Patienten 06.03.2023
„Für die MIH gibt es kein ‚One fits all‘-Konzept“
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Die Widerstandsfähigkeit der Zähne hängt von der Härte des Zahnschmelzes ab. Ist dieser zu schwach oder wird z. B. durch säurehaltige Lebensmittel wie Softdrinks abgebaut, können Erkrankungen wie Karies und Zahnverfärbungen entstehen oder die Zähne sogar brüchig werden. Im Zusammenhang mit schwächelnder Zahnhartsubstanz ist die sog. Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) ein viel diskutiertes Thema. Die Fallzahlen steigen an. Im folgenden Interview spricht Prof. Dr. Kathrin Bekes, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde, Vizepräsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinderzahnmedizin und Leiterin des Fachbereichs Kinderzahnheilkunde der Universitätszahnklinik Wien, über Ursachen sowie Therapie- und Präventionsmöglichkeiten von MIH.
Frau Prof. Dr. Bekes, warum ist die Molaren-Inzisiven- Hypomineralisation (MIH) inzwischen ein so brisantes Thema in der Zahnmedizin?
Die MIH – auch bekannt unter dem Begriff der Kreidezähne – stellt heute neben der Karies eine häufige Erkrankung der Zähne im Kindes- und Jugendalter dar. Sie kommt weltweit vor. Derzeit wird von einer durchschnittlichen Prävalenz von 13 bis 14 Prozent ausgegangen. Die aktuelle Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie für Deutschland zeigt, dass sogar knapp 30 Prozent der Zwölfjährigen betroffen sind. Das bedeutet, dass mehr als jedes vierte Kind mindestens einen von einer MIH befallenen Zahn in Deutschland in dieser Altersgruppe aufweist.
MIH ist eine entwicklungsbedingte Erkrankung der Zahnhartsubstanz, die sich vor allem bei Molaren und Inzisiven zeigt. Warum sind sich erst bildende Zähne davon betroffen? In welchem Alter tritt MIH in der Regel auf?
Eine MIH kann klinisch erst mit Eruption der betroffenen Zähne diagnostiziert werden. Dies ist in der Regel ab dem sechsten Lebensjahr der Fall. Die Schädigung selbst findet allerdings früher statt: in der Zahnentwicklung der betroffenen Zähne. Dies umfasst für die ersten bleibenden Molaren und die Inzisiven die Zeit kurz vor der Geburt bis zu den ersten Lebensjahren.
Verschiedene Faktoren führen zu MIH. Welche liegen Ihrer Erfahrung nach am häufigsten vor?
Die Ursache für das Auftreten der MIH ist bis jetzt noch nicht abschließend geklärt. Vermutet wird ein Zusammentreffen mehrerer Faktoren, die während des Zeitraums der Zahnentwicklung auf diese Zähne einwirken und zu einer Störung der Prozesse führt, die den Zahnschmelz bilden. Diskutiert werden ganz unterschiedliche Faktoren. Hierzu zählen: Probleme im letzten Monat der Schwangerschaft, Frühgeburt, häufige Erkrankungen in den ersten vier Lebensjahren, Durchfallerkrankungen, Fieberzustände und respiratorische oder bläschenbildende Erkrankungen. Jüngst wurden Bisphenol A sowie ein Vitamin-D-Mangel als weitere mögliche Auslöser genannt.1–4
MIH lässt sich oft schon auf den ersten Blick in der Zahnarztpraxis erkennen. Was sind die klassischen Anzeichen für MIH?
Die MIH tritt klassischerweise an einem und bis zu vier ersten bleibenden Molaren mit oder ohne Einbezug der bleibenden Inzisiven auf. Charakteristisch für die Erkrankung sind umschriebene Opazitäten von weißer, gelblicher oder brauner Farbe im Zahnschmelz und ggf. fortschreitende posteruptive Schmelzeinbrüche sowie möglicherweise das Auftreten von Überempfindlichkeiten an den Zähnen.
Wie kann MIH therapiert werden, welche Möglichkeiten haben sich in der Praxis besonders bewährt und welche sind vor allem auf lange Sicht erfolgreich? Wie sieht hierzu die aktuelle Studienlage aus?
