Branchenmeldungen 20.06.2016

Chancen und Risiken der digitalen Welt



Chancen und Risiken der digitalen Welt

Foto: © OEMUS MEDIA AG

Dass mit der Digitalisierung nicht nur beeindruckende Möglichkeiten modernster Kieferorthopädie einhergehen, sondern auch Gefahren sowie juristische Fallstricke lauern, machte das jüngst in Fulda zu Ende gegangene 4. Symposium „Digitale Kieferorthopädie“ der KFO-IG deutlich. 

Wer heute eine kieferorthopädische Praxis gründet, kommt an digitalen Technologien nicht mehr vorbei. Doch auch für alt eingesessene Praxen stellt die Digitalisierung ein immens wichtiges Thema dar, mit dem es sich auseinanderzusetzen gilt. Wie groß hierbei das Interesse ist, zeigte das vierte, erneut gut besuchte Symposium „Digitale Kieferorthopädie“ der KFO-IG. Rund 60 Teilnehmer konnte das am ersten Juni-Wochenende in Fulda veranstaltete Event aufweisen und bot mit einer breit gefächerten Vortragspalette viele Fakten und jede Menge Stoff für den gedanklichen Austausch unter Kollegen.

Risiken durch Cyberkriminalität 

 Die Einladung von Kriminalhauptkommissar Dirk Hintermeier, dem ersten Referenten des Symposiums, geht auf eine negative Erfahrung von KFO-IG-Vorstandsmitglied Prof. Dr. Gerhard Polzar zurück. Diesem kam Anfang des Jahres die mühsam gestaltete Praxiswebsite abhanden, woraufhin er Bekanntschaft mit dem Polizeipräsidium Hessen und letztlich mit erwähntem Fachberater für Cyberkriminalität schloss. Wie kann man sich schützen vor den Gefahren im Internet? Zu diesem Thema zeigte Hintermeier auf unterhaltsame Art und Weise Sicherheitslücken auf und gab nützliche Tipps zur Prävention. Rund 400.000 Straftaten wurden im letzten Jahr in Hessen verübt, wovon über 17.500 Taten mit dem Internet verbunden waren, das Tatmittel also der Computer war. Eine beachtliche Zahl, die erkennen lässt, wie wichtig es ist z. B., die eigene Technik in der Praxis zu pflegen (Software-Updates) bzw. zu alte Geräte (für die keine Updates mehr verfügbar sind) auszusortieren. Dass es genauso sinnvoll ist, alles am Computer abzukleben, was nicht für den Praxisbetrieb gebraucht wird (Webcams), demonstrierte er anschaulich anhand von Beispielen, die das Publikum z. B. live in die Lobby eines russischen Hotels oder auf das Firmengelände einer schwedischen Baufirma führten. Die Sicherheitslücke hier: Es wurde stets kein Passwort für die Kameras vergeben. Doch auch Passwörter sind ein Thema für sich. „Wer mit schwachen Passwörtern agiert, wird über den Tisch gezogen“, mahnte Hintermeier. Zwölf Stellen sollte ein sicheres Passwort haben und aus Groß- und Kleinbuchstaben, Zahlen und Sonderzeichen bestehen. Neben der strikten  Trennung von privaten und geschäftlichen Passwörtern sollten diese zudem unbedingt regelmäßig (alle fünf bis sechs Wochen) geändert werden. „Für Internetsicherheit braucht es keinen Hochschulabschluss. Passwörter und Software sind das A und O“, so Hintermeier resümierend.

Ebenfalls zum Thema „Cyberkriminalität“ informierte das Referenten-Duo Dr. Anja Padberg und Andreas Ferber (MarcanT GmbH). „Eine 100%ige Sicherheit kann Ihnen keiner bieten“, startete Dr. Padberg ihren Vortrag. „Sie können die besten Systeme kaufen, wenn Ihre Mitarbeiter nicht geschult sind, sind Sie angreifbar.“ Insbesondere die Themen Endgeräte-Sicherheit sowie Dingen, die nicht ins Internet gehören, stellte die Referentin dabei in den Fokus. Eine große Angriffsfläche bieten laut Padberg Mobiltelefone. Der Einsatz von Schadsoftware (Mobile Malware) und die Unmenge von Schnittstellen (z. B. WLAN) können hier beträchtlichen Schaden anrichten (Diebstahl oder Löschung von Daten, Entwendung von Zugangsdaten für Online-Banking, Verhinderung des Smartphone-Zugriffs etc.). Maßnahmen zum Schutz können hier laut Padberg u. a. das Deaktivieren drahtloser Schnittstellen, die erhöhte Vorsicht bei Nutzung öffentlicher Hotspots oder die Prüfung unbekannter Rufnummern vor dem Rückruf sein. Zudem sollten bei fremden WLANs die WLAN-Funktion nur bei direkter Nutzung ein- und sonst ausgeschalten sein und auch vertrauliche Daten besser nicht über fremde Netze abgerufen werden. Am besten sei es, die Datei- und Verzeichnisfreigaben sowie die automatische Anmeldung an bekannten Hotspots zu deaktivieren. „Das Internet erleichtert mir zwar das Leben, doch ich muss etwas für die Sicherheit tun. Und der wichtigste Punkt hierbei ist der Mensch selbst.“ Um die Teilnehmer für das Thema Sicherheit zu sensibilisieren, demonstrierte Andreas Ferber abschließend, wie leicht es ist, sich in fremde Geräte zu hacken. Ein leider existierender Fakt, der bei so manch einem ein mulmiges Gefühl aufkommen ließ.

