Wissenschaft und Forschung 04.06.2012
Neuer Kaumuskeltyp entdeckt
Berliner Museums-Seeigel im Magnetresonanz- und Computertomographen
Seeigel
sind zumeist Allesfresser und nutzen für ihre teilweise zerstörerischen
Fraßzüge durch Algenwälder und Korallenriffe den für sie typischen
Kauapparat, die Laterne des Aristoteles - benannt nach dem griechischen
Universalgelehrten, der als erster in seiner Historia animalium die
Kiefer der Seeigel als "Laterne mit herumgelagerter Haut" beschrieb.
Dieses Organ besteht aus vielen beweglichen Kalkelementen sowie fünf
mächtigen Zähnen. Wie der menschliche Kiefer wird auch die „Laterne des
Aristoteles“ durch eine starke Kaumuskulatur angetrieben. Forscher der
Harvard University, der Freien Universität Berlin, des
Leibniz-Institutes für Molekulare Pharmakologie in Berlin-Buch, des
Universitäts-klinikums Münster, sowie des Helmholtz-Zentrums Geesthacht
haben nun bei Seeigeln ein neuartiges Muskeldesign bei einem Teil der
genannten Kaumuskulatur entdeckt.
Wie die Wissenschaftler im Fachblatt PLoS ONE berichten, weisen einige
nah verwandte Seeigelarten eine stark modifizierte Kaumuskulatur auf.
Diese unterscheidet sich von der bei den meisten Seeigeln vorkommenden
regulären Kaumuskulatur durch ihre kühlrippenartige Grobstruktur. Ein
solch spezialisierter Muskeltyp stellt eine Besonderheit im Tierreich
dar. Die Entdeckung des neuartigen Muskels haben die Forscher in erster
Linie der umfangreichen historischen Sammlung des Berliner Museums für
Naturkunde zu verdanken. Mithilfe zweier nicht-invasiver bildgebender
Verfahren, nämlich der Magnetresonanz- und der Computertomographie,
wurden Dutzende Seeigelarten aus den Beständen des Museums für
Naturkunde untersucht. Obwohl die genaue Funktion des veränderten
Muskeltyps noch ungeklärt ist, gehen die Forscher derzeit davon aus,
dass es bei bestimmten Seeigeln zu einer Verbesserung der
biomechanischen oder physiologischen Funktion der „Laterne des
Aristoteles“ gekommen ist. Damit hätte diese hochkomplexe Struktur mehr
evolutive Veränderungen erfahren, als zuvor angenommen.
Wie der Kurator für marine Wirbellose des Museum für Naturkunde, Dr.
Carsten Lüter, unterstreicht, stellt die Nutzung von Museumsexemplaren
mittels modernster diagnostischer Verfahren einen zukunftsweisenden
Ansatz dar: "Die hier angewandten nicht-invasiven und damit
materialschonenden Bildgebungsverfahren entlocken auch den z.T. seit
über hundert Jahren im Museum konservierten Tieren bislang unbekannte
Merkmale für die Forschung. Schöner kann man die Bedeutung umfangreicher
historischer Sammlungen für die moderne Evolutions- und
Biodiversitätsforschung nicht unter Beweis stellen", sagt Lüter.
Einmal aufgezeichnet stehen die in dem Projekt generierten 3D-Datensätze
der Wissenschaft dauerhaft für weitere Untersuchungen zur Verfügung.
Der Nutzen für die historischen Objekte ist dabei offensichtlich, da
eine ständige Ausleihe und wiederholte physische Handhabe der Tiere
entfallen kann - ein Pluspunkt für deren langfristige, unbeschadete
Konservierung.
Veröffentlichung:
http://www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0037520
Alexander Ziegler, Leif Schröder, Malte Ogurreck, Cornelius Faber,
Thomas Stach (2012) Evolution of a muscle design in sea urchins
(Echinodermata: Echinoidea). PLoS ONE 7(5): e37520