Für die MIH gibt es kein „One fits all“-Konzept. Therapieoptionen müssen in Abhängigkeit vom vorliegenden Schweregrad einer MIH betrachtet werden. Generell umfassen die Behandlungsoptionen bei betroffenen Molaren die Intensivprophylaxe, Versiegelungen, restaurative Maßnahmen oder sogar die Extraktion. Unabhängig von der Schwere des Defektes sollten jedoch alle betroffenen Kinder in einem Intensivprophylaxeprogramm betreut werden. Weisen MIH-betroffene Molaren bereits posteruptive Schmelzeinbrüche auf, stehen für deren Restauration verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl, die von unterschiedlichen Faktoren abhängig sind: Patientenalter, Compliance, Ausdehnung und Qualität (Härte) der Zahnhartsubstanz sowie Schweregrad der MIH. Das Spektrum reicht von Glasionomerzementen, die ideal zur initialen und provisorischen Versorgung von frisch eruptierenden MIH-Molaren sind, über Stahlkronen als Langzeitprovisorium bis zu Kompositfüllungen oder indirekten Restaurationstechniken als definitive Versorgungsvariante.
Behandlung ist gut, Prävention ist besser. Welche Präven tionsmöglichkeiten gibt es für MIH?
Präventionskonzepte für die MIH müssen etwas differenzierter betrachtet werden. Eine Vermeidung der Entstehung der Erkrankung ist nicht möglich, da die ätiologischen Faktoren nicht hinreichend geklärt sind. Der Fokus liegt deshalb bei der Sekundärprävention, die das frühzeitige Erkennen der Krankheit umfasst. Sie hat zum Ziel, zumindest ansatzweise die Progression der MIH durch gezielte Behandlungen zu verhindern.
Remineralisierung des Zahnschmelzes erfolgt über den Einsatz von Fluorid. Wie sieht aktuell die Studienlage zum Einsatz im jungen Gebiss aus? Wofür werden Fluoride im Rahmen der Behandlung von MIH-Patienten eingesetzt?
Das Haupteinsatzgebiet der Fluoride bei MIH liegt unzweifelhaft im Rahmen der Kariesprophylaxe. Zudem wurde gemutmaßt, dass Fluoride auch in der Behandlung von Hypersensibilitäten bei MIH helfen könnten. Die Studienlage diesbezüglich ist jedoch immer noch nicht ausreichend.
Welche Folgen hat eine Nichttherapie von MIH, vor allem mit Blick auf das übrige Gebiss?
Auch dies hängt vom vorliegenden Schweregrad der MIH und dem Vorliegen einer Therapienotwendigkeit. So werden beispielsweise betroffene nicht hypersensible Molaren mit kleinen weißlichen Opazitäten lediglich in ein Prophylaxekonzept entsprechend des Kariesrisikos eingebunden. Weitere Therapiemaßnahmen sind vorerst nicht erforderlich. Stark destruierte überempfindliche Molaren hingegen bedürfen einer schnellen Versorgung, um die Kaufunktion wiederherzustellen und das Kind schmerzfrei zu bekommen.
Inzwischen wurde festgestellt, dass MIH bei Milchzähnen auftreten kann, die Milchmolaren-Hypomineralisation (MMH). Tritt diese bei bestimmten Milchzähnen besonders auf und welche Folgen hat die MMH für die späteren bleibenden Zähne?
Wie der Name bereits vermuten lässt, findet sich diese Strukturanomalie im Milchgebiss an den Molaren. In der Regel sind dies die zweiten Milchmolaren. Jüngst konnte in einer Metaanalyse gezeigt werden, dass Kinder mit einer MMH ein fünfmal höheres Risiko haben, auch eine MIH zu bekommen.5 Eine Erklärung dafür könntein den sich teilweise überschneidenden Entwicklungs- und Mineralisierungsphasen der beiden Zähne liegen. Wenn ein Risikofaktor genau während dieser Periode auftritt, kann sich die Hypomineralisation gleichzeitig im primären und permanenten Gebiss manifestieren.
Aktuell sind die Karieszahlen für Kinder und Jugendliche rückläufig. Die Fälle an MIH sind im Vergleich allerdings hoch. Daher eine abschließende Frage: Wie sehr beeinflusst MIH das Kariesrisiko und welche Zusammenhänge zwischen beiden Erkrankungen gibt es?
Generell gelten frühere Karieserfahrungen als ein wichtiger Prädiktor für das Entstehen neuer kariöser Läsionen. Interessanterweise zeigt sich bei der MIH jedoch, dass betroffene Kinder auch mit wenig Karieserfahrung früher von Karies betroffen zu sein scheinen als Patienten ohne MIH. Insbesondere die ersten bleibenden Molaren sind vermeintlich früh involviert. Allerdings sollte der vorliegende Schweregrad nicht außer Acht gelassen werden. Mild betroffene Molaren ohne Hypersensibilitäten weisen ein geringeres Risiko auf als stärker fehlstrukturierte Molaren mit Überempfindlichkeiten, die nicht gut geputzt werden können.
Frau Prof. Bekes, vielen Dank für das Gespräch.
Eine Literaturliste steht ihnen hier zum Download zur Verfügung.
Dieser Beitrag ist im Prophylaxe Journal erschienen.