Branchenmeldungen 18.09.2025
„Die PatientInnen im Fokus: Mit ihnen reden, ihnen zuhören, sie im Blick haben“
Im Zusammenhang mit Articain publizierte er kürzlich eine Literaturrecherche aller relevanten Publikationen der letzten 25 Jahre zum Thema der potenziellen Allergien auf Articain2. Die ausführliche Vorstellung der umfassenden Literaturrecherche durch Halling erfolgt in einer Presseveranstaltung im Rahmen des Deutschen Zahnärztetages am 30. Oktober in Berlin.
Wie der Experte berichtet, werden Allergien auf Lokalanästhetika in der Praxis in den letzten Jahren immer häufiger angegeben, ohne dass zuvor eine allergologische Abklärung erfolgt war. Da Articain in Europa der führende Lokalanästhetika-Wirkstoff ist, beschäftigte sich seine Arbeitsgruppe mit dem Thema der nachgewiesenen Allergien auf Articain und führte eine Literaturrecherche aller relevanten Publikationen der letzten 25 Jahre durch.2 „Es gab in 25 Jahren weltweit insgesamt lediglich 16 Studien, in denen über Allergien auf Articain berichtet wurde. In diesen Studien wurden insgesamt 1.333 Personen getestet. Lediglich bei 29 Personen konnte eine Allergie auf Articain durch einen positiven Hauttest nachgewiesen werden“, so Halling. Bei vermuteter Allergie gegen Lokalanästhetika sollte deshalb im Falle einer elektiven Behandlung zunächst ein fachgerechter Allergietest durchgeführt werden. Wenn eine Allergie gegen Articain tatsächlich nachgewiesen ist, gebe es fast immer alternative Lokalanästhetika. Deshalb sollten die in Frage kommenden Wirkstoffe bei dem Allergietest gleich mituntersucht werden.
Neben Allergien verweist Halling auf zwei weitere Aspekte zum Thema Unverträglichkeiten. Zum einen kann das beigefügte Antioxidans, meist Natriumdisulfit, allergische Reaktionen auslösen. Es ist in allen adrenalinhaltigen Lokalanästhetika zur Stabilisierung von Adrenalin beigefügt und kann bei bis zu 8,4 Prozent der AsthmapatientInnen mit hoher Krankheitsaktivität zu Reaktionen wie Asthmaanfällen oder Schock führen3. Ähnliche Reaktionen kann Methyl-4-hydroxybenzoat hervorrufen, das als Konservierungsmittel in Mehrfachentnahmeflaschen enthalten ist3.
Die Sicherheit der PatientInnen im Fokus
Für Halling steht die Sicherheit der PatientInnen im Mittelpunkt. Beim Thema Lokalanästhesie muss immer auch die individuelle gesundheitliche Situation der PatientIn berücksichtigt werden. Im Fokus stehen PatientInnengruppen, die durch bestimmte Vorerkrankungen ein höheres Risiko für Komplikationen durch eine Lokalanästhesie tragen. Dazu zählen vor allem ältere Menschen, die durch eine koronare Herzkrankheit (KHK), Herzinsuffizienz, Rhythmusstörungen oder Bluthochdruck kardial vorbelastet sind. „Der Adrenalinzusatz, der in den meisten Lokalanästhetika enthalten ist, führt immer zu einer Herzbelastung, der Puls und der Blutdruck steigen gleichzeitig an. Das kennt man auch von Stresssituationen“, erläutert Halling. So kann es im Einzelfall zu einem massiven Blutdruckanstieg kommen, wenn bei Anwendung adrenalinhaltiger Lokalanästhetika gleichzeitig stress- oder schmerzbedingt endogen mehr Adrenalin ausgeschüttet wird. Bei kardialen RisikopatientInnen gilt es, die geringstmögliche Menge an Adrenalinzusatz oder auch Lokalanästhetika ohne Adrenalin zu verwenden. Die PatientInnen sollten stets engmaschig überwacht werden, um mögliche Komplikationen frühzeitig zu erkennen. Besonders beim Vorliegen einer schweren Rhythmusstörung sollte möglichst auf adrenalinfreie Lokalanästhetika zurückgegriffen werden, um Tachykardien zu vermeiden und damit das potenzielle Risiko von Kammerflattern oder -flimmern zu minimieren.
