Branchenmeldungen 16.08.2019

EOS 2019: Fachbereich Kieferorthopädie im Umbruch

„KFO im Umbruch – was bedeutet die Digitalisierung?“ Die Beantwortung dieser Frage zog sich beim Jahreskongress der European Orthodontic Society (EOS) vom 17. bis 22. Juni 2019 in Nizza wie ein roter Faden durch Vortragsprogramm und Industriemesse. Rund 1.840 Kieferorthopäden waren an die Côte dʼAzur gereist, um sich über die aktuellen Entwicklungen des Fachbereichs zu informieren. Der digitale Workflow stand dabei genauso im Mittelpunkt wie „Big Data“ als Schlüssel (künftiger) innovativer Lösungen. Laut Veranstalter stellte Deutschland die am stärksten vertretene Nation dar (ca. 300 Teilnehmer), gefolgt von Großbritannien. Tagungspräsident war Dr. Olivier Sorel.

Wissenschaftliches Vortragsprogramm

Insgesamt drei Hauptthemen („Genetik und Kieferorthopädie“, „Okklusion – Stabilität und das Kiefergelenk“ und „Linguale Kieferorthopädie“) sowie diverse freie Themen umfasste das wissenschaftliche Programm, für das insgesamt rund 70 Redner, darunter zwölf Keynote Speaker, geladen waren. Zahlreiche Vorträge sorgten dabei für Begeisterung bei den Teilnehmern, u. a. die diesjährige Sheldon Friel Memorial Lecture.

Diese wurde von Prof. Dr. Lee W. Graber (USA) gehalten und machte einmal mehr deutlich, dass sich der Fachbereich Kieferorthopädie im Umbruch befindet. Anhand dreier KFO-Generationen (Vater Tom Graber, er selbst und Tochter Kathy Graber) veranschaulichte Professor Graber zunächst, wie sich im Laufe der Jahre der Fokus der eigenen Familie bezüglich Behandlungen geändert bzw. erweitert habe. Während dieser in den 1950er- bis 1980er-Jahren noch auf der KFO-Therapie von im Wachstum befindlichen Patienten lag, verschob er sich mit der Zeit zugunsten der Behandlungsapparatur (Bracket mit seinen multiplen Straight Wire Systemen) bis hin zur heute gezielt von der Industrie umworbenen individualisierten Apparatur (Aligner, Bracketsysteme). Der „3D-Patient“ stünde bei der Diagnostik und Therapeutik zunehmend im Mittelpunkt, so auch bei Familie Graber. Diese greife dabei wie andere Praxen auf hochmoderne Technologien (z. B. i-CAT™, Anatomage oder SureSmile®) zurück. Maschinen, Technologien und insbesondere die künstliche Intelligenz (KI) sowie das maschinelle Lernen (ML) werden im kieferorthopädischen Alltag eine immer größere Rolle spielen, betonte der Referent. So werden Big Data-Analysetools, wie sie bereits erfolgreich in anderen Bereichen (z. B. der Onkologie, Kardiologie, Chirurgie oder Radiologie) eingesetzt werden, künftig auch in der KFO ein besseres Datenmanagement ermöglichen.

Zudem verwies er auf die heutigen Möglichkeiten und die damit verbundenen Gefahren von Internet, Social Media und Co. In nur einer Minute würden weltweit 3,8 Millionen Suchanfragen bei Google gestellt, darunter auch zu medizinischen Belangen. Doch, wer ist letztlich der Experte – „Dr. Google“ oder der ausgebildete Arzt? Und aktuell auf die KFO gemünzt: Warum sollte jemand Zeit und Geld investieren, wenn er Aligner heute per Versandhandel bestellen kann? Ohne Zweifel, so Professor Graber resümierend, das Gesundheitswesen und mit ihm die Kieferorthopädie sind im Umbruch begriffen. „Seien Sie daher aktiv, auch berufspolitisch! Nutzen Sie die kieferorthopädischen Fachgesellschaften und machen Sie deutlich, dass Sie der Experte sind!“

