Praxismanagement 19.04.2012
Rechtliche Aspekte der Alignerbehandlung (2)
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Ob juristische Besonderheiten, gerichtliche Entscheidungen zu speziellen Befundsituationen, Verständigungen mit privaten Krankenversicherungen oder Fragen zu Abrechnung und Begutachtung – eine vierteilige KN-Artikelserie vermittelt sämtliche rechtliche Aspekte rund um die Alignerbehandlung. Ein Beitrag von RA Michael Zach.
Teil 2
III. Medizinische Notwendigkeit in konkreten Befundsituationen
Soweit
erkennbar, hat sich eine Private Krankenversicherung in keinem Fall mit
der Behauptung durchsetzen können, eine Alignerbehandlung sei nicht
medizinisch notwendig i.S.d. § 1 Abs. 2 MB/ KK. Bekanntlich lässt der
Begriff der medizinischen Notwendigkeit im Ergebnis auf das Erfordernis
einer therapeutischen Vertretbarkeit zurückführen, sodass zumindest im
Bereich der Kieferorthopäde nur ganz ausnahmsweise ein
Behandlungskonzept von einer Privaten Krankenversicherung zu Recht
abgelehnt werden kann. So haben die sachverständig beratenen
Zivilgerichte – soweit erkennbar – stets die Behandlungsplanung des
Kieferorthopäden bestätigt.
1. Jugendliche Patienten
Folgende konkrete Planungssituationen von jugendlichen Patienten waren Gegenstand der gerichtlichen Abklärung:
• LG Koblenz, Urt. v. 16.03.06,
14
S 38/03: Die Invisalign®-Methode kann unter Erweiterung des
Indikationenkataloges der Fachgesellschaft auch bei einem 11-Jährigen
Anwendung finden nach erfolgtem Durchbruch aller bleibenden Zähne. Die
Versicherungsgesellschaft mit Hauptsitz in Koblenz wurde zur Zahlung
des Behandlungshonorars einschließlich Material- und Laborkosten
verurteilt. Diese Versicherung wurde wegen Alignerbehandlung auch in den
nachfolgenden Verfahren zur Kostentragung verurteilt: LG Mainz, Urt. v.
9.2.2011, 4 O 382/09 und AG Köln, Urt. v. 25.1.2012, 118 C 623/10.
•
LG Lüneburg, Urt. v. 13.1.2009, 5 O 364/07 bejahte zugunsten einer
11-jährigen Patientin die Erstattungspflicht, bei der die engstehend
retrudierte Front bei Lückenenge 13, 23 und die protrudierte UK-Front in
Supraposition (UK) durch eine Invisalign®-Behandlung therapiert wurde.
Der Beratungszahnarzt hatte die Vertretbarkeit dieses Therapieansatzes
zuvor verneint, weil er hierin eine aufwendige Zahnbewegung zur
Korrektur einer skelettalen Dysgnathie erkannte, deren Therapie nach der
generellen Stellungnahme des Deutschen Gesellschaft für
Kieferorthopädie (DGKFO) aus dem Jahre 2004 und im vorliegenden
Behandlungsfall sogar kontraindiziert sei. Der gerichtliche
Sachverständige, der über ei-ne 25-jährige Berufserfahrung verfügt und
bereits seit 2001 mit dem Invisalign®-System arbeitet, bestätigte jedoch
die Therapieplanung des behandelnden Arztes. Das Gericht ist ihm
gefolgt und hat die Versicherung mit Hauptsitz in Lüneburg zur Zahlung
verurteilt.
