Branchenmeldungen 28.02.2011
Behinderte und alte Menschen zahnmedizinisch oft schlecht versorgt
Oralchirurgen üben massive Kritik auf ihrer Tagung
"Sie haben keine Lobby, darum sind Behinderte und alte Menschen zahnmedizinisch oft schlecht versorgt", erklärte Dr. Volker Holthaus, Bad Segeberg, auf der 26. Jahrestagung des Berufsverbandes Deutscher Oralchirurgen am 13. und 14. November in Berlin. Politische Rahmenbedingungen und Richtlinien sorgen in Verbindung mit Ausbildungsdefiziten im Studium dafür, dass Behinderten und alten Menschen bestimmte Leistungen oft vorenthalten werden (müssen). »Das ist im Grunde unterlassene Hilfeleistung«, kritisiert der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für zahnärztliche Behindertenbehandlung im BDO.
In Deutschland ist jeder zwölfte Einwohner schwerbehindert, mindestens 6,8 Millionen Menschen. Mehr als die Hälfte ist 65 Jahre und älter. Bei 80 Prozent der Betroffenen ist eine Krankheit die Ursache der Behinderung. Mehr als zwei Millionen Menschen sind pflegebedürftig, über eine Million leidet an Demenz.
Die Zahl dieser Menschen wird in den nächsten Jahren aufgrund der demographischen Entwicklung steigen. Doch die zahnmedizinische Versorgung dieser Menschen ist in Deutschland ein Stiefkind. Die Zahngesundheit von behinderten, betagten, multimorbiden und pflegebedürftigen Menschen ist deutlich schlechter als die anderer Bevölkerungsgruppen. Defizite in Mundhygiene und Prophylaxe verursachen Karies und Parodontalerkrankungen und sind in Verbindung mit einer ungenügenden zahnmedizinischen Versorgung die Ursache für überdurchschnittliche Zahnverluste.
Verbesserungen sind selbst mit bescheidenen Mitteln möglich. Dabei zeigen neue Untersuchungen einer Forschergruppe von den Zahnmedizinischen Kliniken der Universität Bern um Prof. Dr. Regina Mericske-Stern, dass bei geriatrischen Patienten mit Zahnproblemen »selbst mit bescheidenen finanziellen Mitteln bei allen Patienten eine Verbesserung des Zustandes in wenigen Sitzungen erzielt werden konnte.« Ebenso kommen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass »eine regelmäßige zahnmedizinische Betreuung von älteren Menschen, die in Heimen oder selbstständig leben, den jeweiligen Behandlungsaufwand sowie die anfallenden Kosten niedrig halten und eine deutliche Verbesserung des oralen und allgemeinen Gesundheitszustandes bewirken könnte«. Und eine Untersuchung an der Universität Heidelberg belegt, dass die Mundgesundheit bei älteren Menschen durch eine professionelle Zahnreinigung im Abstand von drei Monaten verbessert werden kann.
Doch solche Erkenntnisse stoßen bei den Verantwortlichen bislang auf taube Ohren. »Erforderlich wären politische Rahmenbedingungen, die es uns ermöglichen, behinderte Patienten adäquat prophylaktisch und prothetisch zu versorgen«, stellt Dr. Volker Holthaus, Bad Segeberg, fest. »Ebenso wäre es nötig, angehende Zahnärzte besser auf die Behandlung solcher Patienten schon im Studium vor zubereiten«, fordert Holthaus. »Zahnmediziner brauchen auch eine bessere Ausbildung etwa auf dem Gebiet innerer Erkrankungen sowie pharmakologische Kenntnisse, wenn sie multimorbide und schwerkranke Patienten kompetent betreuen sollen.«
Die Situation hat sich eher verschärft als verbessert. Doch trotz zahlreicher Bemühungen hat sich die Situation in den letzten Jahren eher verschärft als verbessert. »Die Richtlinien der GKV sind inzwischen so eng gefasst, dass wohlmeinende Sachbearbeiter der Krankenkassen keinerlei Spielraum mehr haben«, beschreibt Holthaus seine Erfahrungen. Ein Beispiel: Wenn mehr als vier Zähne fehlen, gibt es keinen Kassenzuschuss für eine festsitzende Brücke. »Doch viele behinderte Menschen kommen mit einer herausnehmbaren Prothese nicht zurecht. Doch dies ist in den Richtlinien nicht vorgesehen.«
Problematisch ist auch eine Parodontalbehandlung. Den Richtlinien zufolge, setzt diese eine ausreichende Mundpflege, eine aktive Mitarbeit sowie Motivation des Patienten voraus. Diese bei Gesunden sinnvolle Anforderung können viele Behinderte indes nicht erfüllen. Unterbleibt die Behandlung jedoch aus formalen Gründen, setzt eine Abwärtsspirale ein, wie Holthaus erklärt: »Unbehandelt verschlechtert sich der Zustand und letztendlich wird die Sanierung des Gebisses ungleich teurer als wenn wir rechtzeitig hätten behandeln können.« So ist auch eine Zahnsteinentfernung bei einem dementen Heimbewohner unter Vollnarkose letztendlich billiger als den Dingen ihren Lauf zu lassen.
Hoffnung setzt Holthaus nun auf einen »runden Tisch«, an dem die Bundeszahnärztekammer, die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung mit Experten zusammen nach Lösungen suchen.
Die Versorgungsformen der Gegenwart zukunftsfest machen. Doch Holthaus will den Blick seiner Kolleginnen und Kollegen nicht nur auf die bestehenden Defizite bei der Behandlung behinderter und betagter Patienten lenken. »Wir müssen auch unsere Versorgungskonzepte bei den heute 50-Jährigen zukunftsfest machen«, sagt der Oralchirurg. Prothetische Versorgungen sollten beispielsweise so gestaltet werden, dass sie »umbaufähig« sind und so den Bedürfnissen geriatrischer Patienten angepasst werden können.
Quelle: Berufsverband deutscher Oralchirurgen, 13.11.2009