analgesie in der Zahnmedizin – wo stehen wir heute?



Präemptive Analgesie in der Zahnmedizin – wo stehen wir heute?

Foto: Dr. Dr. Diana Heimes

Was macht einen guten Zahnarzt aus? Überraschenderweise beantworten viele Patienten diese Frage nicht mit der Qualifikation des Behandlers; vielmehr spielen soziale Fähigkeiten und eine schmerzarme Therapie die entscheidende Rolle. Und damit steht die Analgesie nicht nur als medizinischer Service, sondern auch als persönliches Erfolgskonzept im Zentrum der zahnärztlichen Behandlung. Die Anwendung der präemptiven Analgesie erlaubt durch die Gabe von Analgetika bereits vor dem chirurgischen Eingriff eine Reduktion postoperativer Schmerzen.

Historie

Das Konzept der präemptiven Analgesie wurde erstmals durch den amerikanischen Chirurgen George Washington Crile beschrieben. Er stellte die Hypothese auf, dass akute und lang anhaltende postoperative Schmerzen durch das Ausmaß des operativen Gewebeschadens beeinflusst werden und eine dauerhafte zentrale Übersensibilität hervorrufen können. Um diesen Mechanismus zu durchbrechen, empfahl Crile eine Kombination aus Opioiden, Regionalanästhesie und Vollnarkose, ein Konzept, das später als „balancierte Anästhesie“ bekannt wurde.1

Abb. 1: Digitale Volumentomografie zur präoperativen Planung der Osteotomie retinierter Weisheitszähne. (© Dr. Dr. Diana Heimes)

Möglichkeiten der Schmerzausschaltung

Dem Zahnarzt stehen verschiedene Möglichkeiten zur Ausschaltung von Schmerzen zur Verfügung. Die Lokalanästhesie ermöglicht die Hemmung der Informationsweiterleitung am Ort der Schmerzentstehung durch die Blockade spannungsgesteuerter Natriumkanäle.2 Zusätzlich kann die systemische Gabe von Cyclooxygenase-Inhibitoren die Synthese von Prostaglandin H2 hemmen, einem Mediator, der für die periphere Schmerzentstehung verantwortlich ist.2 Opioide wirken, indem sie die zentrale Informationsweiterleitung an spezialisierten Rezeptoren im Rückenmark beeinflussen, während die Vollnarkose das Bewusstsein für die Existenz von Schmerzen grundsätzlich ausschaltet.2

Präemptive Analgesie

Dieser Umstand erklärt den Erfolg der bereits vor über einem Jahrhundert durch Crile beschriebenen „balancierten Anästhesie“. Während durch die Nutzung nur eines Verfahrens lediglich ein Teil der Schmerzachse ausgeschaltet wird, ermöglicht die Kombination verschiedener Verfahren eine deutlich höhere Erfolgsrate und die Vermeidung der gefürchteten Chronifizierung. Zahlreiche Studien haben zudem gezeigt, dass Schmerzen unmittelbar nach der Operation aufgrund des frischen Gewebeschadens am stärksten sind. Die präemptive Analgesie – die Gabe eines Analgetikums bereits vor dem Eingriff – reduziert die inflammatorische Gewebereaktion und ermöglicht so eine Verringerung der intra- und postoperativen Schmerzen.

Aktuelle Studienlage – Weisheitszahnosteotomie

In einer systematischen Literaturübersicht konnten Centira Filho et al. insgesamt 31 Studien identifizieren, die sich der Frage der Wirksamkeit einer präemptiven Gabe von nichtsteroidalen Antiphlogistika (NSAIDs) bei Weisheitszahnosteotomien widmeten (Abb. 1). Hierin zeigte sich, dass die durchschnittliche Schmerzstärke bis sechs Stunden nach der Operation sowie die insgesamt eingenommene Menge Analgetika deutlich reduziert waren.3

