Patienten 21.02.2011
Barrierefreie Praxis - Ein ganz "normaler" Arztbesuch
In Ihrer Praxis sollen sich die Menschen wohlfühlen, von einem angenehmen Ambiente und aufmerksamen Personal empfangen werden - das ist doch Ihr Ziel. Die Patienten haben die freie Arztwahl, aber haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, ob jeder Patient, der gerne zu Ihnen kommen möchte, Sie auch erreichen kann?
Völlig „normal“ ist die freie Arztwahl heutzutage – für Patienten, die mobil sind und nicht durch einen Rollstuhl oder eine Gehhilfe eingeschränkt sind. Für Patienten mit Behinderungen, aber auch für den Sportler, der seit gestern ein Gipsbein hat, oder für Eltern mit Kinderwagen und ihrem Nachwuchs, der das Laufen noch erlernen muss, sind Treppenstufen und zu enge Durchgänge ein nervenaufreibendes Unterfangen im Alltag. Zu klein geschriebene Hinweisschilder und zu kleine Klingelknöpfe bringen den Sehbehinderten oder den Rheuma- oder Parkinsonpatienten zur Verzweiflung. Diese heterogene Patientengruppe verbindet eine Gemeinsamkeit: Sie wollen, ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, „ein ganz normales Leben führen“.
Diese Patienten können sich aber leider nicht immer den Arzt ihres Vertrauens aussuchen, sondern müssen bei der Auswahl ihrer Arztpraxis nämlich darauf achten, dass eine Praxis barrierefrei erreichbar und nutzbar ist. Dies ist heutzutage erst in 10 bis 20 Prozent der Arztpraxen der Fall. Eine gute medizinische Versorgung wird zur Herausforderung – und das obwohl die freie Arztwahl ein Grundrecht für alle Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen und als solches in § 76 des Sozialgesetzbuches 5 verankert ist.
Eine Investition in die Zukunft
Vielleicht werden Sie denken, dass Sie ja sowieso nicht so viele Patienten mit Behinderungen behandeln. Wie denn auch, wenn sie kaum oder gar nicht die Möglichkeit haben Ihre Praxis zu betreten? Die Patienten können sich vielleicht gar nicht für Sie entscheiden. Aber wer behandelt denn dann eigentlich die fast 10 Prozent der Bundesbürger? Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lebten Ende 2007 nämlich 6,9 Millionen Menschen mit Behinderungen in der Bundesrepublik. Ein hoher Anteil von ihnen (52 Prozent) sind ältere Menschen über 65 Jahre. 84 Prozent der Behinderungen sind durch Krankheit, zwei Prozent durch Unfall erworben.
Behinderung heißt nicht nur Trisomie 21, Rollstuhl oder Unterbringung in einem Pflegeheim. Menschen mit Behinderungen nehmen mehr oder weniger am „ganz normalen“ Gesellschaftsleben teil. Von einer Behinderung spricht man bei individuellen Beeinträchtigungen eines Menschen, wenn dessen körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen (Sozialgesetzbuch IX, §2 Abs. 1). Abgesehen von der Erleichterung für alle, die das Betreten einer barrierefreien Zahnarztpraxis mit sich bringt, ist sie auch im Hinblick auf die demografische Entwicklung eine gute Investition in die Zukunft.
Entgegen der vielfach vertretenen Auffassung, dass eine barrierefreie Bauweise bei Neubauten und Umbaumaßnahmen die Kosten stark erhöhen würden, zeigen Projekte erfahrener Planer von barrierefreien Bauten, dass durch eine rechtzeitige und kompetente Planung und durch standardisierte, teilweise zertifizierte Bauprodukte Mehrkosten auf ein Minimum verringert werden können.
An welche Bedürfnisse müssen wir denken?
Eine barrierefreie Praxis sollte es Rollstuhlbenutzern, Gehbehinderten, Blinden, Sehbehinderten, Hörgeschädigten, Menschen mit sonstigen Behinderungen, älteren Menschen, Kindern und klein- und großwüchsigen Menschen ermöglichen, unabhängig von fremder Hilfe zu sein.
