Cosmetic Dentistry 16.07.2025
Vier-Quadranten-Rehabilitation nach parodontal-funktioneller und kariöser Schädigung
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Aufgrund des immer höher werdenden Anteils von Patient/-innen mit Abrasionen, Attritionen, Erosionen und/oder Parafunktionen steht der in diesem Artikel vorgestellte Behandlungsansatz stellvertretend für ein minimalinvasiv2 und okklusionsprophylaktisch orientiertes Behandlungskonzept3 im Sinne einer Sicherung der statischen Okklusion und Gewährleistung einer interferenzfreien dynamischen Okklusion.4–7 Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund, dass auf Gelenkebene lediglich ein Spielraum von 0,6 – 0,8 mm vorliegt8,9 und die Taktilität des Kausystems noch empfindsamer reagiert (0,02 – 0,03 mm10), von zentraler Bedeutung bei der Rekonstruktion von Zähnen bzw. Kauflächen.
Als Behandlungsziel wird daher eine Defensivgestaltung der Kauflächen angestrebt, um bei der Parafunktion, welche primär nicht als Pathologie, sondern als Stressventil der Patientin zu betrachten ist, das Risiko einer Überlastung oder Schädigung des Kauorgans zu minimieren.
Problematik
Eine Erhöhung oder auch Absenkung der vertikalen Dimension stellt bei Myoarthropathie, fehlenden Zähnen sowie parodontaler Entzündung mit Attachmentverlust eine zusätzliche Herausforderung dar. Vor allem, wenn ein in einem Kiefer festsitzender implantatgetragener Zahnersatz unter Auflösung der Stützzonen vorgesehen ist.4 Nachfolgend soll nun im Rahmen eines synoptischen Behandlungskonzepts gezeigt werden, wie diese Problematik gelöst wird. Im Fokus standen hierbei die Funktion, die Phonetik und die Ästhetik.11, 12
Patientenfall
Spezielle Anamnese
Eine 70-jährige Patientin stellte sich auf Empfehlung eines anderen Patienten mit einem sanierungsbedürftigen, parodontal geschädigten Gebiss vor. Es zeigten sich Verspannungen im Schulter- und Nackenbereich. Sie wies darauf hin, dass sich aufgrund diverser Extraktionen (15, 14) in der jüngsten Vergangenheit das Kauvermögen deutlich reduziert hat und die Zähne besonders in der oberen Front über die Jahre immer länger würden. Laut eigener Aussage „passen die Zähne nicht mehr richtig aufeinander“, auf der linken Seite wäre das Kauen nur noch eingeschränkt möglich. Vor ungefähr 30 Jahren wurde laut Patientin eine Parodontitisbehandlung (Lappen-OP) durchgeführt. Sie gab an, mit den Zähnen zu knirschen. Zudem litt sie an überempfindlichen Zahnhälsen im Bereich der Prämolaren und Molaren beidseits. Die klinische Funktionsanalyse zeigte positive parafunktionelle Befunde (CMD latent), welche jedoch klinisch der Patientin keinerlei Einschränkungen oder Beschwerden verursachten.
Diagnose
Aus der klinischen und röntgenologischen Befundung leiteten sich diese Diagnosen ab:
- Chronische Parodontitis mittleren Schweregrades
- Myoarthropathie
- Parafunktion – Pressen und Knirschen – mit sichtbarem Zahnhartsubstanz-abrieb (Attrition) einhergehend mit Verlust der vertikalen Dimension
- Leichte Verspannungen im Schulter- und Nackenbereich
- Störung der statischen und dynamischen Okklusion: parodontal „aufgefächerte“ Oberkieferfront, ungenügende Eckzahnführung rechts, Elongation 16, Mesialkippung 47, Freiendsituation Oberkiefer links ab 23, Gruppenführung links, Latero- und Protrusionsfacetten, Mediotrusionsvorkontakte
- Multiple gingivale Rezessionen
- Keilförmige Defekte
- Zungenindentationen
- Prothetisch und konservierend insuffizient versorgtes Erwachsenengebiss
Behandlungsplanung
Grundsätzlich stand die Diskussion „Räumung OK-Restbezahnung“ versus „Erhalt (Front 13-23) bei fortgeschrittener Parodontitis, asymmetrischem Knochenverlust, Lockerungsgrad I–II an 12-22 sowie Rezessionen der Gingiva,13 Verlust der interdentalen Papillen im ästhetischen Bereich, mittelhoher Lachlinie und der ausgedehnte Bedarf an konservierender und prothetischer Behandlung“ im Raum.
Nach Abwägung sowohl ethischer als auch für die Patientin wichtiger psychologischer Aspekte ließ dies der OK-Restbezahnung zwar eine fragliche Prognose im Hinblick auf die Langzeitstabilität zuteilwerden, jedoch war durch die Freiendsituation links sowie die Schaltlücke rechts das Kauzentrum deutlich nach anterior verlagert. Dies sollte nach der Sanierung im SZB eine deutliche Entlastung bringen und beeinflusste somit auch die Prognose der Frontzähne entsprechend positiv. Die Patientin wünschte sich zudem nach Möglichkeit den Erhalt der Frontzähne und war sich des Misserfolgsrisikos bei weiterem parodontalen Attachmentverlust bewusst.
Dass auch bei parodontal angeschlagenen Zähnen nach entsprechender Vorbehandlung eine vorhersagbare Langzeitprognose formuliert werden kann,14 stand außer Frage, jedoch zu welchem finanziellen bzw. zeitlichen Aufwand und auch mit welchem entsprechend ästhetischen Outcome?
Vorbehandlung
Nach Befundaufnahme und professioneller Zahnreinigung erfolgte:
- Abformung zur Herstellung von Situationsmodellen.
