Branchenmeldungen 19.08.2022
Künstliche Intelligenz in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie
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Künstliche Intelligenz (KI) gilt über fast alle Branchen hinweg als einer der Schlüsselfaktoren für die künftige Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Europas. Auf Basis des Stands der Technik zeigt sich, dass für eine reproduzierbare Herstellung von patientenspezifischen Implantaten (PSI) das Zusammenspiel von medizinischer Bildgebung, Implantatdesign und Fertigungstechnologie mittels Methoden des maschinellen Lernens unabdingbar ist. So kann eine automatisierte, qualitativ hochwertige und somit nachhaltige und kosteneffiziente Patientenversorgung sichergestellt werden. Im Interview stellt Univ.-Prof. Dr. Dr. Ralf Smeets, stellvertretender Direktor der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, sein aktuelles EU-gefördertes Forschungsprojekt „DigiMed“ vor und geht auf die Vorteile des Einsatzes von KI für die (Zahn-)Medizin ein.
Herr Prof. Smeets, der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) wird in der Medizin schon seit einigen Jahren erprobt. Wie ist der Stand in der Oralchirurgie bzw. Zahnmedizin und welche Vorteile hat der Einsatz von KI?
In der Radiologie und Zahnmedizin ist die KI mittlerweile sogar klinisch erprobt. Es gibt einige Unternehmen, die ihre medizinische Software als Medizinprodukt für die Unterstützung der Ärzte zur Diagnostik im klinischen Alltag integriert haben. Somit kann ein „standard of care“ gewährleistet werden, da weniger übersehen wird. Auch für den Patienten wird die Diagnostik nachvollziehbarer aufgrund der farblichen Interaktion von KI und Bild. Des Weiteren kommt es zur Zeitersparnis, da oft-mals ein Befund automatisch erstellt wird.
Am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) leiten Sie derzeit das Projekt „DigiMed – Digitale Wertschöpfungsketten für die Medizintechnik anhand der additiven Fertigung patientenspezifischer gesichtschirurgischer Implantate“. Bitte stellen Sie dieses Projekt vor.
Die Vision des Projekts „DigiMed“ ist es, Bildgebungsdaten aus der Diagnostik zu nutzen und diese mittels KI automatisiert in ein jeweils dem individuellen Fall angepasstes Implantatdesign zu überführen und zusätzlich die automatisierte Fertigung und Dokumentation der patientenspezifischen Implantate (PSI) zu realisieren. Die neue Technologie kommt zunächst bei patientenspezifischen Gesichtsimplantaten zum Einsatz, die für einen frakturierten Orbitaboden – etwa nach Unfällen – erstellt werden, und wird in den kommenden Monaten u.a. auch für die Generierung von 3D-gedruckten Trinkplatten bei Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, implantologischen Bohrschablonen, Splinte für Dysgnathieoperationen, CMDSchienen und für Modelle nach Operationen bei Schädelfehlbildungen angewendet.
Ebenfalls präklinisch etabliert sind 3D-gedruckte individuelle patientenspezifische resorbierbare Osteosyntheseplatten (Abb. 1) aus Magnesium. Darüber hinaus wird aktuell aktiv an der Entwicklung 3Dgedruckter Gesichtsepithesen aus Silikon (Abb. 2)sensorunterstützter Helme (intelligente Helme) für die Therapie von Schädelfehlbildungen (Kopforthesen) und perspektivisch an dem „3D-Druck von Blut“ (Bioprinting) geforscht. Ein Bruch der Augenhöhle (Orbitaboden) gehört zu den häufigsten Gesichtsverletzungen und erfolgt in der Regel infolge einer punktuellen Gewalteinwirkung auf das Auge. Typisch sind Schlag- oder Sportverletzungen. Ebenso kann ein solcher Bruch infolge eines schweren Zusammenpralls mit einer anderen Person oder einem Gegenstand entstehen. Bei einer schweren Verletzung ist die Operation und der Einsatz von Titanimplantaten zur Stabilisierung der Augenhöhle angezeigt. Durch die in der Regel schwere Zugänglichkeit der Augenhöhle für die Behandlung ergibt sich ein besonderer Bedarf an patientenspezifischen Lösungen, um eine hohe Passgenauigkeit der Implantate und ein Einbringen des Implantats während der Operation möglichst ohne manuelle Anpassungen zu gewährleisten. Eine wesentliche Hürde für den Einsatz von PSI in diesem Bereich ist die aktuell sehr lange Vorlaufzeit von bis zu zehn Tagen von der Diagnose bis zur Bereitstellung des Implantats. Dies liegt an der aufwendigen Abfolge von Einzelschritten in der Implantatentstehung. Nach dem Stellen der Diagnose und der Auswertung der CT-Aufnahmen des Patienten muss zunächst manuell ein Rekonstruktionsmodell des verletzten Orbitabodens erstellt werden, aus dem das Implantatdesign abgeleitet und gefertigt wird. Bis das PSI eingesetzt werden kann, vergehen nach heutigem Stand der Technik zehn Tage von der Bildgebung bis zur Operation. Die im Projekt „DigiMed“ angestrebten Forschungsarbeiten zielen daher auf eine nachhaltige Verbesserung der Patientenversorgung mit individuell angepassten Orbitabodenimplantaten ab. Hierzu ist es essenziell, den langsamen und von vielen manuellen Einzelschritten geprägten Entstehungsprozess durch Entwicklung maßgeschneiderter digitaler Bildgebungs-, Design- und Fertigungsstrategien nachhaltig zu verbessern und diese zu einer durchgängigen digitalen Wertschöpfungskette zusammenzuführen.
