Wissenschaft und Forschung 12.02.2016
Früher menschlicher Vorfahre konnte nicht mehr kräftig zubeißen
Bisher dachte man, dass alle Australopithecinen gut angepasst waren an das harte Zubeißen und Öffnen von Nüssen und Samenkörnern mit ihren großen Mahlzähnen. Der chronologisch gesehen jüngste Vertreter, Australopithecus sediba, der auf ca. zwei Millionen Jahre datiert wurde, scheint aber diesen Anpassungspfad bereits verlassen zu haben: Er weist kleinere Zähne auf als seine Verwandten. Ein internationales ForscherInnenteam unter Beteiligung von Gerhard Weber von der Universität Wien konnte zeigen, dass weder Kiefer noch Zähne an eine harte Nahrung angepasst waren. Dies gelang mit Hilfe einer biomechanischen Computersimulation, die virtuelle Kopien der Australopithecinen-Schädel nutzt.
„Die meisten Australopithecinen zeigen erstaunliche Anpassungen
ihrer Kiefer, Zähne und Gesichter, die ihnen erlaubten, Nahrung zu
erschließen, die sehr schwer zu öffnen oder zu kauen war. Unter anderem
konnten sie sehr effizient enorme Beißkräfte entwickeln“, sagt
Teamleiter David Strait von der Washington University in St. Louis/USA. „Australopithecus sediba wird von einigen Forschern mit der Entstehung
unserer Gattung Homo in Zusammenhang gebracht“, erzählt der noch junge
Erstautor der Studie, Justin Ledogar von der University of New England
in Australien, „aber wir haben herausgefunden, dass er bezüglich seiner
Beißfähigkeiten starke Einschränkungen hatte: Bei festem Zubeißen hätte
er sich den Kiefer ausgerenkt“.
Die Studie beschreibt biomechanische Tests von Computermodellen des
Australopithecus sediba und anderen Hominiden, Schimpansen inklusive.
Der originale fossilisierte Schädel, der 2008 in Malapa nahe
Johannesburg in Südafrika gefunden wurde, konnte mit Hilfe der
Computer-Tomographie digitalisiert werden. Dann wurden ähnliche
Verfahren angewandt wie jene, die Ingenieure nutzen um Flugzeuge, Autos
oder Maschinenteile auf ihre Festigkeit oder Verformbarkeit zu testen.
„Virtuelle Anthropologie“ ermöglicht Herstellung von Computermodellen
„Die traditionellen Methoden der Anthropologie mit Gleitzirkel und
Messglas wurden längst abgelöst durch die Verfahren der 'Virtuellen
Anthropologie', bei der dreidimensionale Daten von Objekten mit
ausgefeilten mathematisch-statistischen Methoden analysiert werden“,
erklärt Gerhard Weber vom Department für Anthropologie der Universität
Wien, einer der Pioniere der in den letzten 15 Jahren entstandenen
Forschungsrichtung. Weber und sein Team an der Universität Wien arbeiten
seit einiger Zeit eng mit dem amerikanischen Team zusammen. Ihre
Aufgabe ist die Herstellung von virtuellen Fossil-Modellen, die dann den
weiteren digitalen biomechanischen Experimenten ausgesetzt werden
können. Auch die in Wien entwickelten Methoden zur Vermessung der
Geometrie von Schädeln und anderen Objekten werden in dieser Studie
eingesetzt, um z.B. die Stichprobe von Vergleichsschädeln auf einige
wenige zu reduzieren, nämlich jene, die die größtmögliche
Gestaltvariation aufweisen. Das ist notwendig, weil die biomechanische
Simulation technisch sehr aufwendig ist und nur mit wenigen Objekten
anstatt mit großen Samples durchgeführt werden kann.
„Ernährung als Schlüssel zum Evolutionsverständnis“
Australopithecinen tauchen in der Fossilgeschichte vor ca. vier
Millionen Jahren auf. Obwohl sie bereits einige menschliche Merkmale
haben, wie die Fähigkeit aufrecht auf zwei Beinen zu gehen, fehlen ihnen
andere charakteristische Eigenschaften – wie ein großes Gehirn, ein
flaches Gesicht mit kleinen Kiefern und Zähnen, und der erweiterte
Gebrauch von Werkzeugen. Heutige Menschen der Gattung Homo sind mit
großer Wahrscheinlichkeit Abkömmlinge eines australopithecinen
Vorfahren. Australopithecus sediba ist einer der Kandidaten, der
entweder unser direkter Ahne war oder zumindest einem solchen ähnlich.
Die neue Studie beschäftigt sich zwar nicht direkt mit der Frage, ob
Australopithecus sediba ein sehr naher evolutionärer Verwandter von Homo
war oder nicht, aber sie liefert weitere Hinweise dafür, dass Ernährung
im Kontext evolutionärer Anpassungen ein bedeutender Faktor war.
„Homo, und besonders wir moderne Menschen, haben relativ gesehen einen
sehr kleinen Kauapparat, weil wir uns auf weichere und energiereichere
Nahrung umgestellt haben, und auch Verfahren zur Zubereitung entwickelt
haben“, erklärt Weber weiter. „Ein guter Anteil von Fleisch in der
Ernährung und die Zerkleinerung mit Hilfe von Werkzeugen und schließlich
das Kochen von Nahrung machte einen mächtigen Kauapparat überflüssig“.
Die evolutionären Strategien gingen also in der Zeit der Entstehung von
Homo auseinander. Während der eine Zweig von Australopithecinen noch
mächtigere Kiefer und Zähne entwickelte, reduzierte der andere Zweig
(Homo) diese Merkmale und entwickelte ein größeres Gehirn und
fortschrittlicheren Werkzeuggebrauch.
Ob Australopithecus sediba hier eine ausgestorbene Variante darstellt
oder zu uns führt, ist noch unklar, aber er zeigt immerhin, dass auch
bei manchen Australopithecinen ein Reduktionstrend bemerkbar ist. Obwohl
Australopithecus sediba wohl gelegentlich noch sehr harte Nahrung zu
sich nahm (das zeigen einige Spuren an den Zähnen), war er sicher nicht
mehr gut angepasst daran, dauerhaft hohe Beißkräfte zu entwickeln.
Interessanterweise zeigt er auch eine weiter entwickelte fingerfertige
Hand. „Vielleicht ein Hinweis darauf, dass dieser späte
Australopithecine schon recht häufig Werkzeuge benutzte, um seine
Nahrung aufzuschließen“, spekuliert Weber abschließend.
Quelle: idw-online