Die Ergebnisse einer Studie, die die klinischen Effekte einer KFO-Behandlung bei Einsatz labialer vs. lingualer SL-Brackets untersuchte, stellte Dr. Gulistan Yigidim Efeoglu (Türkei) vor. Hinsichtlich parodontaler Parameter zeigten die Gruppen bei der Sondierungstiefe keinerlei Unterschiede, dafür war die Blutung bei Sondierung in der labialen Gruppe signifikant stärker ausgeprägt. In der lingualen Gruppe wirkte sich die ästhetische Motivation der Patienten positiv auf die Mundhygiene aus, zudem zeigte sich der reinigende Effekt der Zunge als vorteilhaft. Was den Zeitfaktor betrifft, erfolgte die Nivellierung der unteren Schneidezähne in der lingualen Gruppe in deutlich kürzerer Zeit als in der labialen Gruppe. Bezüglich der Zahnbogenparameter konnte in der labialen Gruppe im OK/UK eine Zunahme beobachtet werden, die auf den Einsatz vorgefertigter Bögen zurückgeführt wurde. Bei Messung der Eckzahndistanz wurde im OK der labialen Gruppe und im UK der lingualen Gruppe eine signifikante Vergrößerung festgestellt, während hinsichtlich der Zahnbogenlänge am Ende der Nivellierungsphase in beiden Gruppen eine deutliche Zunahme verzeichnet werden konnte.

Der Mundhygiene bzw. der Prophylaxe während kieferorthopädischer Behandlung widmete sich Prof. Dr. Paul-Georg Jost-Brinkmann (Deutschland). Er räumte dabei mit einigen Mythen auf und präsentierte stattdessen wahre Fakten. So gäbe es laut Professor Jost-Brinkmann nun mal kein zuverlässiges Rezept, um Kariesbildung während der Ausrichtung von Zähnen zu vermeiden. Selbst ein Bündel mehrerer Maßnahmen könne Karies nicht verhindern. Fakt sei, dass festsitzende Apparaturen das Kariesrisiko deutlich erhöhen. Der Einsatz von elmex gelée könne die Anzahl der Kariesläsionen zwar um ein Drittel reduzieren, mindere aber nicht das Risiko der Kariesentwicklung während festsitzender Therapie. Kommt Chlorhexidin zur Anwendung, zeige dieses lediglich einen kurzzeitigen Effekt hinsichtlich des Kariesrisikos. In jedem Fall sollten Patienten, die den Mundhygieneanweisungen nicht entsprechen, keine kieferorthopädische Behandlung erhalten, so der Referent. Mit anderen Worten: „Lieber schiefe (relativ) gesunde Zähne als gerade ‚Ruinen‘.“

Mit großem Interesse wurde die EJO Open Session verfolgt, in deren Mittelpunkt die Klärung der Frage „Digitale KFO – Freund oder Feind?“ stand. Moderator Dr. Dirk Bister (Großbritannien) hatte hierfür Prof. Dr. Björn Ludwig und Prof. Dr. Dr. h.c. Dirk Wiechmann (beide Deutschland) geladen. Prof. Dr. Ludwig beschrieb zunächst, inwieweit die heutigen digitalen Möglichkeiten in seinem Praxisalltag Anwendung finden. Sicherlich sei eine 3D-Visualisierung, z. B. bei einer Gingivektomie, hilfreich und sinnvoll, jedoch nicht sehr ökonomisch. Auch 3D-gedruckte Metallapparaturen (z. B. Sliders) seien vorteilhaft oder Bohrschablonen für eine geführte Insertion. Doch letztlich kann eine Software keinen Patienten behandeln. Vielmehr sind hier Wissen bzw. die „Low-Tech-Behandlung“ der alten Schule gefragt. Die Kombination aus bisherigem Wissen und neuen Technologien, dies sei für ihn der Schlüssel zum Erfolg.

Auch Professor Wiechmann erläuterte, inwieweit neueste Technologien bei ihm zur Einsatz kämen. Dabei machte er z. B. deutlich, dass er in einem digitalen Set-up keinerlei Vorteil für den Behandler gegenüber einem manuell erstellten sehe. Zudem ging er auf die Präzision heutiger Bracketapparaturen ein, und insbesondere auf die Genauigkeit der Slotmaße. Wie Untersuchungen zeigen, seien diese oft übermaßig. Die Ursache hierfür sieht Wiechmann im Herstellungsverfahren (Metal Injection Molding) begründet. Die Slots der von ihm entwickelten WIN-Brackets werden in einem separaten CAD/CAM-Prozess gefräst, mit entsprechend geringen Toleranzen. „Digitale Technologien bewegen keine Zähne“, so Wiechmann resümierend. Eine umfassende Ausbildung sei für ihn der Schlüssel. So könne z. B. das Erlernen der lingualen Behandlungstechnik zum Erfolg beitragen. Die oft geäußerte Aussage, die digitale Kieferorthopädie würde weniger Aufwand und bessere Ergebnisse bedeuten, sei für ihn ein Märchen und entspräche keinesfalls der Wahrheit.

