Oralchirurgie 25.02.2013
Krebsfrüherkennung im Bereich von Mundhöhle und Lippen
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Die zunehmende Knappheit der Ressourcen führt dazu, dass der Arzt oder Zahnarzt, der verzweifelt um die Wirtschaftlichkeit seiner Praxisabläufe ringt, immer weniger Zeit erübrigen kann für so banale Dinge wie Zuhören, Hinsehen oder Abtasten. So ist der Kampf für die Früherkennung von Krebserkrankungen gerade im Bereich der Mundhöhle noch härter geworden. Gleichzeitig sind die Krebserkrankungen im Bereich des Mundraums offiziell in der Statistik in die Top Ten der Krebslokalisationen aufgerückt.
Der klassische Risikopatient für eine bösartige Erkrankung von Mundhöhle oder Lippen ist männlich, über 60 Jahre alt, trinkt gern ein bisschen zu viel, raucht seit Jahrzehnten und kennt wichtigere Dinge im Leben als die Mundhygiene. Sein Glück, dass die meisten Ärzte und Zahnärzte bei ihm zwar schnell an ein Karzinom denken, sein Pech, dass man bei ihm dann selten von Früherkennung sprechen kann, weil dieser Patient in der Regel eher lange Zeit indolent ist. Die Früherkennung ist in diesem Bereich aber ganz besonders wichtig, weil es aufgrund der sehr guten Versorgung des Kopf-Hals-Bereichs mit Blutgefäßen und Lymphbahnen schon sehr früh zur Streuung kommt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Lymphknotenmetastase am Hals noch vor dem Primärtumor im Mund gefunden wird, sodass der aufmerksame Arzt oder Zahnarzt auch hier bereits hellhörig werden sollte. Der Primärtumor ist oft noch klein, und er liegt bevorzugt an selten inspizierten Stellen wie unter Zunge, also am Mundboden oder an der Zungenunterseite, an den Gingivarändern lingual, an den Wangeninnenseiten oder der Innenseite der Oberlippe. Auch gehen die Tumoren im Bereich der Mundhöhle oft aus Präkanzerosen hervor, am häufigsten aus Leukoplakien oder Virusdysplasien, oder sie gedeihen auf dem Boden einer primär harmlosen Veränderung wie eines Reizfibroms. Da der Patient und auch der Behandler diese genannten Veränderungen schon länger kennen, verändert sich natürlich auch die Aufmerksamkeitsschwelle und etwaige „Veränderungen der Veränderung“ werden gar nicht oder erst spät registriert.
Systematisches nichtinvasives Vorgehen zur Früherkennung
Bei der Anamnese ist es wichtig, das zuvor angesprochene Risikoprofil im Hinterkopf zu haben, denn „Häufiges ist häufig“, aber dennoch muss die Möglichkeit, dass auch ein Patient oder eine Patientin, der oder die gar nicht ins Profil passt, eine bösartige Erkrankung haben könnte, immer präsent sein. Veränderungen und Verletzungen im Bereich der Schleimhäute sind häufig, und deshalb hat die Natur es so eingerichtet, dass sie schnell und problemlos verheilen. Ist dies nicht der Fall, muss man besonders hingucken. Ein Ulcus, das nicht abheilen will, eine Wunde nach Zahnextraktion, die nicht mehr zugeht, ein ständig rezidivierendes Fibrom oder eine Druckstelle trotz Abschleifens aller Prothesenkanten, chronische Lippen- oder Wangenbissstellen, obwohl sich der Patient keiner schlechten Gewohnheit, keines Habits, bewusst ist, eine scheinbar therapieresistente einseitige Sinusitis maxillaris, die mit keiner Zahnwurzel oder Erkältung mehr in Verbindung zu bringen ist – all diese anamnestischen Besonderheiten sollten Misstrauen wecken. Es folgt die ausführliche Inspektion der Mundhöhle, wobei sich grundsätzlich empfiehlt, nach einem bestimmten Schema vorzugehen. So kommt man zu einer gewissen Routine und kann die verschiedenen Lokalisationen nacheinander abhaken. Am besten ist die Darstellung mithilfe zweier Spiegel. Herausnehmbare Prothesen dürfen natürlich bei der Untersuchung nicht im Mund sein. Als erstes sollten die Lippen oben und unten von außen und innen betrachtet werden, wobei im gleichen Untersuchungsgang auch die Umschlagsfalte des Vestibulums und das Zahnfleisch an den Außenseiten der Alveolarfortsätze mitinspiziert werden kann. Die oft schwer einsehbare Schleimhaut hinter dem letzten Zahn der Zahnreihe darf dabei nicht vergessen werden. Danach folgt die vollständige Darstellung der Wangenschleimhaut, wofür man diese erst rechts, dann links mithilfe der beiden Spiegel vorsichtig aufspannt. Hierbei stellen sich auch die inneren Mundwinkel gut mit dar. Innerhalb der Zahnreihen gibt es im Oberkiefer die Innenseite der Alveolarkämme und den Gaumen (harter Gaumen, weicher Gaumen, Uvula) zu beurteilen. Im Unterkiefer sind es ebenfalls die Alveolarkämme, aber auch der Mundboden und die Zunge. Für die letzten beiden Punkte muss der Patient ein bisschen Zungengymnastik betreiben, die Zunge weit herausstecken, nach vorne für die Zungenoberseite und den Zungengrund, nach rechts und nach links für die Zungenseiten, die Zunge an den Gaumen drücken bei weit offenem Mund für die Beurteilung der Unterseite, des Zungenbändchens und des Mundbodens. Um hier manchen Patienten das Würgegefühl zu nehmen, gibt es die Möglichkeit, die Schleimhäute mit dem Xylocain-Pumpspray zu betäuben.