2. Erwachsene Patienten
Bei der Behandlung erwachsener Patienten wurde die medizinische Notwendigkeit in noch weitergehendem Maße bejaht, als dies in generalisierender Wei-se aus den Stellungnahmen der Fachgesellschaften ableitbar ist. Zumindest in Kombination mit anderen Hilfsmitteln und Apparaturen lässt sich mit der Alignerbehandlung die gesamte Bandbreite kieferorthopädischen Behandlungsbedarfs abdecken:
• LG Lüneburg,
Urt. v. 20.2.2007, 5 O 86/06: Gelegentlich wird seitens der Privaten
Krankenversicherung der Einwand erhoben, die vorgelegte
Invisalign®-Methode verfolge kosmetische Belange, nicht aber
medizinische Zielsetzungen. Dem ist das Landgericht Lüneburg entgegen
getreten, indem es bestätigte, dass dieses Verfahren zwischenzeitlich
als anerkannte schulmedizinische Behandlungsmethode zu beurteilen sei,
welches für die befundete Dysgnathie der Klägerin eine adäquate Therapie
dargestellt habe. Auch wenn die Dysgnathie noch nicht ausgeprägt
gewesen sei, sei bereits aktuell ein Behandlungsbedarf vorhanden
gewesen, da der Patientin nicht habe zugemutet werden können zu warten,
bis sich die Befunde weiter zu ihrem Nachteil ausgeprägt hätten.
•
Das AG München (Urt. v. 30.10.2008, 223 C 31469/07) ließ eine
beratungsärztliche Stellungnahme überprüfen, auf die die Versicherung
ihre Leistungsablehnung stützte. Die unabhängige Sachverständige konnte
dem Beratungszahnarzt nicht folgen, der sogar jedweden
kieferorthopädischen Behandlungsbedarf verneint hatte. Er hatte auch
noch den Hauptindikationsbereich dieser Behandlung laut der
Stellungnahme der Fachgesellschaft DGKFO (dentoalveoläre Korrekturen bei
Pro- und Retrusion der Front, moderatem frontalen Engstand, geringe In-
und Extrusion, Einsatz von Attachments) schlicht nicht berücksichtigt.
Auch hier wurde die Versicherung verurteilt, die Kosten der
Invisalign®-Behandlung zu erstatten. Das Gericht ist dem
Sachverständigengutachten gefolgt, wonach diese Methode sehr wohl
evidenzbasiert sei und bei der vorliegenden Befundsituation sogar besser
geeignet sei, als die Behandlung allein mit einer Multibandapparatur.
•
Das LG Nürnberg/Fürth (2 O 7187/06) hatte sich mit dem Einwand der
Versicherung auseinanderzusetzen, die Invisalign®-Methode sei zur
Behebung
extremer Engstände nicht geeignet, was sich schon daraus
ergebe, dass diese Indikation in der Stellungnahme der Fachgesellschaft
nicht ausdrücklich benannt und deshalb kontraindiziert sei. Der
Gutachter wies jedoch darauf hin, dass es sich dabei lediglich um eine
Stellungnahme handele, die „aufgrund der gewachsenen klinischen
Erfahrungen und erster noch unveröffentlichter wissenschaftlicher
Erkenntnisse“ im Januar 2004 verfasst worden war. Aus dem Umstand, dass
darin die Diagnosen „extremer Frontengstand“ und extreme Protrusion der
Front“ im Hauptindikationsbereich“ bzw. unter „bedingt geeignet“ nicht
genannt seien, lasse nicht automatisch auf eine Kontraindikation
schließen. Die vorgesehenen Maßnahmen erwiesen sich damit nicht als
kontraindiziert, sondern als medizinisch notwendig i.S.d.
Versicherungsbedingungen. Die aktuelle Stellungnahme der
Fachgesellschaft wurde dem inzwischen angepasst.
• Das AG Saarbrücken
(5 C 828/07, Urt. v. 20.6.2008) sprach der 51-jährigen Patientin mit
Angle Klasse II, einer Nonokklusion bei 27, 37, einer sagittalen Stufe
und Lücken im OK-Frontzahnbereich die Kostenerstattung für Invisalign®
zu. Der Beratungszahnarzt hatte demgegenüber behauptet, dieses Verfahren
sei nur zur Korrektur einfacher Fehlstellungen wie bei einem
Lückenschluss geeignet und stattdessen zu einer kombiniert
kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Behandlung geraten. Die Kosten
des Aufwandes für die Vervielfältigung der Modelle und Befundunterlagen,
die zunächst von dem Patienten getragen worden waren, wurden in vollem –
nicht nur im tariflichen – Umfang der Versicherung mit Hauptsitz in
Saarbrücken auferlegt.