Zurückkehrend auf die eingangs in den Raum gestellte Frage, lautete das Fazit der Diskussionsrunde: „Manche Aspekte der digitalen Kieferorthopädie können durchaus dein Freund sein, doch manche auch dein Feind.“

Industriemesse

Exakt 63 Aussteller waren im Programm gelistet, wobei die Liste der Unternehmen diesmal die ein oder andere sonst traditionell vertretene Firma vermissen ließ. Die Räumlichkeiten waren gut gewählt und da die Vortragspausen stets direkt in der Industriemesse vorgesehen waren, konnten sich die Aussteller vor allem in der vortragsfreien Zeit über einen regen Zulauf ihrer Stände freuen.

Multibandbehandlung

Am Stand von GC Orthodontics konnten die Kongressteilnehmer das neue selbstligierende EXPERIENCE™ mini ceramic Bracket kennenlernen. Die aktuell von 5-5 (OK/UK) im McLaughlin/Bennett/Trevisi-System mit .018''er oder .022''er Slotgröße lieferbare Miniversion ist baugleich mit dem bisherigen, normal großen EXPERIENCE™ ceramic SL-Bracket und vereint laut Herstellerangaben trotz deutlich reduzierter Größe alle bekannten Leistungsvorteile seines Vorgängers in sich. Es verfügt über einen rhodinierten NiTi-Clip, der die Ästhetik des Keramikkorpus optisch ergänzt. EXPERIENCE™ mini ceramic wird im Spritzgussverfahren gefertigt, der Slot CNC-nachgefräst. Das mit einer anatomisch gewölbten Basis ausgestattete Bracket lässt sich ästhetisch optimal mit den rhodinierten, thermoaktiven Initialloy oder Bio-Active-Bögen ergänzen.

Ormco präsentierte erstmals seinen neuen, mittels Lasertechnologie gefertigten SmartArch™ in Europa. Der Copper-NiTi-Bogen verfügt über sieben verschiedene Kraftzonen, die so programmiert wurden, dass jeder einzelne Zahn das optimale Maß an Kraft erhält. Bereits mit dem ersten Bogen soll somit ein effizientes Alignment von Molaren möglich sein. Bei der Fertigung des ab sofort lieferbaren Bogens kommt ein patentierter, pulsierender Laser zum Einsatz, wodurch die Oberfläche so bearbeitet wird, dass eine Reduzierung der Friktion zwischen Bogen und Bracket erreicht wird. SmartArch™ verfügt zudem über eine höhere Steifigkeit im Seitenzahnbereich, sodass dem Herausgleiten des Bogens aus Bukkalröhrchen effektiv entgegengewirkt wird.

Dentaurum hat seine CONTEC-Serie lichthärtender Adhäsive um zwei neue Produkte ergänzt. So ist zum einen das speziell für die Befestigung von Brackets entwickelte CONTEC lc verfügbar und zum anderen CONTEC lcr für das Kleben von Retainern. CONTEC lcr ist TEGDMA-frei (Triethylenglykoldimethacrylat) und HEMA-frei (Hydroxyethylmethacrylat), CONTEC lc kommt zusätzlich auch ohne BisGMA (Bisphenol A Glycerolatdimethacrylat) aus, wodurch beide Adhäsive auch für Patienten mit Allergie auf genannte Methacrylate geeignet sind.

Alignerbehandlung

Das Unternehmen Taglus (Vertrieb DE über D3 Technology GmbH) stellte ein neues, gleichnamiges Material für die Praxis- bzw. Laborfertigung von Alignern und Retainern vor. Dieses zeichnet sich laut Herstellerangaben durch eine hohe Lichtdurchlässigkeit, eine außergewöhnliche Elastizität und Bruchresistenz aus, die durch Ergänzung des PETG-Filaments durch molekular verändertes Glykol erreicht werden. Dieses entfernt den sogenannten „Hazing Effect“ (Trübung) während des Erhitzens und verhindert zudem unerwünschte Kristallisation. Gleichzeitig soll die Zugabe des Glykols die Innenwände der Aligner/Retainer weicher bzw. geschmeidiger machen und somit ein angenehmeres Tragen der Schienen ermöglichen.

