Branchenmeldungen 11.02.2022
Zahnbekenntnisse – Prof. Dr. Dietmar Oesterreich blickt zurück
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Beruflicher Erfolg ist selten ein sofortiger Ist-Zustand, sondern eine Entwicklung über längere und kürzere Etappen, die auch Herausforderungen, Kompromisse und Momente eines (vorübergehenden) Scheiterns einschließt. Doch gerade die Tiefen und Durststrecken machen den späteren Erfolg umso wertvoller. Das nachfolgende Interview mit Prof. Dr. Dietmar Oesterreich ist die Fortführung des aktuellen Beitrages „Zahnbekenntnisse – Macht Fehler! (und sprecht darüber)“ aus der aktuellen ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis 1+2/2022.
Er hat die Berufspolitik der letzten Jahrzehnte maßgeblich mitgeprägt, immer wieder hinterfragt, Reformen angestoßen und umgesetzt: Prof. Dr. Dietmar Oesterreich, Fachzahnarzt für Allgemeine Stomatologie aus Stavenhagen, ehemaliger Präsident der Zahnärztekammer Mecklenburg-Vorpommern und früherer Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer (BZÄK).
Herr Prof. Oesterreich, Sie verabschieden sich nach mehr als 30 Jahren aus der aktiven Berufspolitik. Aus Ihren Erfahrungen, die Sie in den zahlreichen Ämtern und durch Sie verantwortlich geleiteten Projekten gewonnen haben – Welche Empfehlungen geben Sie Studierenden und jungen Zahnärztinnen und Zahnärzten mit auf den beruflichen Weg?
Als ich vor über 31 Jahren im Osten Deutschlands in die zahnärztliche Berufspolitik kam, war die Situation längst nicht vergleichbar mit heute. Nach dem Fall der Mauer galt es, ein neues Gesundheitssystem in den neuen Bundesländern aufzubauen. Das setzte eine zahnärztliche Selbstverwaltung voraus. Und diese musste quasi aus dem Nichts heraus aufgebaut werden, da anfänglich nur eingeschränkte gesetzliche Grundlagen vorhanden waren.
Hilfe dabei bekamen wir von vielen Kolleginnen und Kollegen aus den alten Bundesländern. Trotzdem mussten insbesondere die Belange der Zahnärzteschaft in Mecklenburg-Vorpommern berücksichtigt werden.
Trotz der Euphorie und der Chancen sowie Möglichkeiten gab es aber auch Ängste und Unsicherheiten in der breiten Kollegenschaft, denn schließlich wurden auch Risiken eingegangen. Vor diesem Hintergrund setzte sich der gewählte Vorstand der Zahnärztekammer auch aus neun Personen zusammen, die das gesamte Spektrum der damals tätigen Kolleginnen und Kollegen repräsentierten. Mit der Gesundheitspolitik im Land gab es eine sehr pragmatische Zusammenarbeit, die viele politische Gestaltungsmöglichkeiten zuließ.
Erste Empfehlung
Nachhaltige Veränderungen müssen von einer Mehrheit getragen werden, damit sie umsetzbar und im wahrsten Wortsinn tragfähig sind. Das setzt voraus, dass möglichst repräsentative Querschnitte des Berufsstandes an den Lösungsmöglichkeiten beteiligt sind. Sei kreativ und nutze die Gestaltungsmöglichkeiten.
Zeitgleich mussten die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Betrieb einer zahnärztlichen Praxis in eigener Niederlassung geschaffen werden. Deshalb setzte sich die Zahnärztekammer intensiv für die Gründung der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Mecklenburg-Vorpommern ein. Nur durch diese Gründung gab es eine Vertretung unserer Interessen gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen.
Zweite Empfehlung
Ohne Unterstützung geht es nicht! Nimm Hilfe an und fördere selbst aktiv Organisationen oder andere Einrichtungen, deren Aufgaben entweder du nicht selbst leisten kannst oder die nicht durch deine Organisation erfüllt werden können.
Eine zentrale Aufgabenstellung der Zahnärztekammer war und ist die Organisation der zahnärztlichen Fort- und Weiterbildung. Praktisch tätige Zahnärztinnen und Zahnärzte sind verpflichtet, wissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen. Daraus ergab sich die Aufgabenstellung, gemeinsam mit der zahnärztlichen Wissenschaft Fort- und Weiterbildung zu organisieren und auf hohem wissenschaftlichen Niveau anzubieten. Es lag nahe, die wissenschaftliche Fachgesellschaft, die sich ebenso in Umstrukturierungsprozessen befand, jedoch das wissenschaftliche Know-how unserer Hochschulen in Rostock und Greifswald repräsentierte, zu nutzen. Somit wird seit diesem Zeitpunkt der Zahnärztetag als gemeinsame Veranstaltung ausgerichtet und in der Fort- und Weiterbildung intensiv mit der Mecklenburg-Vorpommerschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde an den Universitäten Greifswald und Rostock zusammengearbeitet.
