Kieferorthopädie 11.08.2014

„Kieferorthopäden kaufen nur das, was in ihren Händen funktioniert“



„Kieferorthopäden kaufen nur das, was in ihren Händen funktioniert“

Foto: © Prof. Dr. Dirk Wiechmann

Im letzten Jahr wurde die WIN Apparatur der internationalen KFO-Welt vorgestellt. Bereits sechs Monate nach ihrer Einführung avancierte diese – gemessen an der Anzahl der verkauften Apparaturen – zum führenden System in drei der größten europäischen Märkte. KN sprach beim AAO-Kongress mit Entwickler Prof. Dr. Dirk Wiechmann, der in New Orleans einen Vortrag über die nächste Generation komplett individualisierter Lingualapparaturen gehalten hatte.

Sie entwickelten einst (2001) das Incognito™ System, welches die linguale Orthodontie grundlegend verändert hat. Welche Motivation treibt Sie an, nach erfolgreicher Etablierung sowie Verkauf des Systems nochmals einen solchen Schritt zu gehen und ein neues linguales Behandlungssystem zu entwickeln?

Letztendlich ist es so, dass wir in unserer Lingualbehandlung in der Praxis am Tropf der Apparatur hängen. Eine funktionierende Apparatur ist daher für uns extrem wichtig, damit die Stuhlzeiten nicht ausufern und wir bei den Behandlungsergebnissen einen gleichmäßig hohen Standard liefern können.

Leider hatten wir das Gefühl, dass der hohe Standard der Incognito-Apparaturen nach dem Jahr 2008 nachließ, sodass wir wesentlich mehr Finishingbiegungen und deshalb längere Behandlungszeiten zu verzeichnen hatten. Konkret waren in meiner Praxis bei Behandlungen, die in den Jahren 2007 und 2008 begonnen wurden, in knapp über 60 % der Fälle keine Finishingbiegungen erforderlich; bei Apparaturen, die seit 2010 hergestellt wurden, sank dieser Wert auf unter 20 %. Daher haben wir uns dazu entschlossen, etwas dagegen zu tun und dafür zu sorgen, dass nicht nur wir, sondern auch die anderen Kieferorthopäden eine Apparatur an die Hand bekommen, die das liefert, was eine linguale Behandlungsapparatur heutzutage liefern kann, nämlich eine Behandlung, die u. a. möglichst wenige Finishingbiegungen erfordert. Und zwar auf gleichmäßig hohem Niveau.

Wie unterscheidet sich das WIN-System technisch von anderen Lingualsystemen auf dem internationalen Markt?

Betrachtet man die Herstellung einer lingualen Apparatur etwas genauer, dann gibt es da sehr viele Dinge zu beachten, die sich einem nicht genug damit Vertrauten oft gar nicht erst erschließen. Am einfachsten ist dies jedoch zu sehen, wenn man sich die Unterschiede bei den Anwenderzahlen anschaut. Denn letztendlich ist es nun einmal so, dass die Kollegen mit den Füßen abstimmen, d. h. sie kaufen im Endeffekt nur das, was in ihren Händen auch funktioniert. Und dass die WIN-Apparatur in Deutschland, Frankreich und Russland – also in drei der größten europäischen Märkte – bereits gut ein halbes Jahr nach ihrer Einführung, gemessen an der Anzahl der verkauften Apparaturen, zum Marktführer geworden ist, spricht glaube ich für sich.

Welche technischen Unterschiede sind im Vergleich zu Incognito festzuhalten?

Ein wesentlicher Unterschied zur Incognito-Apparatur ist sicherlich, dass die Apparatur hier einmal durch eine komplett digitale Schleife gezogen wird. Das heißt, es liegt eine digitale Bibliothek vor, die dann auf einem digitalen oder digitalisierten Set-up angepasst wird. Bei WIN hingegen wird das Set-up immer manuell erstellt (was früher bei Incognito auch so war) und die Apparatur selbst wird in der „realen Welt“ gefertigt. Das heißt, das WIN-System wird nicht durch eine digitale Schleife gezogen. Das ist ein Aspekt. Ein weiterer ist, dass das Metall, welches wir verwenden, kein hochgoldhaltiges Metall ist, also keine hochgoldhaltige Legierung, wodurch WIN deutlich preisgünstiger sein kann. Durch einen speziellen Prozess, in dem wir die Slots schneiden, können wir sicherstellen, dass diese noch präziser sind als bei Incognito. Die Größe des Bracketslots sollte idealerweise 0.0180'' betragen. Die Slots der WIN-Apparaturen sind im Ausnahmefall höchstens ein Zehntausendstel Inch übermaßig (0.0181'') gegenüber drei Zehntausendstel Inch (0.0183'') bei Incognito-Apparaturen. Diese Präzision ist ganz wichtig für die Realisierung einer perfekten Torquekontrolle.

Wir werden die WIN-Apparatur weiterentwickeln und optimieren. Das können wir, da wir uns mit der Materie sehr gut auskennen und das entsprechend notwendige klinische Feedback geben können. Aufgrund der hohen Zahl der mit unserer Apparatur behandelten und genau durchdokumentierten Fälle und auch unseres umfangreichen Erfahrungsschatzes mit dem Produkt kommen wir über das Stadium eines „normalen Anwenders“ hinaus. So ist es uns möglich, die Feinheiten einer Apparatur auch in jede erdenkliche Richtung weiterzuentwickeln.

