Parodontologie 28.02.2011

Therapie multipler gingivaler Rezessionen



Therapie multipler gingivaler Rezessionen

Anhand klinischer Beispiele erläutern Dr. med. dent. Petra Hofmänner und Prof. Dr. med. dent. Anton Sculean, Bern, Schweiz, die chirurgische Therapie zur Rezessionsdeckung mittels modifizierter Tunnel-Technik.

Bei vielen, auch bereits bei jungen Erwachsenen, sind die Wurzeloberflächen von einem oder mehreren Zähnen durch eine Verschiebung des Margo gingivae nach apikal der Schmelz-Zement-Grenze exponiert. Röthlisberger et al. konnten in einer Kohorte von 626 Schweizer Rekruten bereits bei 8,7 % der Eckzähne und bei über 17 % der ersten Molaren in der Maxilla Rezessionen von mindestens einem Millimeter messen (Röthlisberger, Kuonen et al. 2007). In einer westeuropäischen, parodontal gut betreuten ­Population wurden bei bis zu 60 % der unter 20-Jährigen und bei mehr als 90 % der über 50-Jährigen Re­zessionen gemessen (Löe, Anerud et al. 1992). Zur Deckung von multiplen ­Rezessionen liegt bisher noch wenig Li­te­ratur vor. In diesem Artikel wird neben der Ätiologie der Re­zessio­nen, der Indikation und der ­Vor­her­sag­barkeit für die Rezessions­­de­ckung die modifizierte Tunneltechnik vorgestellt, bei der das transplantierte Bindegewebe mit koro­nal reponiertem Gewebe gedeckt wird.


Ätiologie der Rezessionen

Rezessionen werden seit dem internationalen Workshop für die Klassifikation der parodontalen Erkrankungen (Armitage 1999) in entwicklungsbedingte oder erworbene Deformationen eingeteilt. Anatomische Gegebenheiten, wie hoch einstrahlende Muskelzüge in der Nähe des Margo gingivae oder eine inadäquate Dicke der bukkalen Knochenplatte, die zu ­Dehiszenzen und Fenestrationen führen, erklären einen Teil der Rezessionen.

Ergebnisse aus wissenschaftlichen Studien haben gezeigt, dass die parodontale Gesundheit un­abhängig von der Ausprägung der Rezession ­erhalten werden kann, wenn eine optimale Plaquekontrolle gesichert ist (Kennedy, Bird et al. 1985). Die Notwendigkeit einer Mindestbreite der befestigten Gingiva zur Erhaltung der parodontalen Gesundheit konnte bisher wissenschaftlich nicht untermauert werden.

Eine ungünstige Zahnstellung mit stark proklinierten oder exponiert stehenden Zähnen sowie eine kieferorthopädische Bewegung der Zähne an den Rand des Alveolar­fortsatzes können ein Risiko für eine Rezession bedeuten (Joss-Vassalli, Grebenstein et al. 2010). Als wohl ­eine der häufigsten Ursachen für Rezessionen wird die traumatische Zahnputztechnik beschrieben (Kas­sab and Cohen 2003), (Litonjua, Andreana et al. 2003).

Ebenfalls als lokales Trauma sind auch die weit verbreiteten Lippenpiercings zu verstehen. So wurden in einer Gruppe von 91 Personen zwischen 20 und 43 Jahren an 68 % der Zähne, die den Verschluss­platten gegenüber lagen, Rezes­sionen nachgewiesen (Leichter and Monteith 2006). Entzündungen, die durch Plaque und Zahnstein verursacht werden, können obige Ätiologie überlagern oder alleine zu Rezessionen führen.

Klassifikation

Miller entwickelte eine Klassifikation, die auf den zu erreichenden Ergebnissen einer Rezessionsdeckung beruht (Miller 1985).