Halling verweist auf eine im Jahr 1997 publizierte Erhebung bei über 900 ZahnärztInnen zu fast 3.000 PatientInnen, mit der Art und Häufigkeit von Komplikationen bei einer Lokalanästhesie erfasst und deren potenzieller Zusammenhang mit Risikofaktoren wie zum Beispiel vorbestehenden Erkrankungen und Dauermedikation geprüft werden sollte4. Am häufigsten traten Komplikationen bei PatientInnen auf, die dauerhaft mehr als zwei Medikamente einnehmen mussten, weiterhin waren auch öfter PatientInnen mit Lebererkrankungen und Allergien betroffen.
Weitere Beispiele für relevante chronische Erkrankungen sind laut Halling zum einen PatientInnen mit Schilddrüsenüberfunktion (Hyperthyreose) und zum anderen PatientInnen mit erhöhtem Augeninnendruck (Glaukom). Menschen mit einer Schilddrüsenüberfunktion könnten sensibler auf Adrenalin reagieren. PatientInnen mit erhöhtem Augeninnendruck sollten nur mit Lokalanästhetika mit einem reduzierten Adrenalinzusatz oder adrenalinfrei behandelt werden, da Adrenalin den Augeninnendruck erhöhen und damit einen Glaukomanfall auslösen kann. Wegen des möglichen Sehverlusts ist dies ein ophthalmologischer Notfall mit akuter Behandlungsnotwendigkeit.
Mit den PatientInnen reden, ihnen zuhören
Für der/die BehandlerIn wird es immer problematisch, wenn PatientInnen ihre Erkrankungen nicht kennen oder sie im Anamnesebogen nicht angeben. Deshalb sollten alle PatientInnen besonders beim Erstkontakt auch noch einmal mündlich befragt werden. „Gerade bei Älteren sollte man sich nicht nur auf den Anamnesebogen verlassen, denn er wird oft nur sehr oberflächlich und manchmal sogar inkorrekt ausgefüllt. Deshalb halte ich eine zusätzliche mündliche Befragung für sehr wichtig. Es kostet vielleicht etwas mehr Zeit und ist aufwendiger, aber letztlich dient es der Behandlungssicherheit“, bekräftigt Halling.
Die PatientInnen im Blick haben
Auch besondere äußerliche Anzeichen können der behandelnden ZahnärztIn erste Hinweise auf zahnmedizinisch relevante Allgemeinerkrankungen geben. Vor allem die nachfolgend aufgeführten Symptome und Zeichen können aus Sicht von Halling wertvolle Hinweise auf Vorerkrankungen geben:
Sichtbares Zeichen | Erkrankung | Evt. weitere Symptome | Zahnmedizinische Auswirkung(en) |
Exophthalmus | Morbus Basedow | Hyperthyreose mit: | Empfindlichere Reaktion auf Adrenalin |
Mobile Sauerstoffflasche und entsprechende Schläuche in der Nase | z. B. COPD |
| Probleme mit der Lungenfunktion möglich, angemessene Lagerung beachten, ggf. Behandlungsdauer anpassen |
Sklerenikterus | Akute oder chronische Hepatitis | Glatte Lackzunge, Zungenbrennen, | Langsamerer Abbau des Lokalanästhetikums aufgrund der Leberschädigung |
Blasse Haut, Mundwinkelrhagaden (offene Mundwinkel), eine Entzündung der Zunge (Glossitis) und Zungenbrennen | Eisenmangelanämie | Müdigkeit, brüchige Nägel, Gleichgewichtsstörungen | Verlängerte Wirkdauer und verstärkte Nebenwirkungen der Lokalanästhesie sind möglich; zusätzlich schlechtere Wundheilung |
Erweiterung von Blutgefäßen im Gesichts- und Schleimhautbereich (Teleangiektasien), häufiges Nasenbluten, „spontane Blutungen“ | Hinweis auf angeborene Gerinnungsstörung (z. B. M. Osler oder Willebrand-Jürgens-Syndrom) | Auf Familienanamnese achten! | Leitungsanästhesie aufgrund erhöhter Blutungsgefahr vermeiden-andere Anästhesieformen wählen! |
„In Kursen empfehle ich den Kolleginnen und Kollegen, dass sie die PatientInnen sehen sollten, wenn sie den Behandlungsraum betreten und nicht erst, wenn sie schon im Stuhl sitzen. Dadurch lassen sich beispielsweise Gangunsicherheiten, wie sie beim Morbus Parkinson auftreten, oder auch andere Mobiltätsstörungen leicht erkennen“, ergänzt Halling.