Skelettale Verankerung

Komplett gedruckte 3D-Apparaturen, die optimal auf die Bedürfnisse von Anwendern des BENEfit®-Systems (PSM/dentalline GmbH) zugeschnitten sind, können ab sofort über die Website des Start-ups TADMAN in Auftrag gegeben werden. Hierfür registriert sich der Behandler auf dem Portal www.tadman.de und lädt die entsprechenden Patientendaten (Intraoralscan, Fotos etc.) hoch. Alternativ können auch Abdrücke oder Gipsmodelle zur Digitalisierung eingesandt werden. Nach Auswahl der gewünschten Apparatur (Beneslider, Hybrid-Hyrax, TPA), wird der Behandlungsplan erstellt und die Apparatur gestaltet. Nach Prüfung und Freigabe durch den Kieferorthopäden erfolgt dann der Druck der Modelle, der passgenauen Apparatur sowie, falls gewünscht, der Insertionsschablone, sodass das Behandlungsgerät in nur einer Sitzung eingesetzt werden kann. Aktuell dauert es ca. drei bis vier Wochen, bis nach erfolgter Freigabe die 3D-gedruckten Materialien vorliegen. Ziel ist es, eine Produktionszeit von zehn bis zwölf Tagen zu erreichen.

Nachdem FORESTADENT AAO-Messebesuchern bereits einen ersten Blick auf seine neue Accuguide Insertionsschablone gewährt hatte, stellte das Unternehmen bei der europäischen Tagung diese nun erstmals offiziell vor. Die Insertionsschablone ist für das Einbringen kieferorthopädischer Minischrauben am Gaumen gedacht und kann über ein entsprechendes Portal (www.Forestadent-Portal.com) vom Behandler in Auftrag gegeben werden. Hierfür übermittelt der Kieferorthopäde die STL-Daten des Intraoralscans samt Röntgenbilder des Patienten, woraufhin die Erstellung eines Positionsvorschlags erfolgt. Nach Prüfung mittels 3D-Viewer (keine Software erforderlich) und erteilter Freigabe werden dann das Arbeitsmodell sowie die Insertionsschablone dreidimensional gedruckt und an die Praxis versandt. Sobald das Labor die geplante Apparatur gefertigt hat, kann der Kieferorthopäde mithilfe der Schablone die Pins (OrthoEasy® Pal) präzise palatinal inserieren.

Die speziell für die Insertion am Gaumen entwickelten OrthoEasy® Pal Pins sind übrigens ab sofort mit einem neuen, deutlich flacheren Abutment beziehbar, welches Patienten einen höheren Tragekomfort bietet. Das OrthoEasy® System wurde zudem um drei neue Befestigungsplatten (paralleler bzw. rechtwinkliger Draht sowie T-Form) sowie eine neues Befestigungselement (für Mesialisierung/Distalisierung) ergänzt.

Weitere Neuheiten

Planmeca präsentierte eine neue Premiumversion seines Intraoralscanners Planmeca Emerald™. Der neue Planmeca Emerald™ S ist vom Design her zwar gleich geblieben, unterscheidet sich vom Vorgänger jedoch durch eine komplett neue Hardware, die ihn u. a. noch schneller macht. Neben den abnehmbaren Spitzen „Standard“ und „SlimeLine“ (schmaler, kleiner) ist mit der neuen Scannergeneration zudem eine neue, Karies erkennende Spitze („Cariosity Tip“) erhältlich, sodass insgesamt drei autoklavierbare Aufsätze mit Anti-Beschlag-Funktion zur Verfügung stehen. Diese passen auch auf den Planmeca Emerald™. Der neue Planmeca Emerald™ S ist bereits lieferbar.

Ausblick

Für den nächstjährigen EOS-Kongress muss man nicht allzu weit reisen. Er findet vom 10. bis 14. Juni 2020 in der Hansestadt Hamburg statt und wird sich den beiden Hauptthemen „The role of orthodontics and dentofacial orthopaedics in oral health – an European update“ sowie „All about bone in orthodontics“ widmen. Tagungspräsidentin wird Prof. Dr. Bärbel Kahl-Nieke sein.

Dieser Beitrag ist in KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.

Foto: OEMUS MEDIA AG

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