Endodontologie 26.01.2016
Endodontische Behandlungen ohne Assistenz?
Seit eh und je assistiert dem Zahnmediziner am Behandlungsstuhl die Zahnmedizinische Fachassistentin (ZFA). Bei konservierenden Behandlungen hat die Stuhlassistenz im Wesentlichen die Aufgabe zu „schnorcheln“, d. h. Speichel und Detritus abzusaugen, und die Zunge des Patienten, häufig taub durch die Anästhesie des N. alveolaris inferior, vom rotierenden Instrument fernzuhalten. Folgender Beitrag zeigt, wie aufwendige Präparationen und endodontische Behandlungen auch ohne Assistenz durchgeführt werden können.
Eine erfolgreiche zahnärztliche Behandlung setzt die Kooperationsbereitschaft des Patienten voraus. Die Abläufe in der Praxis, die Schmerzausschaltung und vor allem der direkte Kontakt des Patienten zu seinem Zahnarzt sind wesentliche Elemente, diese Kooperationsbereitschaft aufzubauen, zu entwickeln und zu bestätigen.
Schritt eins jeder zahnärztlichen Behandlung ist es immer, den Patienten zu veranlassen, den Mund über einen längeren Zeitraum geöffnet zu halten, was unter anderem bei behinderten Patienten und bei Kindern nicht immer erreicht wird. Dieses Problem und die Suche nach einer patientengerechten Lösung war vor mehr als 20 Jahren der Basisimpuls für die Entwicklung des Mundöffners MultiAssist.
Die Stuhlassistenz
Parallel zur zahnärztlichen Behandlung muss die Absaugung von Kühlwasser, Speichel und Detritus sichergestellt sein – eine der Basisaufgaben der Behandlungsassistenz. Eine weitere Aufgabe ist es, zum Schutz der oralen Weichteile, also Wange und Zunge, bei konservierenden Behandlungen ein „Schild“ aufzubauen, um einen Kontakt mit dem rotierenden Instrument zu vermeiden. Die Stuhlassistenz schafft dadurch einen Freiraum für den Behandler, der allerdings aus diesem Grund Licht und Blickfeld mit der Assistenz am Stuhl teilen muss.
Bereits während des Studiums prägt dieses Schema die Behandlungsabläufe. Gibt es heute, im Jahr 2015, keine Möglichkeiten, diesen personellen Aufwand zu reduzieren und die Abläufe der Behandlung zu optimieren? Bei einem geeigneten Assistenz- und Schutzsystem könnte eine routinemäßige zahnärztliche Behandlung weitgehend oder sogar vollständig ohne Stuhlassistenz erfolgen.
Die Entwicklung eines multifunktionalen Instrumentariums, das in der Hand des Behandlers die Funktion der Absaugung erfüllt und gleichzeitig sicher die Mundöffnung und den Weichteilschutz gewährleistet, könnte die Basis für die Erprobung eines ressourcenschonenden Behandlungskonzepts darstellen.
Medizintechnischer Fortschritt
Seit Mitte der 1990er-Jahre sind in Deutschland multifunktionale Absaugkanülen verfügbar, die eine zahnärztliche Behandlung ohne Stuhlassistenz möglich machen: die Multifunktionskanüle MultiAssist. Dabei handelt es sich um ein Instrumentarium, das Detritus, Speichel und Kühlwasser ganz normal absaugt, aber zusätzlich durch die Integration einer quer gestellten Aufbissfläche gleichzeitig die Mundöffnung des Patienten bewirkt. Der Patient kann durch Zubeißen auf die Aufbissfläche dieselbe im distalen Zahnbereich selbst fixieren. Gleichzeitig schützen die beiden parallel stehenden Wände die Zunge und Wangen vor einem unbeabsichtigten Kontakt mit dem rotierenden Instrument (Abb. 1).
Anwendung in der Praxis
Zur Erprobung des MultiAssist in der täglichen Praxis wurden übliche Kavitäten- und Kronenpräparationen definiert. Die definierten Behandlungen wurden ohne Stuhlassistenz durchgeführt. Die beschriebene Multifunktions-Absaugkanüle konnte problemlos beim sitzenden und auch beim liegenden Patienten angewendet werden. In allen Fällen führte die Zahnärztin/der Zahnarzt das Instrumentarium über die zu behandelnde Zahnreihe in den 7er- bis 8er-Bereich; durch Zubeißen auf die quer stehende Aufbissfläche fixierte der Patient den MultiAssist.