Ebenfalls im Blick behalten: Multimorbidität, Polypharmakotherapie und Komplikationen
Zahlreiche Erhebungen zeigen den hohen Anteil von PatientInnen mit mehreren chronischen Erkrankungen und einer Vielzahl von Medikamenten im medizinischen und zahnmedizinischen Alltag5,6,7,8. „In Bezug auf die Gabe von Lokalanästhetika ist bei den multimorbiden PatientInnen auf eine langsame und dosierte Injektion zu achten. Bei diesen PatientInnen sind kleinere, weniger belastende Behandlungsschritte auf jeden Fall besser“, so der Experte. Darüber hinaus spielt laut Halling auch der Adrenalin-Anteil eine wichtige Rolle. Um die Ausprägung adrenalin-induzierter Nebenwirkungen auf das Herz-Kreislauf- und das zentrale Nervensystem möglichst gering zu halten, sollte unter anderem bei RisikopatientInnen, älteren oder sehr jungen Menschen eine adrenalinreduzierte oder adrenalinfreie Lokalanästhesie verwendet werden. Leider liegt der Anteil der zahnärztlichen Betäubungen mit dem höchsten Adrenalinzusatz (1:100.000) nach den Ergebnissen einer Verbrauchsanalyse in Deutschland seit Jahren über 40 Prozent. Dieser Wert ist angesichts der zunehmenden Anzahl von RisikopatientInnen eher kritisch zu bewerten9.
Bestimmte Medikamentengruppen haben Einfluss auf die zahnärztliche Lokalanästhesie. Bei Gerinnungshemmern kann es durch das erhöhte Blutungsrisiko bei Leitungsanästhesien leichter zu Gewebeeinblutungen oder Blutungen an der Zunge oder Lippe durch traumatische Einbisse kommen. Somit sollte hier auf diese Form der Anästhesie verzichtet werden. Bei Einnahme von Digitalispräparaten kann Adrenalin Herzrhythmusstörungen auslösen. Einige in der Neurologie und Psychiatrie eingesetzten Präparate wie die Gruppe der Monoaminooxidase-Hemmer (MAO-Hemmer) oder die trizyklischen Antidepressiva greifen hemmend in den körpereignen Abbau von Adrenalin ein. Adrenalin wirkt deutlich länger und sollte dehalb nur in geringerer Konzentration eingesetzt werden.
Gefragt nach den Besonderheiten des Lokalanästhetikums Articain für die Anwendung bei älteren PatientInnen, erklärt Halling, dass die Substanz im Gegensatz zu anderen Amid-Lokalanästhetika (wie z. B. Lidocain) nur in geringem Maße in der Leber und zum größten Teil im Blut durch Plasmaholinesterasen abgebaut wird. Daraus resultiert die sehr kurze Plasmahalbwertszeit des Wirkstoffes (ca. 20 Minuten). Während die Metabolisierung anderer Amid-Lokalanästhetika bei älteren PatientInnen durch die reduzierte hepatische Metabolisierung langsamer abläuft, kann Articain aufgrund der Tatsache, dass der Abbau des Wirkstoffes im Blut nicht altersabhängig ist, bei älteren gesunden PatientInnen in fast der gleichen Dosierung gegeben werden wie bei jüngeren10.
Die zehn wichtigsten Aspekte bei einer Lokalanästhesie
Der Experte rät, bei einer Lokalanästhesie besonders auf die nachfolgend aufgeführten Merksätze zu achten:
- Zunächst abklären, ob bisherige örtliche Betäubungen gut vertragen wurden.
- Nachfragen, ob kardiovaskuläre Erkrankungen oder Erkrankungen des zentralen Nervensystems vorliegen.
- Ausführlich über Risiken aufklären, insbesondere bei einer geplanten Leitungsanästhesie. Alles lückenlos und nachvollziehbar dokumentieren.