Die Patienten erreichen die Praxis stufenlos und erleben dort neben der hellen und freundlichen Ausstattung, einem Wartebereich mit unterschiedlichen Sitzgelegenheiten, Platz für mindestens zwei Rollstühle und einer Kinderecke eine äußerst angenehme Atmosphäre. Eine ruhige Ausstrahlung, Freundlichkeit und Aufmerksamkeit allen Patientinnen und Patienten gegenüber sollte generell zum Selbstverständnis des gesamten Praxisteams gehören. Und natürlich wollen sie dort auch einen hohen Anspruch an Fachlichkeit und menschliches Einfühlungsvermögen spüren.
Patienten mit Gehbehinderungen sind dankbar, wenn die Hilfe beim Umsetzen auf den Behandlungsstuhl nicht zum besonderen Ereignis wird. Angenehm ist es, wenn eine langfristige Behandlung auf nur wenige Praxisbesuche reduziert wird, um den Aufwand für die Patienten so gering wie möglich zu halten. Auch an die Verrichtung menschlicher Bedürfnisse muss gedacht werden: Ihre Toilette sollte auch für Gehbehinderte und Rollstuhlfahrer nutzbar sein.
Alles in allem wird fast in jeder Zahnarztpraxis das Gleiche gemacht: es wird gespritzt, es wird gebohrt, es wird gezogen. Aber das positive „Drumherum“ macht für alle Patienten – die Patienten mit Behinderung wie auch die Patienten ohne Behinderung – den Zahnarztbesuch erträglich. Eine solche Praxis braucht keine Werbung; durch Ihr Engagement und durch Ihre Empathie und indem Sie zeigen, dass Sie an die unterschiedlichsten Menschen mitsamt ihren Bedürfnissen denken, wird Ihre Praxis ein Selbstläufer.
Ideal ist es natürlich, wenn auch die äußere Infrastruktur zu Ihrer Praxis passt: wenn eine S- oder U-Bahnstation oder eine Bushaltestelle in unmittelbarer Nähe und mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen ist. So wird ein Arztbesuch auch für Menschen mit Behinderungen mehr Selbstverständnis als eine Odyssee.
Wann ist eine Praxis barrierefrei?
Allgemein werden Bauten dann als barrierefrei angesehen, wenn „sie für behinderte Menschen in der allgemeinüblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich sind“ (Bayerisches Behindertengleichstellungsgesetz, Bay BGG).
Die baulichen und technischen Anforderungen an eine Praxis hören nicht bei einem stufenlosen Zugang zur Praxis auf. So ist ein Rollstuhlfahrer auf eine andere Art und Weise eingeschränkt wie ein Patient mit Seh- oder Hörbehinderungen. Kontrastreiche Schilder auf Augenhöhe, gut lesbare Beschriftungen auf Klingeln, ausreichend große Bedienknöpfe am Aufzug und eine gute Beleuchtung helfen allen Menschen, den Weg in die Praxis zu finden.
