Patienten 20.12.2022

Zähneputzen ade, Ernährung hello? Ernährung der Prophylaxe-Treiber



Zähneputzen ade, Ernährung hello? Ernährung der Prophylaxe-Treiber

Foto: Yuliya Loginova – stock.adobe.com

Originaltitel: „Zähneputzen ade, Ernährung hello?“

Zähneputzen war gestern, heute ist Ernährung der große Prophylaxe-Treiber – ganz so radikal will es die aktuelle Entwicklung nicht. Und doch kommt dem Bewusstsein für eine gesundheitsstärkende Ernährung eine immer größere Bedeutung im Kontext der zahnärztlichen Prävention und Prophylaxe zu. Wir sprachen mit Prof. Dr. Johan Peter Wölber vom Universitätsklinikum Freiburg über die Historie unserer Ernährung und eine Ernährungszahnmedizin – ein Terminus, der auch als gleichnamiger Titel seines neuen Buches fungiert.

Herr Prof. Wölber, galt die reine Mundhygiene lange als Nonplusultra für eine parodontale Gesundheit, rückt aktuell immer mehr die Ernährung in den Präventionsfokus – Warum ist sie so wichtig?

Im Prinzip geht es um die evolutionären Bedingungen für Gesundheit. Seit der Sesshaftwerdung vor ca. 15.000 Jahren und spätestens seit der industriellen Revolution vor 150 Jahren haben sich unsere Lebensbedingungen drastisch verändert, was neben der Erfindung von Zigaretten vor allem die Ernährung betraf. Diese sogenannte heutige „Western Diet“ ist voll von Zucker, gesättigten Fettsäuren und Industriefleischprodukten, enthält aber kaum noch Ballaststoffe, Mikronährstoffe oder Antioxidantien. Ein gutes Beispiel ist der Zucker: In der Natur ist dieser prinzipiell problematische Stoff immer nur mit einem begleitenden „Schutzmantel“ von Ballaststoffen und Antioxidantien verfügbar. Durch Verarbeitungsprozesse gehen die schützenden Stoffe verloren und wir behalten lediglich krank machenden Zucker übrig. Vor dem 17. Jahrhundert wurde pro Person davon jährlich weit unter ein Kilogramm konsumiert, mittlerweile sind es 36 Kilogramm pro Kopf pro Jahr. Das hat eine riesige Relevanz. Diese gesellschaftlich etablierte und akzeptierte Fehlernährung führt neben Karies, Gingivitis und Parodontitis natürlich auch zu diversen nicht übertragbaren Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Übergewicht und Diabetes. Hinzu kommt, dass krank machendes Essen ein Wirtschaftszweig geworden ist und Menschen mit viel finanziellem Aufwand über Werbung zum Konsum davon motiviert werden.

Ernährung ist nicht gleich Ernährung – Was sollte man Ihrer Meinung nach vorrangig essen, um Stoffwechsel und Immunsystem effektiv zu unterstützen und so einer Parodontitis entgegenzuwirken?

Wenn man die bereits genannten evolutionären Bedingungen für Gesundheit beachtet, kann man sich daran gut orientieren: Zucker sollte nur in Form von Obst oder Gemüse konsumiert werden, statt Saft sollte das ganze Obst gegessen werden und bei Getreideprodukten sollte man auf Vollkorn zurückgreifen. Fleisch sollte maximal mit 300 Gramm die Woche konsumiert werden, und wenn, dann nur jenes Fleisch von Tieren, die biologisch auf Weiden aufgezogen wurden. Auch in Jäger-Sammler-Zeiten wurden eher 80 Prozent Pflanzen konsumiert. Marine Omega-3-Fettsäuren haben sich als effektiv entzündungshemmend erwiesen. Dabei kann neben Fisch auch Algenöl eine tolle pflanzliche Zufuhrmöglichkeit darstellen. Ansonsten gibt es noch eine Reihe von speziellen Pflanzen mit großartigen entzündungshemmenden Eigenschaften, wie Kurkuma, Blaubeeren, grüne Tees/Oolong-Tees und pflanzliche Nitrate (in Form von Salat, Rucola oder roter Beete). Auch wenn unter Jäger-Sammler-Bedingungen nicht vorkommend, können fermentierte Milchprodukte wie Joghurt auch einen gesundheitsfördernden Einfluss haben. Vitamin D sollte vor allem im Winter supplementiert bzw. getestet werden.

Das klassische Zähneputzen gerät der-zeit etwas in Verruf. Sollen wir uns trotzdem noch mindestens zweimal am Tag die Zähne putzen oder sollten wir uns nur noch auf die Zahnzwischenräume konzentrieren?

Bitte Weiterputzen! Und zwar zweimal täglich á drei Minuten mit fluoridhaltiger Zahnpasta sowie (da, wo es geht) mit Interdentalraumbürsten arbeiten. Wir haben noch keine sichere Langzeitevidenz für ein anderes Vorgehen, und allein aus ästhetischen Gründen würde darauf wahrscheinlich keiner verzichten wollen. Aber es stimmt schon: Zahnbelag gibt es seit Beginn der Menschheitsgeschichte und ist bei allen anderen wild lebenden Tieren nicht das Problem. Dies ist aus vielen archäologischen Funden von Hominiden sowie aus Untersuchungen an wild lebenden Tieren gut ersichtlich. Ich würde in erster Linie immer auf die Vermeidung von primären Krankheitsursachen setzen (wie Rauch- und Zuckerentwöhnung, Ernährungsumstellung, Stressreduktion etc.) und das verbleibende Karies- und Gingivitisrisiko mittels fluoridierender Mundhygiene adressieren. Doch es gilt auch: Nicht immer können alle Menschen alles verändern.

Sie haben zusammen mit Dr. Christian Tennert das Buch Ernährungszahnmedizin herausgebracht. Können Sie uns bitte kurz erläutern, was Ihre Beweggründe für das Buch waren, an wen sich die Lektüre richtet und was Ihre zentrale Message darin ist?

Unser Beweggrund ist es, über diese Zusammenhänge und das nutzbare Wissen aufzuklären und natürlich die Patientengesundheit zu fördern. Es richtet sich an alle zahnärztlichen Teams (von Zahnärzten über Dentalhygienikerinnen bis zu Zahnmedizinischen Fachangestellten), die Patienten über die Mundhygiene hinaus fundiert über Ernährung beraten wollen. Aber auch Ärzte sowie Ernährungsberater können durch das Buch verstehen, wie ihre Ernährungsberatung nicht nur die Mund-, sondern auch die Allgemeingesundheit verbessern kann. Die zentrale Message ist, dass Ernährung ein Schlüsselfaktor für EINE Gesundheit ist und nicht zwischen verschiedenen Organen trennt. Gleichzeitig ist es ein gesundheitspolitischer Appell, zu überlegen, ob wir nicht auch andere Verhältnisse fördern wollen, fernab von zuckerfördernder Werbung und Reparaturmedizin.

Vielen Dank für das interessante Interview.

Dieser Beitrag ist in der ZWP spezial erschien.

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