Digitaler  Workflow – 
Vorteile und Equipment 

„Digitale Modelle in der praktischen Anwendung“ standen bei Dr. Philipp Geis im Fokus. Dieser berichtete der Kollegenschaft von seinen Erfahrungen bei der Digitalisierung der eigenen Praxis. Wie sicherlich jede Praxis hatte auch er den Keller voller Gipsmodelle stehen. Ein Umstand, der ihn störte, sodass er begann, die Modelle einzuscannen. Wird in der Praxis ein physisches Modell nochmals benötigt, druckt er es einfach aus. Doch wird ein gedrucktes Modell auch vom Gutachter anerkannt? Solange Gutachter nicht verpflichtet sind, digitale Modelle zu akzeptieren, werden Gipsmodelle wohl auch weiterhin eine Rolle spielen. Dass eine Digitalisierung nicht von heute auf morgen funktioniert, sondern man sich manchmal auch durchbeißen muss, wurde anschließend deutlich. Geis berichtete von der Auswahl und Anschaffung des Modellscanners (er nutzt den OrthoX von Dentaurum), vom schrittweisen Heranführen des Praxispersonals an die neue Technik, von der Arbeit mit Dienstleistern usw. Ein sehr praxisnaher Vortrag, der viele Wortmeldungen hervorrief.

Als „Papst der intraoralen Scanner“ kündigte Professor Polzar den nächsten Referenten an – Prof. Dr. Albert Mehl von der Universität Zürich. Dieser sprach zum  Thema „Intraorale 3D-Scansysteme“ und gab zunächst einen aktuellen Überblick über existierende Messverfahren wie beispielsweise die Stereofotogrammetrie (z. B. TrueDefinition) oder das konfokale Mikroskopieverfahren, wie es z. B. beim Trios von 3Shape zur Anwendung kommt. Egal, welches Messprinzip verwendet wird, die Ergebnisse sind gleichwertig, so Mehl. Beim STL-Datenformat sei dies jedoch nicht so. Zwar ist STL heutzutage Standard, jedoch könne es sich qualitativ von System zu System unterscheiden. Daher sollte man stets schauen, dass die benutzten Konzepte auch zusammenpassen. Was die Genauigkeit des intraoralen Scannens angeht, lassen sich laut Mehl heute keinerlei Unterschiede zwischen mattiert und puderfrei erkennen. Für die Zukunft vermutet der Referent den Einsatz mattierungsfreier Systeme mit Farbe. Doch auch spezielle Eigenschaften im Mund (Speichel, Materialoberfläche) haben Einfluss auf das Scanergebnis. So stellen feuchte Oberflächen eine Fehlerquelle bei der Messung dar, da der Strahl gebrochen wird und man somit nicht exakt an der Zahnoberfläche scannt. Ein vorheriges Trockenlegen ist daher immer noch erforderlich. Die Zukunft sieht der Referent im geführten Scan (höhere Genauigkeit) bzw. im Ganzkieferscan (inklusive Weichteile). Doch auch das  Thema Bewegungsaufzeichnungen lasse viel Spielraum für neue Entwicklungen und Anwendungen.