Infos zur barrierefreien Zahnarztpraxis |
Ein voll rollstuhlgerechter Parkplatz ist vorhanden, wenn die Praxis einen offiziell ausgewiesenen Parkplatz mit Breite von 350 cm aufweist. Ein bedingt rollstuhlgerechter Parkplatz ist ein sich vor der Praxis bzw. in unmittelbarer Nähe befindlicher Parkplatz. Die Praxis ist voll behinderten-/rollstuhlgerecht, wenn:
Die Praxis ist bedingt behinderten-/rollstuhlgerecht, wenn der Zugang über eine Stufe oder über eine Rampe mit mehr als 6 % Steigung erfolgt und die Eingangstür zwischen 70 und 89 cm breit ist. Ein Aufzug ist voll behinderten-/rollstuhlgerecht, wenn die Tiefe mindestens 140 cm, die Breite 110 cm und die Türbreite mindestens 80 cm beträgt und die Höhe der Bedienelemente innen und außen höchstens 120 cm hoch ist. Ein Aufzug ist bedingt behinderten-/rollstuhlgerecht, wenn er von Rollstuhlfahrern nur mit Begleitpersonen benutzt werden kann. Ein Behinderten-WC weist die folgenden Merkmale auf:
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Bei der barrierefreien Gestaltung der Praxis sind folgende bauliche und technische Anforderungen entsprechend der Behinderungsart zu unterscheiden (folgende Auflistungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit; sie sollen lediglich exemplarisch die Bedürfnisse der Patientengruppen verdeutlichen):
Bauliche und technische Anforderungen für gehbehinderte Menschen und Rollstuhlfahrer:
- Ein Rollstuhlfahrer benötigt einen stufenlosen Zugang zur Praxis; eine Rampe darf die Steigung von 6 % nicht überschreiten.
- Auf dem Parkplatz sind Behindertenparkplätze vorgesehen.
- Türklingeln, Lichtschalter und Öffner von Garagen oder Schranken müssen vom Rollstuhl aus bedienbar sein.
- Türe und Durchgänge müssen 80 – 90 cm breit sein.
- Zum Öffnen und Schließen der Türen muss zum Manövrieren mit dem Rollstuhl ausreichend Platz sein, außerdem müssen die Türen leichtgängig sein.
- Für gehbehinderte Menschen ist ein beidseitiger Handlauf an der Treppe erforderlich.
- Bei einem Aufzug muss sowohl vor als auch in dem Fahrstuhl ausreichend Platz zum Manövrieren des Rollstuhls vorgesehen sein. Außerdem müssen die Bedientasten vom Rollstuhl aus zu betätigen sein.
- Die Rezeptionstheke sollte unterfahrbar sein und auch einem Rollstuhlfahrer oder Kind den Blickkontakt zum Praxispersonal ermöglichen.
- Im Toilettenraum sind Halte- und Stützgriffe vorhanden.
- Der Röntgenraum sollte mit dem Rollstuhl befahrbar sein. Die Röntgengeräte sollten bis auf Rollstuhlhöhe höhenverstellbar sein.
Bauliche und technische Anforderungen für blinde und sehbehinderte Menschen:
Menschen mit Sehbehinderungen finden sich in einer ihr bekannten Gegend meist gut zurecht, aber in einer fremden Gegend sind sie auf eine gute Ausschilderung und Wegbeschreibung angewiesen. Die Schilder sollten in Augenhöhe angebracht, kontrastreich gestaltet und in gut lesbarer Schrift beschriftet sein. Auch die Beschriftung von Türklingeln, Gegensprechanlagen und Lichtschaltern muss deutlich sein und sollte idealerweise noch tastbar sein (große erhabene Schrift). Selbstverständlich muss auch die Beleuchtung des Außenbereichs, des Treppenhauses, des Eingangs und der Praxisräumlichkeiten gut und blendfrei sein. Eine kontrastreiche und tastbare Markierung auf der ersten und auf der letzten Stufe erleichtert die Orientierung. Große Glasflächen und -türen sollten ebenso mit einer kontrastreichen Markierung versehen werden. In einem Aufzug müssen Anforderungstasten mit großen tastbaren Symbolen und Zahlen beschriftet sein. Außerdem ist eine Stockwerkansage erforderlich.
Bauliche und technische Anforderungen für hörbehinderte und gehörlose Menschen:
Bei Menschen mit Hörbehinderungen stellt die Kommunikation mit Mitmenschen meist ein großes Problem dar. Terminvereinbarungen können statt am Telefon per SMS oder E-Mail getroffen werden. Das Ablesen von den Lippen oder das Erkennen der Gebärdensprache wird durch eine gute Ausleuchtung vereinfacht.
Autorin: Dr. Sabine Jaschinski
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