- Leitungsanästhesien aufgrund des ungünstigen Risikoprofils möglichst vermeiden. Adrenalinreduzierte oder adrenalinfreie Lokalanästhetika bevorzugen, da der Adrenalinzusatz die meisten Nebenwirkungen auslöst. Es gilt der Satz: So viel wie nötig und so wenig wie möglich injizieren.
- Bei RisikopatientInnen (PatientInnen mit KHK, EpileptikerInnen, Schwangere, multimorbide PatientInnen, Kinder) Stress vermeiden und den Adrenalinzusatz auf das Mindestmaß begrenzen.
- DiabetikerInnen nicht zu lange auf die Behandlung warten lassen. Längere Nahrungskarenz vor der Behandlung und manchmal auch nach der Behandlung (bedingt durch ein Taubheitsgefühl in der Zunge oder Lippe) kann zu einer potenziell lebensgefährlichen Hypoglykämie führen.
- Eine dosierte und langsame Injektion unter stetiger Aspiration schont den/die PatientIn und gibt dem/der BehandlerIn Sicherheit.
- PatientInnen nach einer Lokalanästhesie nie alleine lassen, damit ein potenzieller Notfall schnell erkannt und gegebenenfalls eingegriffen werden kann. Entweder es bleibt jemand im Behandlungsraum oder die Tür bleibt offen.
- AngstpatientInnen ohne besondere Risikofaktoren gegebenenfalls zusätzlich zur Lokalanästhesie oral sedieren. Der/die PatientIn muss die Praxis dann immer mit einer Begleitung verlassen.
- Zuletzt noch wichtig: In jede Zahnarztpraxis gehört eine funktionstüchtige Notfallausrüstung. Die Abläufe im Notfall sollten mit dem Team regelmäßig eingeübt werden.
1 Bei Interesse finden Sie das vollständige Interview unter: https://www.quintessence-publishing.com/deu/de/news/zahnmedizin/-/bei-lokalanaesthesie-mit-patientinnen-und-patienten-reden-ihnen-zuhoeren-sie-im-blick-haben. (Zugriff: September 2025)
2 Halling F, Neff A, Meisgeier A. True allergies to articaine: a 25-year analysis. Dent J 13(5) (2025):180. doi: 10.3390/dj13050180. https://www.mdpi.com/2304-6767/13/5/180. (Zugriff: September 2025)
3 Heimes D, Kämmerer P: Anamnese und individualisierte Lokalanästhesie. In: Schmerzkontrolle in der Zahnmedizin (Hrsg. P.W. Kämmerer und D. Heimes) Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin 2024.
4 Daubländer M, Müller R, Lipp MD. The incidence of complications associated with local anesthesia in dentistry. Anesth Prog. 1997 Fall;44(4):132-41. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC2148940/pdf/anesthprog00236-0020.pdf. (Zugriff: September 2025)
5 Halling F, Weigl K. Medical status of elderly patients consulting two oral and maxillofacial surgery departments in Germany. Br J Oral Maxillofac Surg. 2022 Oct;60(8):1097-1101. doi: 10.1016/j.bjoms.2022.04.007.
6 Schmalz G, Brauer L, Haak R, Ziebolz D. Evaluation of a concept to classify anamnesis-related risk of complications and oral diseases in patients attending the clinical course in dental education. BMC Oral Health. 2023 Aug 29;23(1):609. doi: 10.1186/s12903-023-03343-x.
7 Seger W, Gärtner T. Multimorbidität – eine besondere Herausforderung. Dtsch Arztebl 117 (44) (2020): A 2092–2096
8 Masnoon N, Shakib S, Kalisch-Ellett L, Caughey GE. What is polypharmacy? A systematic review of definitions. BMC Geriatr. 2017 Oct 10;17(1):230. doi: 10.1186/s12877-017-0621-2.
9 Halling F, Neff A, Ziebart T. Local Anesthetic Usage Among Dentists: German and International Data. Anesth Prog. 2021 Mar 1;68(1):19-25. doi: 10.2344/anpr-67-03-12.
10 Oertel R, Ebert U, Rahn R, Kirch W. The effect of age on pharmacokinetics of the local anesthetic drug articaine. Reg Anesth Pain Med. 1999 Nov-Dec;24(6):524-8. doi: 10.1016/s1098-7339(99)90043-3.