- Aufnahme des Fotostatus.Clinometerregistrierung (Abb. 15).Individuelle Gesichtsbogenübertragung.Bissnahme in zentrischer Kondylenposition6 nach Entfernung des „retralen“ Gleithindernisses an 16, um die Patientin „zentrikfähig“ zu machen (Abb. 14). Dies geschieht nach Deprogrammierung der Kaumuskulatur15 mit einem Aqualizer mittels Frontjig und GC Bite Compound nach Gutowski16 (Abb. 16).
- Wax-up/Mock-up (Abb. 17a).
- Schienenvorbehandlung in RP für sechs Wochen (Abb. 17b).
- Entfernung der Oberkieferseitenzähne 17, 16 nach Abwägung der Alternativtherapien und ausführlicher Besprechung mit der Patientin.
- Socket Preservation mit BioOss (Geistlich Pharma).
- Versorgung mit Oberkieferimmediat-Teilprothese (Abheilphase zwei Monate) und LZP 13-23 (Abb. 17c).
- Weichgewebsaugmentation Oberkieferfront 13-23 mit Bindegewebstransplantaten, Tunnelierungstechnik und Schmelz-Matrix-Protein (Abb. 17d).
- Endodontische Versorgung (Abb. 17e)der Zähne 13 und 12 als Nebenbefund bei der präoperativen Implantatplanung im DVT.
- Etablierung einer neuen vertikalen und horizontalen Relation des Unterkiefers in ZKP (zentrischer Kondylenposition) mit Oberkieferimmediat-Teilprothese und laborgefertigtem LZP 13-23 im OK (Abb. 18a), temporären Kompositaufbauten 36, 33-45 und 47 im UK (Tetric EvoCeram, Ivoclar Vivadent) anhand des Wax-ups mittels transparenter Silikonschlüssel (Elite Transparent, Zhermack; Abb. 18b).
- Begleitende Kieferphysiotherapie zur Unterstützung der Adaptation an die neue VDO.17–19
- Reevaluation/Akzeptanz der neuen VDO nach Adaptationsphase von acht Wochen. Nach erfolgter Vorbehandlung stellten sich alle für die definitive Versorgung geplanten Zähne im Unterkiefer bis auf 47 als sicher erhaltungswürdig dar.
Definitive Versorgung
- Nach erfolgter Einheilphase von sechs Monaten: Austestung der Bisslage mit verblockten Langzeitprovisorien 4, 5, 6 für weitere sechs Monate (Abb. 26, 27 und 29 – 34).
- Schablonengeführte Implantation für die definitive Versorgung im Oberkiefer (NobelGuide, Nobel Biocare; Abb.19+20) mit verschraubten Einzelkronen 4, 5, 6 beidseits (Lithiumdisilikat IPS e.max Press, Ivoclar Vivadent) auf Titanabutments (Universal Base Abutments, Nobel Biocare) geklebt (Multilink Hybrid-Abutment, Ivoclar Vivadent).
- Einzelzahnimplantat 046 für die definitive Versorgung mit verschraubter Implantateinzelkrone (Lithiumdisilikat IPS e.max Press, Ivoclar Vivadent) auf Titanabutment (Universal Base Abutments) geklebt (Multilink Hybridabutment) nach erfolgter Einheilphase von sechs Monaten.
- Präparation für die definitive Versorgung im Unterkiefer 36, 33, 43, 44 und 45 mit Presskeramikteilkronen.
- Verschraubte Implantatkrone 046 (Abb. 21– 25).Abschließende Präparation (nach Weichgewebstransplantation/Schleimhautverdickung 13-23 und Versorgung mit LZP für zehn Monate) für die definitive Versorgung OK-Front 13-23 mit Feldspatveneers (Abb. 28+35).
- Abdrucknahme.
- Zentrikbissnahme.
- Gesichtsbogenübertragung.
- Anproben.
- Definitive Eingliederung in den Folgesitzungen (Abb. 36).
Diskussion/Epikrise
In der klinischen bzw. funktionellen Verlaufsdokumentation (Follow-up nach einem und nach zwei Jahren, Abb. 37– 43) zeigten sich stabile und reizfreie Hart- und Weichgewebsverhältnisse. Mit dem Fokus auf die funktionell kompromittierte Ausgangssituation wurde nach einem Jahr eine Condylografie vorgenommen. Insgesamt betrachtet, entsprechen die Aufzeichnungen den vorangegangenen Aufzeichnungen in ihrer Qualität (durchschnittlich), Quantität (verringert), Charakteristik (wechselnd, zum Teil gerade), Symmetrie (asymmetrisch) und in der Transversalenevaluation (Deflexion um 0,4 mm nach links). Sie sind jedoch aufgrund der klinisch völlig unauffälligen und beschwerdefreien Situation nicht weiter therapierelevant.
Zudem zeigen die Aufzeichnungen Schlucken, Bruxieren und Kauen keine Vektoren mehr an, welche Gelenkkapsel-schädigenden Charakter aufweisen könnten. Das bedeutet: Die Kaumuskulatur arbeitet mit weniger Kraft (keine Vermeidungs- und Ausweichbewegungen) und mehr Effizienz (verbesserte Okklusion und Artikulation). Die Therapieplanung (i. S. eines „Backward Planning“) sorgte durch deren gezielte Umsetzung und somit hohe Vorhersagbarkeit für eine langfristige Prognose der Rekonstruktion. Die Patientin ist subjektiv beschwerdefrei. Sie hat keine Anzeichen einer Dekompensation in der klinischen Funktionsanalyse und zeigt keine Druckdolenz der (Kau-)Muskulatur oder der Gelenke.21,22
Die Literaturliste können Sie sich hier herunterladen.
Dieser Fachbeitrag ist in der cd cosmetic dentistry erschienen.