Da die Behandlung ohne Assistenz erfolgte, stand für den Behandler der vollständige Raum um den Patienten zur Verfügung. Eine Behandlung von der 9-Uhr- bis zur 3-Uhr-Position war praktikabel, weil der üblicherweise von der Stuhlassistenz benötigte Platz ebenfalls für den Behandler frei ist.
Für die Behandlung im Oberkiefer sollte der Kopf des Patienten so weit überstreckt sein, dass der obere Zahnbogen vertikal mit leichter Neigung nach hinten gelagert ist (Abb. 2). Der Behandler kann dann eine Grundposition aus 12 Uhr einnehmen; bei interdentalen Präparationen kann jedoch auch eine 9-Uhr- oder sogar eine 3-Uhr-Position, bei Neigung des Patientenkopfes in beide Richtungen, Vorteile für eine direkte Sicht bieten. In allen Positionen ist ein freier Blick auf alle zu präparierenden Zahnflächen der oberen Quadranten möglich. Bei Behandlungen im 3. und 4. Quadranten empfiehlt es sich, den Kopf des Patienten so zu lagern, dass der Unterkiefer bei geöffnetem Mund annähernd horizontal geneigt ist. Hierbei ist die 9-Uhr-Sitzposition des Behandlers angezeigt.
Eine zu empfehlende seitliche Neigung des Patientenkopfes in Richtung des Behandlers wird möglich, da Sichtfeld und Beleuchtung nicht mehr mit der Assistenz geteilt werden müssen. Dadurch ergibt sich für den Behandler ein freier und uneingeschränkter Blick auf das vollständige Arbeitsfeld. In allen Fällen positioniert der Behandler, sofern er Rechtshänder ist, den Multisauger mit der linken Hand, die rechte Hand hält Winkelstück oder Turbine. Bei der Präparation kann der Behandler sich, die Kanüle kurz gefasst, am rechten Oszygomatikum abstützen.
Patientenbewertung
Die U-Form der verwendeten Multifunktions-Absaugkanüle mit der distalen Aufbissfläche und den seitlichen Schutzflächen bietet einen guten Weichteilschutz (Abb. 1 und 2). Wange und Zunge werden sicher vom Arbeitsbereich abgehalten und vor unbeabsichtigtem Kontakt mit dem rotierenden Instrument geschützt. Durch das Zubeißen des Patienten auf die quer positionierte Aufbissfläche entspannt sich die Kiefermuskulatur. Der Patient ist nicht mehr gezwungen, den Mund aktiv weit geöffnet zu halten; diese Beeinträchtigung ist weitgehend eliminiert. Bedingt durch die Aufbisssituation bleiben die Schluckreflexe und die Motilität der Zunge erhalten. Der Patient empfindet also auch hier keine Beeinträchtigung.
Aus Sicht des Patienten stellt sich immer häufiger die Frage: „Bei meinem Hausarzt bin ich mit ihm allein und kann ein sehr persönliches Verhältnis aufbauen – warum ist bei meinem Zahnarzt/bei meiner Zahnärztin immer eine dritte Person zugegen, die passiv immer mitbehandelt?“ Die Tatsache, dass bei Anwendung des MultiAssist die Behandlung ausschließlich durch den Zahnmediziner erfolgt, wird nach den Ergebnissen einer Befragung von mehr als 100 Patienten in 95 Prozent der Fälle als angenehm empfunden, von den restlichen Fällen wurde die fehlende Stuhlassistenz weder positiv noch negativ bewertet.
Praktische Erprobung
Da bei Behandlung ohne Stuhlassistenz der Kopf des Patienten in Richtung des Behandlers geneigt werden kann, ermöglicht die Arbeit mit der Multifunktionskanüle MultiAssist eine entspannte und ergonomisch richtige Sitzhaltung (Abb. 3). Der Behandler kann in aufrechter Haltung und ohne Torsion der Wirbelsäule arbeiten. Die Belastung der Bandscheiben wird signifikant reduziert, muskulären Verspannungen kann dadurch vorgebeugt werden. Durch die Schutzflächen des Multisaugers sowohl lingual als auch bukkal und distal stellt sich auch die Aerosol-Sprühnebel-Situation für den Behandler wesentlich günstiger als bei konventioneller Behandlung dar; die Belastung ist deutlich geringer.