• Miller-Klasse I:
Die Rezession reicht nicht bis an die Mukogingivalgrenze und es liegt interdental kein Verlust von parodontalem Gewebe vor (Abb. 1)

• Miller-Klasse II:
Die Rezession reicht bis an oder über die Mukogingivalgrenze hinaus und es liegt ebenfalls kein Verlust von parodontalem Gewebe interdental vor (Abb. 2)

• Miller-Klasse III:
Die Rezession reicht bis an oder über die Mukogingivalgrenze hinaus und es liegt ein Verlust von Knochen oder Weichgewebe im Approximalraum vor. Das interdentale Weichgewebe liegt apikal der approximalen Schmelz-Zement-Grenze, jedoch koronal des bukkalen Gingivalrands (Abb. 3)

• Miller-Klasse IV:
Die Rezession reicht bis an oder über die Mukogingivalgrenze hinaus, mit einem starken Knochen- und Weichgewebeverlust im Approximalraum. Das interdentale Weichgewebe liegt apikal des bukkalen Gingivalrands (Abb. 4)

Während bei den Miller-Klassen I und II eine vollständige Wurzeldeckung erreicht werden kann, lässt sich bei der Miller-Klasse III die Rezession nur teilweise decken. Bei der Miller-Klasse IV ist der Knochen- und Weichgewebeverlust im Approximalraum so groß, dass sich keine Rezessionsdeckung erreichen lässt. Für die Prognose des Behandlungsresultats ist also die Höhe des Knochen- und Gingivagewebes im Approximalraum der kritische Faktor.

Indikation für Rezessionsdeckung

Die Hauptindikation für eine Rezessionsdeckung sind ästhetische Anliegen und empfindliche Wurzeloberflächen der betroffenen Patienten (Abb. 5 und 6). Die Erleichterung der Plaquekontrolle spielt vor allem bei weit marginal inserierenden Wangen- und Lippenbändchen und bei fehlender angewachsener Gingiva eine Rolle. Freiliegende Zahnhälse können aufgrund der Morphologie an der Schmelz-Zement-Grenze und des rauheren Dentins als natürliche Prädilektionsstelle für die Plaqueakkumulation gelten und durch eine Rezessions­deckung eliminiert werden.

Die Vorbereitung

Bevor die chirurgische Therapie ausgeführt wird, ist es unabdingbar, im Rahmen einer Hygienephase alle Beläge zu entfernen und die ätiologischen Faktoren so weit wie möglich zu verändern, damit die klinischen Entzündungszeichen und Traumata minimiert werden. Wurzelkaries und zervikale Füllungen stellen keine Kontraindikation dar, werden aber in aller Regel entfernt. Die freiliegende Wurzeloberfläche im Bereich der Rezession soll geglättet werden, um Rauigkeiten und Endotoxine zu entfernen (Abb. 7).

Die modifizierte Tunnel-Technik

Bei der Tunnel-Technik (Allen 1994) wird mit intrasulkulären ­Inzisionen, speziellen Tunnel-Instrumenten oder Küretten zervikal die Gingiva vom Knochen gelöst. Sobald es die Gewebedicke zulässt, kann das Periost auf dem Knochen belassen und im Bindegewebe präpariert werden. Die Präparation wird apikal und lateral 3 bis 5 mm über das Rezessionsgebiet hinaus geführt, wobei die Papillen untermi­niert werden (Abb. 8). Danach wird das Transplantat in den entstan­denen Tunnel eingebracht und mit je einer Matratzennaht mesial und distal am Mukoperiostlappen fixiert (Abb. 10). Um die Stabilität des Transplantats zusätzlich zu erhöhen, kann dieses mit einzelnen Umschlingungsnähten an den Zähnen fixiert werden. Für die vorhersagbare Deckung der Rezessionen und für den Schutz des Transplantates wird der Mukoperiostlappen (d.h. das ganze gelockerte und tunnellierte Weichgewe) in koronaler Richtung verschoben (Azzi and Etienne 1998; Aroca, Keglevich et al. 2010) und mit einzelnen Umschlingungsnähten oder Aufhängenähten geschlossen (Allen 2010) (Abb. 11).