• In dem Fall des LG Köln (23 O 239/05, Urt.
v. 30.1.2008) hatte ein PKV-Beratungsarzt behauptet, dass die geplante
kieferorthopädische Behandlung nicht als indiziert betrachtet werden
könne und dass beim Invisalign®-System über die Schienen keine voll
körperlich definierten Kräfte auf die zu bewegenden Zähne ausgeübt
würden, sondern es wirkten im wesentlichen Kräfte durch Druck auf die
klinischen Kronen, die im stark parodontal geschädigten Gebiss der
Patientin nicht mehr indiziert seien. Da die Versicherte eine skelettale
Dysgnathie der Angle-Klasse II/1 habe, sei eine Behandlung mittels
Invisalign®
nicht mehr vertretbar. Dem gegenüber stellte der gerichtlich
beauftragte Sachverständige fest, dass die Alignerbehandlung durchaus
geeignet sei, Zahnfehlstellungen im parodontal vorgeschädigten, aber
nicht akut entzündlich veränderten Gebiss zu beheben. Sie biete nämlich
im Gegensatz zu alternativen Behandlungsmitteln – wie
Multiband-/Multibracketapparatur – besonders im vorliegenden Fall
deutliche Vorteile: Mit den Schienen könnten große, passive
Verankerungseinheiten gebildet werden, die eine gezielte
Einzelzahnbewegung ermöglichen. Ein okklusales Trauma, auch bereits
durch physiologische Kaukräfte („jiggling“), werde dadurch verhindert.
Mit einer erhöhten Anzahl von Schienenpaaren von vorliegend 48 können
die Behandlungsschritte der parodontalen Situation angepasst und
dementsprechend klein gestaltet werden. Eine vermehrte Plaqueansammlung
könne mit diesem Behandlungsansatz vermieden werden, sodass die
Mundhygiene deutlich erleichtert werde im Vergleich zu anderweitigen
Therapieansätzen.
• Das AG Stuttgart (11 C 2023/07, Urt. v. 3.3.2008)
ließ sich durch einen unabhängigen Sachverständigen beraten, der die
Ablehnungsentscheidung der Beratungszahnärzte zur Invisalign®-Behandlung
verwarf. Die Versicherungsgesellschaft mit Hauptsitz in Stuttgart hat
dann ihre Leistungspflicht anerkannt, um einer schriftlichen
Urteilsbegründung zu entgehen.
• Zu berichten ist über eine
Entscheidung des Landgerichtes Dortmund, Urt. v. 27.10.2011, Az. 2 O
29/10: Besonderheit des Falles war hier ein Behandlerwechsel. Der
Erstbehandler hatte unter Verwendung einer Multibandapparatur deutliche
Behandlungsfortschritte erzielen können, jedoch entschied sich die
erwachsene Patientin angesichts von schwarz-blauen
Zahnfleischverfärbungen und diversen Schwellungen sowie
Gingiva-Rezessionen, die Behandlung mittels Invisalign® zu Ende führen
zu lassen. Die PKV stellte die medizinische Notwendigkeit mit dem
Argument in Abrede, dass bereits eine gute Zahnbogenausformung erfolgt
sei und nun auch so weiterbehandelt werden kön-ne, weitere aktive
Maßnahmen seien aufgrund einer Parodontalproblematik ohnehin
kontraindiziert. Schließlich sei die vorhandene Problematik
(skelettale und dentale Klasse II mit MLV) mit Invisalign® nicht zu
therapieren. Dem erteilte ein gerichtlich bestellter Sachverständiger
der Universität Bonn eine Absage und führte aus, dass das
Invisalign®-System auch zur Korrektur dieser Zahnfehlstellung
prinzipiell geeignet sei und es insbesondere im Zeitpunkt des Behandler-
bzw. Therapiewechsels prognostisch vertretbar war, anzunehmen, dass auf
diesem Wege die bislang noch nicht gesicherte Okklusion erreicht werden
könne. Im Hinblick auf den Parodontalzustand verwies der
Sachverständige auf die aktuelle Stellungnahme der DGKFO, wo es heißt,
dass im Hinblick auf den Parodontalzustand Aligner einer festsitzenden
Apparatur tendenziell überlegen sind. Die medizinische Notwendigkeit der
Zweitbehandlung wurde festgestellt.