Dritte Empfehlung
Suche Allianzen mit wichtigen vorhandenen Partnern und nutze die Gemeinsamkeiten zum gegenseitigen Vorteil. Davon profitiert dein Berufsstand genauso wie du selbst und die Patienten.
In den Aufbaujahren der Selbstverwaltung in Mecklenburg-Vorpommern galt es gleichzeitig, die Interessen im Verbund der Zahnärzteschaft in Deutschland, also der BZÄK, zu vertreten. Als Mitglied des Vorstandes der BZÄK und im Rahmen der zahlreichen Koordinierungskonferenzen der BZÄK war es Aufgabe des Kammerpräsidenten und der zuständigen Referenten, sich hier einzubringen. Über die Interessenvertretung hinaus ging es aber auch darum, besondere fachpolitische Akzente zu setzen. Sowohl in der zahnärztlichen Aus- und Fort- als auch in der Weiterbildung gab es im Osten Deutschlands eine stärkere Orientierung hin zur zahnmedizinischen Prävention. Diese Erfahrungen konnte man nutzen.
Vierte Empfehlung
Bringe dich ein in bundesweite Gremien und setze eigene Akzente. Erkenne deine besonderen Stärken und Kompetenzen.
Anfänglich gab es sehr viele Widerstände gegenüber der zahnmedizinischen Prävention, denn Abrechnungsbestimmungen der gesetzlichen Krankenversicherung honorierten diesen Ansatz kaum. Das bestehende Gesundheitssystem war primär auf Reparatur ausgerichtet. Sowohl internationale Erfahrungen als auch die öffentliche Kritik an den Ergebnissen der Mundgesundheit in Deutschland – Deutschland lag damals im hinteren Mittelfeld – zeigten jedoch die Notwendigkeit der Umorientierung. Aber nicht allein der Berufsstand selbst konnte dies schaffen, sondern die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Praxen waren für die Unterstützung und Umsetzung wichtige Partner. Somit hieß es, auch für sie gezielte fachliche Fortbildungen zu entwickeln und unter Beachtung der berufsrechtlichen Bedingungen die Strukturen in den Praxen für die Umsetzung einer präventionsorientierten Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde zu verändern.
Fünfte Empfehlung
Sei nachhaltig, erkenne wichtige Trends, nutze Erfahrungen und werde zum Teamplayer.
Gleichzeitig war es aber auch wichtig und notwendig, die Patienten auf diesem Weg mitzunehmen, zumal sie auch selbst finanzielle Ressourcen dafür zur Verfügung stellen müssen. Es galt also, Patienten nicht zu überreden, sondern zu überzeugen, dass sie selbst durch eine Verhaltensänderung, unterstützt durch die zahnärztliche Praxis, viel für die Erhaltung ihrer Mundgesundheit tun können. Dies war der Zeitpunkt, zu dem die sogenannte „sprechende Zahnmedizin“ nicht nur notwendig, sondern zentral für den Erfolg einer Praxis wurde.
Sechste Empfehlung
Nicht überreden, sondern überzeugen und die Patienten zum Partner für die Erhaltung ihrer Mundgesundheit machen.
Zu Beginn der 2000-er Jahre wurden die demografischen Veränderungen in Deutschland sowohl in der Öffentlichkeit als auch in den zahnärztlichen Praxen deutlicher sichtbar. Die Demografie zeigte uns unweigerlich die Herausforderungen der Zukunft auf. Heute ist jeder zweite Patient in einer zahnärztlichen Praxis über 60 Jahre alt. Für die zunehmende Betreuung der älter werdenden Generation, oftmals einhergehend mit Multimorbidität und sogar Pflegebedürftigkeit, bedurfte es einer Neuausrichtung der Praxen, aber auch der gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen.