Den Abschluss des ersten Vortragsblocks gestalteten Dr. Philipp Eigenwillig und Udo Höhn (Fa. DentaCore) zum Thema „Digitaler Workflow vom Intraoralscan bis zum 3D-Druck“. Eigenwillig erläuterte dabei u. a. den 
Ablauf bei Einsatz von suresmile® fusion bei Anwendung der Lingualtechnik, während Udo Höhn detailliert auf die generative Fertigung einging und die Möglichkeiten der Extruder-Technologie (RepRap X350 pro) mit der PolyJet-Technologie (Objet Eden260) verglich. Während die Extruder-Technologie nicht in der Lage ist, Daten adäquat nachzubilden, lassen sich mit der 3D-Druck-PolyJet-Technologie Modelle präzise herstellen. 

Nach einem schmackhaften abendlichen Barbeque im sechsten Stock des Hotel Esperanto startete der zweite Tag mit einer anschaulichen Vorführung moderner digitaler Patientenkommunikation durch Prof. Dr. Gerhard Polzar. Ganz ohne Skript und mithilfe eines freiwilligen Teilnehmers demonstrierte dieser, wie die Dokumentation von Patientengesprächen heutzutage aussehen kann. Dafür nahm er die Befunde seines „Live-Patienten“ mit dem iPad auf und erläuterte ihm gleich auf dem Tablet behandlungsrelevante Aspekte. Anschließend noch diverse Infoblätter (z. B. zum Thema Engstand, vorher/nachher) zur Motivationssteigerung sowie die Invisalign-Einverständniserklärung, Vergütungsvereinbarung etc. beigefügt und schon geht die komplette Akte auf digitalem Wege an den Patienten.

Dipl.-Inf. Frank Hornung widmete sich anschließend der vierten Dimension der Kieferrelationsbestimmung. Er stellte einen virtuellen Artikulator vor, mit dessen Hilfe eine einfache, schnelle und sichere Erfassung der individuellen Kieferrelationsbewegungen realisiert werden kann. Die so erhobenen Daten der Patienten können dann auf konventionellem Wege oder mittels digitalem Workflow weiterverarbeitet werden (z. B. Schienentherapie bei Kiefergelenkerkrankungen). Der Einsatz eines gedruckten paraokklusalen Löffels gewährleistet dabei das Beibehalten der immer gleichen Position.

Wie die digitale Bracketplanung in der KFO-Praxis mithilfe des Individua®-Systems erfolgt, demonstrierte Dr. Oliver Liebl. Dabei stellte der Kieferorthopäde aus Wertheim zunächst die Mitglieder der Individua®-Familie vor: Indirect Bond (Übertragungstray), Lingual Bond (lingualer Tray für anterioren Bereich) sowie Set-up Bond (ab viertem Quartal 2016 verfügbar). Anschließend zeigte er seinen Praxisworkflow mit Individua® und gab dabei so manchen praktischen Tipp mit auf den Weg. So empfiehlt Liebl bei der Arbeit mit individuellen Klebebasen stets die Reinigung mit Fokaldry (Brackets halten besser). Wird vorher sandgestrahlt, kann zudem eine Vergrößerung der Klebeoberfläche erreicht werden, was wiederum die Haftfestigkeit optimiert.

Juristische Aspekte der 
digitalen Archivierung

Rechtliche Fallstricke bei der digitalen Archivierung standen beim Vortrag von RA Rüdiger Gedigk im Fokus. So sind bei den Aufbewahrungsfristen unbedingt die Schadensersatzansprüche zu beachten (30 Jahre!!). Was die Einsichtnahme in Behandlungsunterlagen betrifft, muss laut Patientenrechtegesetz unverzügliche Einsicht gewährt werden. Am besten innerhalb einer Frist von drei bis vier Wochen, so Gedigk. Einzige Ausnahmen stellen hierbei erhebliche therapeutische Gründe oder sonstige erhebliche Rechte Dritter dar. Was in diesem Zusammenhang nach wie vor nicht eindeutig geklärt ist, ist der Aspekt der Kostenübernahme z. B. bei der Erstellung von Kopien der Behandlungsunterlagen. Der Referent selbst durfte hier ebenfalls seine eigenen negativen Erfahrungen machen. Auch auf Datenschutzvorschriften sowie den Beweiswert ging der Referent ein. So gelten unmittelbar am PC hergestellte Daten mit qualifizierter elektronischer Signatur wie Urkunden (urkundimmanenter Beweiswert). Eingescannte Patientenunterlagen hingegen können theoretisch vor dem Einscannen verändert werden, auch ist eine eingescannte Unterschrift für ein Schriftgutachten nicht verwendbar. Das heißt, ein Scan ist grundsätzlich kein Original mehr. Die  Teilnehmer gewarnt hat RA Gedigk vor der Nutzung von Dropbox zur Auslagerung von Patientenunterlagen. Genannter Cloud-Dienst sei berufsrechtlich nicht zulässig, da Unklarheit über den Speicherort bestünde und die Patientendaten nicht anonymisiert seien.