• Weiterhin hinzuweisen ist auf
eine Entscheidung des Landgerichtes Köln vom 25.5.2011, 23 O 250/09, in
der es um die Behandlung einer erwachsenen Patientin mit distaler
Bisslage ging, bei der einige Zähne eine traumatische okklusale
Belastung erfuhren. Die A-Versicherung mit Hauptsitz in München
befürwortete die orthognate Chirurgie und wollte die Patientin zur
Operation bewegen, die sie aber ablehnte. Der Sachverständige führte
aus, dass die bei der Klägerin angewandte dentoalveoläre Kompensation
mittels Invisalign®, bei der die Position der Zähne an die vorhandene
skelettale Relation von Ober- und Unterkiefer adaptiert werde, geeignet
und als weniger invasiv vorzugswürdig sei. Wegen der hohen Gefahr der
Invasivität sei das operative Verfahren nur Patienten mit gravierenden
skelettalen Abweichungen vorbehalten.
Als Resumé kann
festgehalten werden, dass nicht eine Klage eines Patienten auf
Kostenerstattung einer Alignerbehandlung hier bekannt ist, die
abgewiesen worden wäre. Sämtliche beratungsärztliche Gutachten und
darauf gestützte ablehnende Erstattungsentscheidungen der Privaten
Krankenversicherungen haben sich als in der Frage der medizinischen
Notwendigkeit als falsch erwiesen, soweit sie gerichtlich überprüft
wurden. Dies legt es für den Patienten nahe, auch im Falle der Ablehnung
eines Heil- und Kostenplanes umgehend die Feststellungsklage gegen die
Versicherungsgesellschaft zu erheben.
IV. Verständigungsversuche mit Privaten Krankenversicherungen
Die PKVen überlegten dann, welche außergerichtlichen Vergleichsangebote unterbreitet werden können: Zum einen wird vorgeschlagen, die tarifliche Leistung zu erbringen, sofern ein sogenannter fiktiver Heil- und Kostenplan vorgelegt wird. Dieser weist dann die Kosten einer herkömmlichen Multibandbehandlung aus, die der PKV als Buchungsgrundlage dienen, wobei bei den Beteiligten klar war, dass allein die Alignervariante ausgeführt wurde. Diese Regulierungsvariante wird im Bereich der PKV nur noch selten praktiziert, da auch Alignerrechnungen als Buchungsgrundlage für eine Auszahlung heute akzeptiert werden und es nicht mehr darum geht, Präzedenzentscheidungen betreffend Aligner zu vermeiden. Zum anderen wird vorgeschlagen, tarifliche Leistungen nur nach dem Verzicht auf weitergehende oder anderweitige kieferorthopädische Leistungen zu erbringen: Es wird kulanzweise die tarifliche Erstattung angeboten, sofern der VN auf die Geltendmachung weiterer Kostenansprüche verzichtet für den Fall, dass die Alignerbehandlung scheitert. So wird eine Erfolgshaftung eingeführt. Dies ist im Einzelfall sicher akzeptabel, insbesondere wenn keine Rechtsschutz-Versicherung besteht und es sich nicht gerade um einen höchst schwieriger Fall/Patienten handelt. Neu ist der Ansatz, dass nach erfolgter Leistungsablehnung ein Gutachten eingeholt wird und sich beide Seiten verpflichten, sich dessen Votum zu unterwerfen, wobei der Unterlegene jeweils die Kosten der Gutachtenserstellung zutragen habe. Auch dies erscheint als gangbarer Weg, wenn der vorgesehene Gutachter „neutral“ ist, wobei freilich die §§202, 208 VVG zu beachten sind, wonach an sich in jedem Fall der Versicherer die Kosten der Begutachtung zu tragen hat und eine hiervon abweichende Vereinbarung unwirksam sein dürfte.
Empfehlenswert ist häufig, die Einigungsverhandlungen auf der Grundlage eines Privatgutachtens zu führen, dessen Kosten im Obsiegensfalle von der Versicherung als notwendige Kosten der Rechtsverfolgung zu tragen sind, da der Patient nur so sein typisches Sachkundedefizit beheben und die sogenannte „Waffengleichheit“ gegenüber der PKV herstellen kann (LG Hamburg, Urt. v. 28.1.2011, 332 O 14/09).