Als ich selbst im Jahr 2006 auf einer Bundesversammlung den Leitfaden Präventionsorientierte ZahnMedizin unter den besonderen Aspekten des Alterns vorstellte, wurde ich noch etwas belächelt. Trotz der Unterstützung von Herrn Prof. Kruse, dem obersten Altenforscher der Bundesregierung, waren viele der Delegierten noch nicht davon überzeugt, dass eine gezielte Ausrichtung auf diese Patientengruppe notwendig ist. Somit mussten durch gezielte Überzeugungsarbeit, Fortbildung, aber auch die Gestaltung gesundheitspolitischer Rahmenbedingungen, die Voraussetzungen dafür erarbeitet werden. Gemeinsam mit Wissenschaft, KZBV und BZÄK ist es gelungen, über die Entwicklung des sog. AuB-Konzeptes die notwendigen gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Siebte Empfehlung
Sei vorausschauend, suche Partner für die Durchsetzung deiner Ziele und lasse dich nicht entmutigen, wenn du gute Argumente besitzt.
Bereits zu Beginn der 90er-Jahre wuchs die Erkenntnis in den zahnärztlichen Selbstverwaltungen, dass es gesellschaftlich notwendig ist, das eigene Handeln und die Effekte der zahnärztlichen Versorgung transparenter zu gestalten. Die Einbindung der Sozialwissenschaften in die fachpolitischen Entscheidungen war dabei von zentraler Bedeutung. So entstanden die Deutschen Mundgesundheitsstudien, die regelmäßig und bevölkerungsrepräsentativ die Entwicklung der Mundgesundheit und damit die Effekte der zahnmedizinischen Versorgung dokumentieren.
Diese zeigten nicht nur die Notwendigkeit einer präventiven Neuorientierung der Zahnmedizin in Deutschland auf, sondern darüber hinaus wiesen sie deutlich darauf hin, dass Krankheitsentstehung in der Zahnmedizin genau wie in der Medizin einem biopsycho-sozialen Krankheitsverständnis folgen. Besonders vulnerable Patientengruppen als auch Menschen in sozial schwierigen Lebenslagen weisen wie in der Medizin deutlich höhere Krankheitslasten auf.
Achte Empfehlung
Sorge für Transparenz deiner Tätigkeit. Scheue dich nicht vor unangenehmen Wahrheiten. Ziehe daraus die richtigen Konsequenzen.
Die Erkenntnisse zur Mundgesundheitssituation wiesen gleichzeitig auf die Notwendigkeit zur Herstellung gesundheitlicher Chancengleichzeit hin. Trotz unseres guten Gesundheitssystems gibt es Menschen, für die der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen nur mit erheblichen Schwierigkeiten und Hürden verbunden sind. Eine Krankenversicherung ist leider nicht für alle Menschen selbstverständlich. Obdachlose, Menschen mit Suchterkrankungen und auch Geflüchtete gehören ggf. dazu. Bei einem Heilberuf ist es wichtig, für seine Patienten – unabhängig von ihrer Herkunft – da zu sein. Zahlreiche inländische Hilfsprojekte der Zahnärzte bieten dafür die Möglichkeit.
Neunte Empfehlung
Engagiere dich für vulnerable Bevölkerungsgruppen und Menschen in sozial schwierigen Lebenslagen. Erweitere deine soziale Kompetenz.
Aus der Notwendigkeit einer lebensbegleitenden Prophylaxe liegt es nahe, bereits für Kleinkinder entsprechende Maßnahmen zu entwickeln. Die Entwicklung von gruppenprophylaktischen Betreuungsangeboten gemeinsam mit den gesetzlichen Krankenkassen, organisiert über die Landesarbeitsgemeinschaften und mit Beteiligung niedergelassener Zahnärztinnen und Zahnärzte, war dabei ein wichtiger Schritt.
Auch bei der frühkindlichen Karies galt es, gesundheitspolitische Rahmenbedingungen zu schaffen, die neben der kinderärztlichen auch frühzeitige zahnmedizinische Prävention ermöglichen. Mit dem Konzept „Frühkindliche Karies vermeiden“, wiederum gemeinsam von Wissenschaft, KZBV und BZÄK entwickelt, galt es, auf Grundlage der Tatsache, dass Milchzahnkaries die häufigste Erkrankung des Kleinkindes ist, Voraussetzungen für eine deutliche Verbesserung der Situation zu schaffen. Die Synergien zwischen den Gruppen- und individualprophylaktischen Ansätzen waren dabei offenkundig. Was liegt näher, als Kinder in ihrem natürlichen Umfeld, wie Kitas und Schulen (Settings), zu erreichen und in der Gruppe präventive Inhalte zu vermitteln? In der zahnärztlichen Praxis erweisen sich gezielt fortgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als wesentliche Bezugsperson.
Zehnte Empfehlung
Engagiere dich in der Gruppenprophylaxe, richte deine Praxis sowohl auf die Ältesten als auch auf die Jüngsten ein. Nutze dein Team.