Zunächst erfolgt eine KI-basierte und automatische Erstellung von Rekonstruktionsmodellen und Implantatgeometrien aus den Bildgebungsdaten. Diese Daten können direkt zur Erstellung des PSI mittels additiver Fertigung (AM, engl.: additive manufacturing) genutzt werden. Die Fertigungsparameter werden dabei automatisch an die individuellen Implantatgeometrien angepasst. Hierdurch soll eine Reduktion von Kosten und Dauer des Prozesses um bis zu 40 Prozent und eine Erhöhung der Implantatqualität um bis zu 30 Prozent erzielt werden. Insgesamt wird erwartet, den Zeitraum von der Diagnostik bis zum Einsatz des PSI um bis zu 50 Prozent von zehn auf fünf Tage zu verringern. Zur Validierung wird die gesamte Wertschöpfungskette von der Diagnostik bis zum PSI am Projektende einmal mit den neu entwickelten Methoden und Prozessen durchlaufen.Mit der Umsetzung der digitalen Prozesse geht die Entlastung von Personalressourcen bei der Diagnose, der Implantatvorbereitung und -fertigung sowie Operationsplanung einher. Der schnelle Transfer der Ergebnisse in die Anwendung wird durch die Entwicklung einer zertifizierungskonformen Dokumentation im Hinblick auf eine spätere Zulassung des Medizinprodukts unterstützt.
Welche Ziele hat sich das Projekt gesetzt?
Das übergeordnete Ziel des EFRE Projekts DigiMed ist es, eine nachhaltige Sicherung der Patientenversorgung mit individuell angepassten Implantaten (Abb. 3) zu erreichen. Dieses soll durch unabhängige FuE zur Erkenntnisgewinnung im Forschungsverbund von IAPT (Fraunhofer-Einrichtung für Additive Produktionstechnologien), UKE und HSU (HelmutSchmidt-Universität) realisiert werden. Das Ergebnis des Vorhabens beläuft sich auf eine prototypische durchgehend digitale Wertschöpfungskette für patientenspezifische Implantate (PSIs; Abb. 4 und 5) aus der Gesichtschirurgie, die KI-basiert erzeugt und mittels additiver Fertigung hergestellt werden.
Der Hauptfokus des Projekts liegt aktuell auf Gesichtsimplantaten. Wie lassen sich die gewonnenen Erkenntnisse auf die Kiefer- und Oralchirurgie übertragen?
Im Rahmen dieses Projekts wird daher die notwendige Datenbasis geschaffen, um aus Bildgebungsdaten Rekonstruktionsmodelle zu erstellen. Mit diesen können dann druckfähige Datensätze mittels KI-Algorithmus generiert werden, welche anschließend mittels additiver Fertigungsverfahren (3D-Druck) in patientenspezifische Implantate überführt werden können (Abb. 6).
Erstmals wird solch eine Wertschöpfungskette entwickelt und abschließend demonstriert. Der Erfolg und das Ergebnis des Projekts sind wiederum von einzelnen Teilergebnissen abhängig, die einzeln, teilweise aufeinander aufbauend, erarbeitet und schlussendlich in die durchgängige Prozesskette integriert werden (Abb. 7).
Wie wird KI die Oralchirurgie und Zahnmedizin in Zukunft insgesamt verändern können?
Die KI wird die MKG-Chirurgie/Oralchirurgie/Zahnmedizin einheitlicher machen und Prozesse optimieren. Sie wird menschliche Fehler korrigieren können und somit die Planungen genauer, reproduzierbarer und schneller machen.
Herr Prof. Smeets, herzlichen Dank für das Gespräch.
Dieser Beitrag erschien in dem Oralchirurgie Journal.