Weist das WIN-System kostentechnische Vorteile auf?

Aufgrund der Tatsache, dass WIN-Apparaturen in einem komplett anderen Fertigungsverfahren hergestellt werden, können sie auch deutlich preisgünstiger an den Behandler abgegeben werden. Und Kollegen, die sehr viele Fälle damit behandeln und das System routinemäßig anwenden, profitieren nochmals. Anwender, die viele linguale Fälle mit WIN beginnen, kaufen die komplette Apparatur in beiden Kiefern von 7–7 inklusive aller Bögen z. B. für 1.200 € zzgl. MwSt. ein.

Zum neuen System gibt es diverse Zertifizierungskurse. Was genau wird angeboten?

Es gibt beim WIN-System verschiedene Zertifizierungskurse. So bieten wir einerseits einen Zwei-Tages-Typodonten-Kurs und andererseits eine Art Crashkurs an, welcher dann innerhalb eines Tages absolviert werden kann. Letzterer richtet sich an Kollegen, die bereits mit Incognito-Apparaturen gearbeitet haben und in Kürze die Unterschiede zur WIN-Apparatur kennenlernen sollen. Beispielsweise wird auf die Unterschiede im Bereich der Ligaturen eingegangen, denn bei WIN setzen wir keine Overties oder Powerties ein, sondern nur noch ganz normale Gummi- oder Drahtligaturen. Mit diesen erhalten wir eine hervorragende Angulationskontrolle.

Können Sie uns etwas zu den digitalen Zukunftsperspektiven des WIN-Systems sowie allgemein zur Lingualtechnik der Zukunft sagen? Wohin geht die Reise?

Ich betrachte die digitalen Zukunftsperspektiven eher aus zurückhaltender Distanz. Speziell beim digitalen Set-up sehe ich bei den heutigen Varianten keinen relevanten Vorteil – es sei denn, auf der Seite des Marketings. Es ist eben nicht so einfach, eine dreidimensionale Situation auf einem zweidimensionalen Bildschirm korrekt zu erfassen.

Zieht man die ganze Apparatur durch eine digitale Schleife, ist zum einen davon auszugehen, dass diese teurer wird und der Preisdruck steigt. Zum anderen steigt das Fehlerrisiko durch Bilderfassung, Scannen, Bearbeitung am Rechner, Ausdrucken etc. und man muss sicherlich Abstriche bei der Genauigkeit hinnehmen. Werden diese Aspekte jedoch weiterhin und fortlaufend verbessert, sehe ich da auch eine Zukunft.

Die Lingualtechnik ist mittlerweile zu einem festen Bestandteil moderner KFO geworden. Warum sollte diese Behandlungsmethode unbedingt zum Portfolio eines Kieferorthopäden gehören?

Einer der wichtigsten Punkte aus unserer Sicht ist das signifikant geringere Entkalkungsrisiko auf lingualen Zahnflächen im Vergleich zu vestibulären Zahnflächen. Nachfragen besorgter Patienten „Was ist das denn da für ein weißer Fleck, geht der auch wieder weg“ gibt es bei uns nicht. Und das ist einfach ein schönes Gefühl, wenn man das Risiko durch die linguale Behandlungsmethode deutlich minimieren kann.

Ein weiterer Punkt ist natürlich, dass die Patienten viel fröhlicher und motivierter sind, wenn sie sehen, dass und wie sich ihre Zähne bewegen. Bei vestibulären Apparaturen – und seien sie auch zahnfarben – ist hier der Blick auf die Zahnstellung eben nun einmal verdeckt.

Auch qualitativ ist die Lingualtechnik sehr gut aufgestellt. Man hat die Gewissheit, dass immer individuelle Set-ups erstellt werden und jeder Patient mit einer individuellen Bogenform nach Hause geht. Bei der vestibulären Methode sieht das hingegen anders aus. Hier ist das Angebot an Bogenformen doch recht limitiert. Schaut man in die Literatur, haben Kieferorthopäden in der Regel ein bis drei verschiedene Zahnbogenformen in ihrem Angebot. Passt der Patient in diese drei Formen nicht hinein, wird halt der Bogen eingesetzt, der da ist. Doch gerade eine individuelle Bogenform ist so wichtig, da nach der Erstellung eines sorgfältig durchdachten Behandlungsplanes unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse insbesondere bei der Stabilität und Rezidiv-Prophylaxe die ideale finale Bogenform doch immer eine individuelle ist. Nichtsdestotrotz muss klar festgestellt werden, dass die linguale Behandlungsmethode erst erlernt werden will. Im Rahmen der Facharztausbildung wird die linguale Orthodontie häufig nur in Ansätzen unterrichtet. Doch wir werden weiter daran arbeiten, dies zu optimieren, um jungen Kollegen die Möglichkeit zu geben, frühzeitig mit der Lingualtechnik zu beginnen. Denn sie kann ein Teil der Zukunft unseres Faches werden.

Mehr Fachartikel aus Kieferorthopädie

ePaper