Mittlerweile ist sichtbar, dass die demografische Veränderung auch uns selbst als Berufsgruppe betrifft. Gerade in Mecklenburg-Vorpommern wird diese Entwicklung sehr deutlich und hat absehbar nachhaltige Auswirkungen auf die zahnmedizinische Versorgung. Bereits 2009 habe ich diese Entwicklung sowohl in unserem Bundesland als auch auf Bundesebene aufgezeigt. Bisher ist leider wenig geschehen. So wurde mir sogar von Berufsorganisationen das Aufzeigen dieser Entwicklungen für den ländlichen Raum untersagt. Mittlerweile kann man sich auch dort den Entwicklungen nicht mehr verschließen. Erste zaghafte Ansätze gibt es, die jedoch noch keine Lösung für die flächendeckend wohnortnahe Versorgung unserer Patienten sind. Entscheidend ist, zu erkennen, dass der ländliche Raum für das Berufsleben zahlreiche Vorteile besitzt. So ist der berufliche Wettbewerb deutlich geringer, das kollegiale Verhältnis zu allen medizinischen Berufsgruppen besser und das Vertrauensverhältnis zwischen Patienten und Zahnarzt stärker ausgeprägt.
Elfte Empfehlung
Bei der Wahl deines Berufsstandortes berücksichtige die Gegebenheiten und Vorteile des ländlichen Raums. Nicht in jedem Fall bringt das städtische Umfeld einen Mehrwert.
Gesundheitspolitische Rahmenbedingungen haben dafür gesorgt, dass zahnärztliche Praxen zunehmend mit Angestellten geführt werden oder sich MVZs entwickeln. Zwischenzeitlich hat die Anzahl der angestellten Zahnärztinnen und Zahnärzte weit über ein Viertel aller beruflichen tätigen Zahnmediziner erreicht. Trotzdem sind in den Gremien der Landeszahnärztekammern kaum angestellte Zahnärztinnen und Zahnärzte vertreten. Um die spezifischen Belange dieser Zahnärztinnen und Zahnärzte entsprechend zu berücksichtigen, bedarf es einer zukünftigen Veränderung der Gremienzusammensetzungen.
Zwölfte Empfehlung
Angestellte Zahnärztinnen und Zahnärzte sollten sich in den berufspolitischen Gremien der Kammern engagieren. Kontaktiere deine Kammer und überlege, wie du dich auch als angestellte Zahnärztin bzw. angestellter Zahnarzt einbringen kannst.
Zweifelsohne ist die zahnmedizinische Ausbildung an den Hochschulen in Deutschland auf einem hohen Niveau. Die neue Approbationsordnung beinhaltet nachhaltige Herausforderungen für die Hochschulen. Im Rahmen der Vorbereitung auf die berufliche Tätigkeit nehmen dabei Erkenntnisse aus dem zahnärztlichen Versorgungsgeschehen zukünftig einen breiteren Raum ein. Über Famulaturen werden den Studentinnen und Studenten Einblicke in den zahnärztlichen Praxisalltag gewährt. Gleichzeitig bietet die Aufwertung der Berufskundevorlesungen im Rahmen der neuen Approbationsordnung eine weitere Möglichkeit, Erkenntnisse aus der zahnärztlichen Berufsausübung zu gewinnen und bereits dem Studierenden die Notwendigkeit von weiterer Fortbildung als Absolvent auch in diesem Bereich zu vermitteln.
Dreizehnte Empfehlung
Nutze die Famulaturen und die Berufskundevorlesungen, um dich bereits im Studium mit Wissen für die Praxis auszurüsten.
Die Medizin nimmt im Rahmen der zahnärztlichen Ausbildung einen breiten Raum ein. Nicht zuletzt durch den demografischen Wandel wächst die Rolle und Bedeutung der medizinischen Anamnese der Patienten für die Versorgungsentscheidung. Auch stehen Erkrankungen der Mundhöhle und Zahnverluste, insbesondere bei Parodontalerkrankungen, sehr viel stärker in einem medizinischen Kontext. Die Interaktionsnotwendigkeiten mit den medizinischen Fachgruppen wächst kontinuierlich.
Die Erkenntnisse der Zusammenhänge zwischen medizinischen und zahnmedizinischen Erkrankungen sind offenkundig. Zahnmedizin ist ein integraler Bestandteil des medizinischen Fächerkanons.
Vierzehnte Empfehlung
Von jedem Zahnarzt wird ein hohes Maß an medizinischer Kompetenz gefordert. Du bist Zahn-Mediziner.