Aktuelle Studienlage – Zahnextraktion

Eine erst in diesem Jahr veröffentlichte Arbeit untersuchte die Wirksamkeit der präemptiven Analgesie bei regulären Zahnextraktionen (Abb. 2). Die Gabe von Etoricoxib 90 mg 30 Minuten präoperativ führte hier zu einer Schmerzreduktion um drei von zehn Punkten auf einer visuellen Analogskala über eine Dauer von insgesamt sechs Stunden. Bis zu 24 Stunden postoperativ war eine signifikante Schmerzreduktion zu beobachten.4

Abb. 2: Zahnextraktion. (© Dr. Patrick Beier)

Aktuelle Studienlage – Implantologie

Die Wirksamkeit der präemptiven Analgesie mit 25 mg Dexketoprofen (NSAR) 15 Minuten vor dem Eingriff wurde im Jahr 2018 untersucht. Hier bestätigten sich die bislang vorliegenden Daten zur präemptiven Analgesie in der Zahnmedizin: Direkt postoperativ zeigte sich eine deutlich reduzierte Schmerzstärke in der Therapiegruppe. Komplikationen wie Blutungen, Infektionen, Nekrosen, Sensibilitätsdefizite und gastrointestinale Probleme traten in keiner der beiden Gruppen auf.5 Zwei Jahre später verglich eine brasilianische Arbeitsgruppe die Gabe von 600 mg Ibuprofen eine Stunde vor dem Eingriff mit der Placebotherapie. Es zeigte sich, dass die Gabe von Ibuprofen mit signifikant weniger Schmerzen über 48 Stunden und einer längeren Dauer bis zur Notwendigkeit der Einnahme weiterer Schmerzmittel verbunden war.6 Im Jahr 2021 fasste diese Arbeitsgruppe die aktuelle Evidenz zu dem Thema in einer systematischen Literaturübersicht zusammen. Auf der Basis von vier klinischen Studien konnte festgestellt werden, dass der schmerzlindernde Effekt sechs bis acht Stunden nach dem Eingriff besonders ausgeprägt ist.7

Da bislang nicht geklärt werden konnte, welches Analgetikum sich zur präemptiven Gabe am besten eignet, führten Mattos-Pereira et al. 2023 eine weitere Studie durch, in der sie die Effektivität von 90 mg Etoricoxib, 750 mg Paracetamol, 100 mg Nimesulid (NSAR) und 600 mg Ibuprofen im Hinblick auf das Auftreten, die Dauer und Stärke der postoperativen Schmerzen nach einem implantologischen Eingriff untersuchten (Abb. 3). In dem direkten Vergleich zeigte Paracetamol zwar eine ausreichende postoperative Schmerzreduktion, jedoch einen signifikant schwächeren Effekt als alle anderen Schmerzmittel. Die mit Etoricoxib therapierte Gruppe wies über den Verlauf von 48 Stunden die geringsten Schmerzwerte auf.6

Präemptive Analgesie Plus

Zahlreiche Studien untersuchten die intraoperative Gabe von Dexamethason hinsichtlich vorteilhafter Wirkungen abseits der bereits bekannten Reduktion von Ödemen und Schwellungen. Weitgehend übereinstimmend konnten ein dosisabhängiger analgetischer (ab 8 mg) und antiemetischer Effekt (ab 2 mg) beobachtet werden.8 Demzufolge wird durch die deutsche Leitlinie Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen aus dem Jahr 2021 für intraorale HNO-ärztliche Eingriffe die intraoperative Gabe von Dexamethason im Rahmen eines kombinierten Schmerzkonzepts gemeinsam mit Nichtopioiden, Koanalgetika und ggf. Opioiden empfohlen.8 Diese Empfehlung ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass entsprechend aktueller Studienlage die analgetische Monotherapie aufgrund schwacher und kurz anhaltender Effekte unzureichend ist.8