Die Umstellung von der konventionellen Behandlung mit Stuhlassistenz auf die rationelle Anwendung der Mehrfunktions-Absaugkanüle erfordert vor allem beim Behandler eine Einübungs- und Gewöhnungszeit. Diese sollte mit etwa fünf bis zehn Tagen, oder vergleichbar 50 bis 100 Behandlungen, angesetzt werden. Während dieser Zeit muss sich der behandelnde Zahnarzt/die behandelnde Zahnärztin damit vertraut machen, die Absaugkanüle eigenhändig zu positionieren und die Bewegungsabläufe während der Behandlung zu optimieren, das heißt ohne Assistenz einer Helferin.
Nach der Positionierung der MultiAssist-Kanüle können, mit ergonomischen Instrumenten, auch problemlos intraligamentale Injektionen zur örtlichen Betäubung appliziert werden. Der Wechsel von den konventionellen Anästhesiemethoden (Infiltrations- und Leitungsanästhesie des N. alveolaris inferior) zur intraligamentären Anästhesie (IL-A) bringt eine weitere Optimierung in die zahnmedizinischen Abläufe. Da bei der IL-A die Latenzzeit mit dem dadurch bedingten „room hopping“ entfällt und die Anästhesie-Versagerrate signifikant geringer ist, kann die Behandlung ohne zeitliche Unterbrechung durchgeführt werden, was ebenfalls vom Patienten sehr geschätzt wird.
Da keine Stuhlassistenz während der Präparationszeit erforderlich ist, wird es möglich, effiziente und neue Einsatzgebiete für das Praxisteam zu definieren, beispielsweise Individualprophylaxe, Patientenmarketing, Qualitätsmanagement, was für die Praxis interessante Perspektiven eröffnen kann. In der praktischen Anwendung hat sich gezeigt, dass eine Adaptation des MultiAssist an spezielle Patientengegebenheiten sinnvoll sein kann. Bei Patienten mit geringer SKD empfiehlt sich die Reduzierung beziehungsweise Einebnung der Aufbissfläche; der für die Herstellung verwendete Hochleistungswerkstoff gestattet eine Reduzierung auf < 10 mm (Abb. 4). Für die Kinderbehandlung kann zusätzlich die Länge des Weichteilflügels individuell verkürzt werden, um ihn an die verkürzte Zahnreihe des kindlichen Gebisses anzupassen.
Die MultiAssist-Kanüle ist mit allen standardisierten Behandlungseinheiten kompatibel (Abb. 5). Der Kopf dieser Multifunktionskanüle kann vom Behandler durch Beschleifen an individuelle Vorstellungen problemlos angepasst werden. Die Multifunktionskanüle wird aus einem Hochleistungswerkstoff hergestellt, ist uneingeschränkt sterilisierbar und überdauert auch sehr hohe thermische, mechanische und chemische Belastungen über lange Zeiträume ohne Beeinträchtigungen.
Diskussion und Zusammenfassung
Die Erfahrungen mit der Multifunktions-Absaugkanüle MultiAssist aus mehr als 20 Jahren haben gezeigt, dass es möglich ist, in der täglichen Praxis die Stuhlassistenz der zahnärztlichen Helferin deutlich zu reduzieren. Nach Erlernen und Einüben der erforderlichen Bewegungsabläufe mit dem neuartigen Instrumentarium kann der Behandler auch aufwendige Präparationen und endodontische Behandlungen ohne Assistenz durchführen. Die ZMF wird für andere Tätigkeiten frei. Es ist möglich, alle Abläufe der täglichen zahnärztlichen Arbeit individueller und auch rationeller zu gestalten. Durch konsequenten Einsatz der Multifunktions-Absaugkanüle können die Arbeitsabläufe und die Arbeitsbedingungen für den Behandler deutlich optimiert werden. Die in der Praxis zur Verfügung stehenden personellen Ressourcen können dadurch wirtschaftlicher genutzt werden. Das direkte Verhältnis zwischen Patient und Behandler wird gestärkt, was als Beitrag zum Praxismarketing betrachtet werden kann.
Co-Autor:
Dr. H. Ulrich Riewenherm
Am Röhrbach 143
33334 Gütersloh
Tel.: 05241 76501
Dr.Riewenherm@gmail.com