Zwei klinische Beispiele

... zur Deckung multipler Rezessionen mit der modifizierten Tunnel-Technik:

• Multiple Rezessionen als Folge von traumatischem Zähneputzen. Trauma, die das

   ästhetische Bild der Patienten beeinträchtigen (Abb. 5).

• Multiple Rezessionen als Folge von Trauma oder kieferorthopädischer Therapie

  (Abb. 6).


Die Wurzel wird zunächst mit einer ­Gra­cey-Kürette geglättet, um die En­dotoxine zu entfernen (Abb. 7). Die Tunnelpräparation: Im Sulkus werden unter Knochenkontakt die ­Fasern mit einer Kürette oder speziellen Tunnelmessern gelöst und anschließend der Lappen vorsichtig bis über die Mukogingivalgrenze hinaus frei präpariert (Abb. 8). Erst wenn unter dem Lappen bereits ­etwas Bewegungsfreiheit für die ­Instrumente herrscht, werden auch die Papillenbasen vom Knochen des interdentalen Septums gelöst.

Der Tunnel ist ausreichend vorbereitet, wenn der Lappen spannungsfrei so weit nach koronal verschoben werden kann, dass die Gingiva die ganze Rezession bedecken wird (Abb. 9). Einbringen des Transplantats: das Transplantat wird in den Tunnel eingebracht und mit je einer Matratzennaht am Lappen befestigt (Abb. 10). Anschließend wird das Transplantat zervikal mit Umschlingungsnähten befestigt. Der Lappen wird nun so weit nach koronal verschoben und mit Umschlingungsnähten fixiert, dass die Schmelz-Zement-Grenze gut bedeckt ist (Abb. 11).

Postoperatives Vorgehen

Die Patienten werden instruiert, die operierten Stellen zu schonen, die Wunden nicht zu berühren und die Wange nicht abzuspannen. Kühlung wirkt dem Ödem entgegen und nichtsteroidale Entzündungshemmer werden zur Schmerzbekämpfung eingesetzt. Um Infektionen, trotz Mundhygieneabstinenz, entgegenzuwirken, wird eine 0,2%ige Chlorhexidinlösungen abgegeben, mit der zweimal täglich gespült wird. Die Nähte im Gaumen können nach einer Woche entfernt werden. Die Nähte, die den Verschiebelappen halten, werden nach 10 bis 14 Tagen entfernt, worauf die mechanische Mundhygiene mit einer ultraweichen Zahnbürste vorsichtig wieder aufgenommen werden kann. Solange das Areal noch geschont werden muss und die Reinigung der Inderdentalräume noch nicht möglich ist, wird weiter mit Chlorhexidin gespült.

Die klinische Vorhersagbarkeit der modifizierten Tunnel-Technik

Bisher liegen nur zwei Publikationen vor, bei denen multiple Rezes­sionen bei mindestens fünf Patienten mit der modifizierten Tunnel-Technik angegangen und mindestens sechs Monate beoachtet wurden. Aroca et al. (Aroca, Keglevich et al. 2010) behandelten in einer ­ran­domisierten, kontrollierten ­Studie in einem Split-Mouth-Verfahren 20 Patienten mit multiplen Re­zessionen der Miller-Klasse III. Sie konnten beobachten, dass die zu­sätzliche Verwendung von Schmelz­matrix pro­te­inen zur modifizierten Tunneltechnik keine weiteren Verbesserungen zur Therapie mit  der modifizierten ­Tunnel-Technik alleine zeigt. Beide Verfahren waren nach einem Jahr Beobachtung mit einer mittleren Rezessionsdeckung von 82 % in der Testgruppe, respektive 83 % in der Kon­troll­­gruppe, ähnlich erfolgreich. Eine komplette Wur­zeldeckung von allen behandelten Rezessionen konn­te in bei­den Gruppen bei je acht ­Patienten beobachtet werden. Die Therapie mit der modifizierten Tunnel-­Technik kann also auch bei Miller-Klasse III vorhersagbare Resultate erzielen.