Da sich diese Empfehlung hauptsächlich auf HNO-ärztliche Therapiemaßnahmen bezieht, wurde im Anschluss eine systematische Literaturübersicht durchgeführt, in der die präemptive Gabe von Dexamethason und Diclofenac vor einer Weisheitszahnentfernung untersucht wurde. Die Prämisse dieser Kombination liegt in der vermuteten synergistischen Wirkung der Medikamente begründet: Während die Absorption von NSAIDs bei einer präemptiven Gabe bereits begonnen hat, therapeutische Blutspiegel erreicht sein sollten und somit die Sekretion von Prostaglandinen und cyclinen bereits primär verringert werden, soll die Gabe von Dexamethason oder anderen Kortikoiden die Entwicklung eines postoperativen Ödems durch die Hemmung der Umwandlung von Phospholipiden in Arachidonsäure A2 und die anschließende Produktion von Entzündungsmediatoren verhindern.9 Schultze-Mosgau und Kollegen untersuchten bereits 1995 die Verwendung von Ibuprofen und Methylprednisolon zur Schmerzlinderung und konnten nachweisen, dass diese Kombination wirksame analgetische und entzündungshemmende Eigenschaften besitzt.10 Unter Auswertung von insgesamt fünf Studien fanden die Autoren der systematischen Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2023 heraus, dass die präoperative kombinierte Gabe von Dexamethason 8 mg und Diclofenac 50 mg sowohl die Stärke der Schmerzen als auch das Ausmaß der postoperativen Schwellung deutlich reduzieren kann.9 Ähnliche Daten existieren auch für die Kombination von Kortikoiden und anderen NSAIDs.11 In einer Arbeit von Moore et al. aus dem Jahr 2005 wurde die Wirkung von 50 mg Rofecoxib alleine, Rofecoxib in Kombination mit 10 mg Dexamethason i. v. oder Dexamethason alleine der Placebotherapie gegenübergestellt. Im Hinblick auf die analgetische Wirkung zeigte sich ein nur schwach ausgeprägter Effekt der alleinigen Steroidtherapie, während sowohl die Zeit bis zu dem Schmerzbeginn nach dem Eingriff als auch die Schmerzstärke insgesamt unter der präemptiven Analgesie mit Rofecoxib deutlich verbessert waren; insbesondere die Stärke der erfassten Schmerzen ließ sich durch die intraoperative Gabe von Dexamethason noch einmal um 40 Prozent reduzieren. Während die analgetische Therapie keinerlei Einfluss auf das Ausmaß der Mundöffnungseinschränkung besaß, zeigte sich unter der Gabe von Dexamethason eine Verbesserung des Trismus um 56 Prozent.12


Info: Die intraoperative Gabe von Dexamethason kann die post operative Schwellung und Mundöffnungseinschränkung reduzieren, wirkt aber alleine nicht ausreichend schmerz stillend. Die Kombination eines NSAID mit Dexamethason ist deutlich effektiver als die analgetische Monotherapie.


 

Rechtliche Neuerungen in Deutschland

Bei dem sogenannten „bestimmungsgemäßen Gebrauch“ von Arzneimitteln handelt es sich um die Nutzung im Rahmen der unter „Indikationen“ festgelegten Umstände, die durch den Hersteller in der Fachinformation (§ 11a AMG) festgelegt wurden. Hier liegt das Haftungsrisiko bei dem Hersteller. Wenn nun Medikamente außerhalb dieses „bestimmungsgemäßen Gebrauchs“ Anwendung finden, sie also außerhalb des eigentlichen Indikationsrahmens genutzt werden, handelt es sich um einen sogenannten „Off-Label“-Gebrauch. Hier liegt das Haftungsrisiko bei dem verordnenden Arzt/Zahnarzt. Da bei den meisten Analgetika die Therapie, aber nicht die Prävention von Schmerzen als Indikation angegeben werden, handelt es sich bei der Anwendung der präemptiven Analgesie somit streng genommen um einen „Off-Label“-Gebrauch. Zwar wurden in vielen Studien keine schwerwiegenden Nebenwirkungen durch die Gabe der präemptiven Analgesie festgestellt, dennoch trägt der verordnende Zahnarzt hier das Haftungsrisiko. Im Rahmen der Therapiefreiheit und gemäß der Garantenstellung nach § 13 StGB ist es jedoch auch die Aufgabe des Zahnarztes, eine möglichst schmerzarme oder sogar schmerzfreie Behandlung sicherzustellen. Dank der Stellungnahme der Expertenkommission der Deutschen Schmerzgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin sowie der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie von 2021 ist dieser Vorbehalt nun glücklicherweise im Sinne von Zahnarzt und Patient geklärt. In dieser Stellungnahme wird klar herausgestellt, dass der perioperative Einsatz, einschließlich der prä- und intraoperativen Gabe von Analgetika, nicht den typischen Kriterien einer „Off-Label“-Nutzung entspricht. Daher lautet die aktuelle Empfehlung, dass bei Operationen mit einem hohen Risiko für starke postoperative Schmerzen und bei geplanter systemischer postoperativer Analgesie Nichtopioid-Analgetika auch prä- und intraoperativ unter Berücksichtigung der Kontraindikationen verabreicht werden können.13Auf der Basis aktueller (gesamtmedizinischer) Daten werden für den präemptiven Einsatz folgende Analgetika empfohlen:

  • Celecoxib 200 mg
  • Diclofenac 50–100 mg
  • Etoricoxib 60–90 mg
  • Ibuprofen 600–800 mg13

Da Celecoxib nicht explizit für den Einsatz in der Zahnmedizin zugelassen ist, kommen vor allem die letzten drei genannten Analgetika in Betracht. Zudem richtet sich die Wahl des Analgetikums nach den spezifischen Vorerkrankungen und Allergien des Patienten. Verabreicht werden sollten die Medikamente entsprechend der zu erwartenden Absorptionszeit ca. 30 bis 60 Minuten vor dem geplanten Eingriff.


Info: Seit 2021 wird die präemptive Analgesie nicht mehr als „Off-Label“-Nutzung angesehen.


 

Zukünftige Trends

Auf der Basis einer aktuellen Umfrage der Universitätsmedizin Mainz, an der insgesamt 230 Zahnärzte teilnahmen, wurde deutlich, dass nur ein geringer Teil (1/3) die präemptive Analgesie als Verfahren zur Schmerztherapie in ihrer Praxis nutzt.14 Zukünftig steht somit die Verbreitung des Verfahrens als inzwischen etablierte und wissenschaftlich fundierte Methode zur postoperativen Schmerzreduktion im Vordergrund. Neben der Analyse des in dieser Indikation effektivsten Arzneimittels ist außerdem die Evaluation einer analog zur intraoperativen Therapie in Vollnarkose balancierten Analgesie von großem Interesse. Die Autoren der deutschen Leitlinie Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen aus dem Jahr 2021 stellen fest, dass in der postoperativen Behandlung von Schmerzen Analgetika aufgrund der begrenzten Wirkung von Monotherapien primär kombiniert (z. B. NSAR + Paracetamol) eingesetzt werden sollten.8 Insofern wäre ein kombinierter Einsatz verschiedener Analgetika gemeinsam mit Kortikosteroiden zur Verbesserung des postoperativen Outcomes grundsätzlich denkbar.

Zusammenfassung

Bei der präemptiven Analgesie handelt es sich um ein inzwischen wissenschaftlich gut fundiertes Verfahren zur Reduktion der intra- und postoperativen Schmerzen. In der Zahnmedizin wurde der Nutzen bereits für die Weisheitszahnosteotomie, die Zahnextraktion und implantologische Eingriffe belegt. Verwendet werden in aller Regel NSAIDs oder selektive COX-2-Hemmer, wobei bislang nicht geklärt ist, welches Analgetikum den stärksten Effekt besitzt. Auf der Grundlage zahlreicher Studien kann zudem die prä- oder intraoperative Gabe von Kortikosteroiden zur Schwellungsreduktion befürwortet werden. Die Kombination beider Verfahren scheint den jeweiligen therapeutischen Effekt zu verstärken.

zur Literaturliste

Dieser Artikel ist im OJ Oralchirurgie Journal erschienen.

Produkte
Mehr Fachartikel aus Oralchirurgie

ePaper