Auffälligkeiten sollten immer auf ihre Beschaffenheit hin palpiert werden, wenn möglich bimanuell mit Gegenhalt, ob sie sich derb anfühlen oder weich und sich von der Umgebung unterscheiden. Eine kurze Palpation der Hauptlymphknotenstationen des Kopf-Hals-Übergangs und des Halses wäre optimal, denn Ursachen im Bereich von Mund und Speicheldrüsen sind häufig verantwortlich für Schwellungen; die Metastasen von Malignomen finden sich hier zuerst. Hier kann auch der Patient gefragt werden, ob ihm etwas aufgefallen sei.
Weitere Abklärung
Sollte eine Veränderung zunächst nur kontrollbedürftig erscheinen, gilt, dass Zeiten für eine zu erwartende Abheilung oder Verbesserung kurz angesetzt werden sollten, wenn die Möglichkeit einer Malignität besteht, also lieber engmaschig kontrollieren und zügig überweisen als großzügig zuwarten. Für einen selbst zum späteren Vergleich und auch für eine Überweisung ist eine genaue Beschreibung des Befundes sehr wichtig, die Art der Effloreszenz (Makula, Papel, Vesicula, Bulla, Erosion, Ulcus, Rhagade, Atrophie, Narbe), die Färbung und deren Intensität (intensivrot, schwachrot, weißlich, weiß, gräulich etc.), Zahl und genaue Verteilung bei mehreren Veränderungen, spezifische Kennzeichen (netzförmig, gestielt, erhaben), die Größenausdehnung (in mm) sowie der Palpationsbefund der Veränderung selbst und der Lymphknotenstationen. Dabei ist es nicht wichtig, immer genau die richtigen Fachtermini zu beherrschen, sondern die Beschreibung muss (egal ob trocken oder fantasievoll) einfach nachvollziehbar sein. Bewährt hat sich auch die bildgebende Archivierung. Im Zeitalter der Intraoralkameras und günstig gewordenen Spiegelreflexkameras sowie den immer größeren Speichermöglichkeiten ist dies eine gute und sinnvolle Hilfe, die Schleimhautbefund zu archivieren.
Wenn bei der Untersuchung ein Verdacht entstanden ist oder zumindest das Bedürfnis nach einem definitiven Ausschluss eines Malignoms, sollte zeitnah die weitere Abklärung erfolgen. Dabei ist es wichtig, nicht immer sofort zu schneiden. Eine Probeexzision ist schnell gemacht, aber wenn dann nach einem bösartigen Befund mittels CT oder NMR die Ausdehnung eines Tumors geschätzt oder auf verdächtige Lymphknoten hin gestaget werden soll, sind die reaktiven, postoperativen Veränderungen von tumorbedingten nicht sauber abgrenzbar und es muss erst einmal zwei bis drei Wochen gewartet werden, bevor es hier wieder zuverlässige radiologische Informationen gibt. Der für diesen Fall ausgebildete Oralchirurg oder Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurg berücksichtigt, dass bei einem ernsthaften Verdacht auf ein Malignom besser erst zügig radiologisch gestaget und erst danach die Probe entnommen wird. Der persönlich angesprochene Radiologe wird in einem solchen Fall einer kurzfristigen Terminabsprache gegenüber sicher offen sein, schon im Sinne des meist psychisch sehr belasteten Patienten. Die „Probe“ selbst sollte im Optimalfall die verdächtige Veränderung im Ganzen enthalten. Sollte dies nicht möglich sein, ist eine Operation mit Schnellschnitt oder zumindest ein zeitnah kalkuliertes zweizeitiges Vorgehen zu planen, um nicht durch die Operation unnötig Tumorzellen zu streuen. Da ab einem bestimmten Tumorstadium die Problematik der plastischen Defektdeckung und der Notwendigkeit einer Neck dissection hinzu kommen, ist es auf jeden Fall ratsam, auch eine frühzeitige Überweisung zu einem Spezialisten in die Überlegungen miteinzubeziehen. Denn ein anoperierter Tumor ist immer unangenehm zu übernehmen, während es dem Überweiser niemand verübeln wird, wenn das Ergebnis doch zur Freude aller negativ ist.
Autoren: Dr. Dr. Michael Wiesend, Dr. Bettina Hübinger-Wiesend