Um das subepitheliale Binde­gewebetransplantat zu gewinnen, muss immer eine zweite Operationsstelle eröffnet werden, und je nach Ausdehnung des Empfängerbettes kann es unmöglich werden, ein entsprechend großes Transplantat zu gewinnen. In einer Fallstudie mit fünf Patienten mit multiplen Miller-Klassen I und II verwendeten Modaressi und Wang (Modaressi and Wang 2009) stattdessen zusätzlich zur modifizierten Tunnel-Technik eine azelluläre dermale Matrix. Sie konnten damit eine durchschnittliche Rezessionsdeckung von 60,5 % erzielen. Zurzeit werden weitere Studien mit der modifizierten Tunnel-Technik in unserer Arbeitsgruppe durchgeführt. Sie sollen die Vorhersagbarkeit dieser Technik, mit und ohne zusätzliche Verwendung von Biomaterialien, weiter ermitteln.

Beeinflussende Faktoren

Das Tabakrauchen ist ein anerkannter modifizierender Faktor in der Ätiologie der Parodontitis. Dass das Rauchen auch das Resultat einer Rezessionsdeckung beeinflusst, konnten Chambrone et al. (Chambrone, Chambrone et al. 2009) in ­einer systematischen Review zeigen. So war bei Rauchern die Reduktion der Rezession geringer und komplette Wurzeldeckungen konnten weniger oft erreicht werden als bei Nichtrauchern.

Die Dicke des Lappens ist abhängig vom Biotyp des Patienten und ist positiv assoziiert mit der mittleren und kompletten Rezessionsdeckung (Hwang and Wang 2006; Berlucchi, Francetti et al. 2005). Auch die Lappenspannung nimmt Einfluss. Sobald die Spannung des Lappens minimale 0,4 g zu übersteigen beginnt, beginnt sich die Spannung umgekehrt proportional zur erreichten Rezessions­deckung zu verhalten (Pini Prato, Pagliaro et al. 2000).

Da bei der Koronalverschiebung des Lappens die neue Position des Margo gingivae positiv mit der Rezessionsdeckung korreliert (Pini Prato, Baldi et al. 2005), soll bei der Positionierung des Lappens darauf geachtet werden, dass die Schmelz-Zement-Grenze bedeckt ist. Die Ausrichtung des Transplantates, ob die Seite mit dem Periost zum Zahn oder gegen den Lappen aus­gerichtet ist, scheint keine Rolle zu spielen (Lafzi, Mostofi Zadeh ­Farahani et al. 2007; Al-Zahrani, Bissada et al. 2004).

Schlussfolgerungen

Die modifizierte Tunnel-Technik birgt durch das innovative Vorgehen Vorteile für die Gewebe und den Patienten. Da die einzige Inzision auf den Sulkus beschränkt ist, kann davon ausgegangen werden, dass die Gewebe gut durchblutet werden und die Ernährung der ko­ronal verschobenen Gingiva und des darunter liegenden Transplantates gewährleistet ist. Die marginale Lage des Transplantates und der koronal verschobenen Gingiva können gut gesteuert und mit den Umschlingungsnähten  gesichert  werden. Durch die Transplantation des Bindegewebes kann eine Verdickung der keratinisierten Gingiva erreicht werden (Bittencourt, Ribeiro Edel et al. 2009), welche zur Langzeitstabilität und reduzierter Dentinsensibilität führt. Weil keine Entlastungsinzi­sionen gelegt werden, werden keine Narben beobachtet, und da das Transplantat nicht epithelialisiert ist und unter die Gingiva zu liegen kommt, sind auch keine Farbabweichungen zu erwarten.

Eine ausführliche Literaturliste finden Sie hier.

Autoren: Dr. med. dent. Petra Hofmänner, Prof. Dr. med. dent, Dr. h.c. (mult.), M.S. Anton Sculean


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