Ebenfalls juristischer Natur war der Beitrag von RA Gesa Deneke. Sie sprach zu Fallstricken bei der Finanzierung hochwertiger Wirtschaftsgüter (z. B. DVT) und ging dabei u. a. auf Kredite und Kreditsicherheiten ein. Wichtig hierbei wäre z. B. die Hinwirkung auf enge Zweckerklärungen, die Vermeidung von Überkreuzbesicherungen insbesondere bei Grundschulden, der möglichst zu erfolgende Schutz des Privatvermögens oder das Vermeiden der Abtretung von kapitalbildenden Lebensversicherungen. Was die Tilgung von Krediten angeht, wird es bei Finanzierungsmodellen mit endfälliger Tilgung durch Ansparung von Versicherungen, Fonds o.ä. problematisch. Zudem sollten Steuerersparnisse durch hohe Zinsbelastung während der Kreditlaufzeit der Belastung durch Abschluss- und Verwaltungskosten sowie durch zu versteuernde Einnahmen aus den Ansparverträgen gegenübergestelt werden. „Finanzieren Sie niemals alles bei einer Bank, Sie werden sonst Leibeigener dieser Bank“, mahnte RA Deneke. „Schauen Sie sich die Vertragsklauseln an und rechnen Sie selbst durch.“ Auch Mietkauf, Miete oder Leasing wurden besprochen, wobei bei Letzterem darauf geachtet werden sollte, dass es sich um einen Vollamortisationsvertrag handele. Nur so habe man in der Hand, was am Ende passiert.

Virtuelle Planung 
und CAD/CAM

Aktuellen Entwicklungen in der virtuellen Planung und CAD/CAM in der klinischen Anwendung widmeten sich anschießend DDr. Silvia Silli und Dipl.-Ing. Christian Url. Dabei wurde zunächst auf die  Vorteile des Orthorobot-Laborprozesses eingegangen, zu denen u. a. die Individualisierung aller auf dem Markt verfügbarer Brackets, die Realisierung einer maßgeschneiderten Bracketprescription durch individualisierte Bracketbasen (lingual und bukkal) oder die Fertigung individueller, robotergebogener Bogengeometrien gehören. Was die Erstellung des virtuellen Set-ups (mithilfe der OnyxCeph Software) angeht, ist dieses mit weniger Aufwand verbunden, als bei Realisierung eines manuellen Set-ups. Als großer Pluspunkt kann ebenfalls angesehen werden, dass weder Laborressourcen noch Techniker erforderlich sind und das Set-up vom Kieferorthopäden selbst herstellbar ist, was dessen Bick für Details deutlich schärft. Zudem stellt dieses Optisch-greifbar-Machen eine immense Hilfe bei der Aufklärung der Patienten dar.

Der Planungssoftware bzw. Virtualisierung widmete sich Christian Url. Er verdeutlichte anhand der Vorstellung diverser Softwaretools, wie die Wertschöpfungskette vom Labor in die Praxis verschoben werden kann (Abdruck, Set-up, Bracketpositionierung, Transfer-Tray, Bögen). Klinische Fälle aus der Praxis von DDr. Silli rundeten den Vortrag ab.
Dr. Ingo Baresel, Präsident der Deutschen Gesellschaft für digitale orale Abformung (DGDOA) informierte zur digitalen Abformung aus zahnärztlicher Sicht. Er empfiehlt beim intraoralen Scannen den Einsatz einer speziellen Brille (EyeCAD-connect), die das Scanfenster in die Brille hineinprojeziert, sodass man nicht mehr auf den Monitor schauen muss. Nahezu jede Apparatur ist für ihn aufgrund digitaler Abformung herstellbar. Ob Plattenapparaturen, bimaxilläre Geräte, GNE, Quadhelix (wenn Bänder nicht im Mund) usw. Selbst mit Brackets im Mund kann gescannt und anschließend Retainer, Positioner oder eine  VDP hergestellt werden. Hierfür werden die Brackets im Labor einfach anschließend mittels Software rausgerechnet, sodass für die Set-up-Erstellung ein bracketfreier Kiefer vorliegt. Mit dem Vortrag von Dr. Mathias Höschel, der aus Sicht eines Anwenders zusammenfasste, was hinsichtlich „analog oder digital“ für die eigene KFO-Praxis Sinn macht, endete das diesjährige Symposium.

Status quo und Perspektiven aufgezeigt
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