Endodontologie 16.08.2021

Ortho- und retrograde Revision zweier Oberkieferinzisivi

Ortho- und retrograde Revision zweier Oberkieferinzisivi

Foto: Dr. Magdalena Ibing

Ungefähr 50 Prozent der Heranwachsenden in Europa erleiden noch vor dem 18. Lebensjahr einen Zahnunfall. Bei einem Großteil handelt es sich dabei um die bleibenden Oberkieferfrontzähne. Eine gute Diagnostik und primäre Versorgung sind direkt am Unfalltag von extrem hohem Stellenwert. Mit den Spätfolgen eines Zahntraumas haben Patienten andernfalls oft noch Jahre später zu kämpfen, denn diese sind bei Traumazähnen leider keine Seltenheit. Wie eine komplexe Behandlung von bereits traumatisierten Zähnen funktionieren kann, wird im folgenden Artikel beleuchtet.

Eine 32-jährige Patientin stellte sich mit Schmerzen an den Oberkieferfrontzähnen in der zentralen interdisziplinären Ambulanz der Zahnklinik des Universitätsklinikums Münster vor. Nach Angaben der Patientin hatte sie vor 20 Jahren im Ausland ein Frontzahntrauma erlitten. Sie konnte sich jedoch nicht an die genau vorgenommenen Behandlungsmaßnahmen erinnern. Nach der klinischen Inspektion ergaben sich für die Zähne 11 und 21 insuffiziente Kompositfüllungen, ein Lockerungsgrad I und physiologische Taschensondierungstiefen. Beide Zähne waren perkussionsempfindlich und negativ beim Sensibilitätstest. Im Vestibulum stellte sich die Schleimhaut reizlos und nicht druckdolent dar. Der röntgenologische Befund zeigte für die Zähne 11 und 21 insuffiziente Wurzelkanalfüllungen mit apikalen Parodontitiden an den Wurzelspitzen (diagnostisches Bild). Am Zahn 11 konnte eine zusätzliche Wurzelfraktur festgestellt werden. Im Gegensatz zu den Zähnen 12 und 22 stellten sich die Zähne 11 und 21 stark verkürzt dar. Die Patientin konnte auf gezieltes Nachfragen berichten, dass bereits Jahre zuvor eine Wurzelspitzenresektion vorgenommen wurde. Eine mögliche Differenzialdiagnose wäre eine entzündlich bedingte externe apikale Resorption gewesen.

Therapievorhaben

Die vorliegenden Befunde zeigten einen Therapiebedarf mit fraglicher Prognose der Zähne 11 und 21. Nach einer ausführlichen Aufklärung kam für die Patientin der Versuch eines Zahnerhalts infrage. Die Patientin wurde darüber aufgeklärt, dass eine ortho- sowie retrograde Revision der Wurzelkanalfüllung mit Entfernung des frakturieren Wurzelfragments nötig sei.

Erste Sitzung

In der ersten Sitzung wurde nach vorangegangener Infiltrationsanästhesie (Septanest, Septodont) direkt mit der Revision der Wurzelkanalfüllung unter aseptischen Kautelen (Kofferdam) begonnen. Die bereits bakteriell infizierte und gelockerte Wurzelkanalfüllung konnte mit Gates-Bohrern und Hedström-Feilen entfernt werden. Nach einem ausführlichen Spülprotokoll mit Natriumhypochlorit (3 %), Zitronensäure (20 %) und Chlorhexidin (2 %) wurden die Wurzelkanäle getrocknet und mit einer wässrigen Kalziumhydroxid-Suspension als medikamentöse Einlage versorgt. Die Trepanationsöffnung wurde mit einer provisorischen Glasionomerzementfüllung verschlossen.

Zweite Sitzung

Zur zweiten Sitzung erschien die Patientin beschwerdefrei. Nach der lokalen Infiltrationsanästhesie wurden beide Zähne 11 und 21 mittels Kofferdam isoliert und die provisorischen Verschlüsse entfernt. Mit einem dentalen Operationsmikroskop (Flexion, CJ-Optik) konnte die Vollständigkeit der Revision unter direkter Sicht bis zum Apex überprüft und die Wurzelkanalwände gründlich auf mögliche Frakturenlinien untersucht werden. Zur genaueren Längenbestimmung des weit offenen Wurzelapex wurde eine Röntgenkontrastaufnahme erstellt. Nach intensiver Spülung mit Natriumhypochlorit (3 %), Zitronensäure (20 %) und Chlorhexidin (2 %) sowie Aktivierung der Spülflüssigkeiten mit EDDY (VDW, München) wurden die beiden Wurzelkanäle mit sterilen Papierspitzen getrocknet. Zum Verschluss der weit offenen, bereits resezierten Wurzelkanäle wurde Biodentine (Septodont) verwendet. Aufgrund des Röntgenkontrastmittels Zirkondioxid kommt es bei der Verwendung von Biodentine seltener zu Verfärbungen der Zähne als bei anderen Tri- und Dikalziumsilikatzementen, die Bismutoxid als Röntgenkontrastmittel beinhalten. Diese Farbstabilität spielte in dem vorliegenden Fall für die Frontzähne mit verkürzten Wurzeln durchaus eine Rolle. Da frisch angemischtes Biodentine oft am Instrumentarium klebt, wurde der Zement mit der dicken Seite von abgemessenen sterilen Papierspitzen der Größe ISO 80 in den Wurzelkanal eingebracht. Mit zuvor abgemessenen Machtou-Pluggern (VDW) wurde Biodentine in das weit offene apikale Foramen kondensiert und verdichtet, um einen apikalen Plug zum Verschluss des Wurzelkanals zu erzeugen.

Im ersten Röntgenkontrollbild zeigt sich, dass Biodentine an Zahn 11 in Regio des Wurzelfragments überpresst wurde. Auf eine apikale Matrizentechnik mit Kollagen wurde hier verzichtet, da der chirurgische Eingriff im Nachgang erfolgte. Nach der Abbindezeit von circa zwölf Minuten wurde der zunächst zu kleine apikale Plug an beiden Zähnen mit einer zweiten Schicht Biodentine verstärkt. Nach erneutem Abbinden des Biodentines erfolgte direkt die thermoplastische Obturation mit Guttapercha als Backfill (BeeFill, VDW) und AH Plus (Dentsply Sirona) als Sealer. Nach Auftragen eines Dentinadhäsivs (Optibond FL, Kerr) erfolgte der adhäsive Verschluss der Kavität mit SDR Flow Universal (Dentsply Sirona) und Estelite Sigma Quick (Tokuyama).

Sieben Tage nach der Wurzelkanalfüllung

Zur Entfernung des Wurzelfragments in Regio 11 sowie der Glättung der beiden Wurzelapizes erschien die Patientin sieben Tage nach der Wurzelkanalfüllung. Im Anschluss an die Infiltrationsanästhesie wurde die Schnittführung nach Ochsenbein-Lübke von 12 bis 22 gewählt und ein vollschichtiger Mukoperiostlappen präpariert. Mit der breiten Lappenbasis, der Schonung der Interdentalpapillen und der guten Übersicht über das Operationsgebiet, stellte sich die Schnittführung nach Ochsenbein-Lübke in diesem Patientenfall als vorteilhaft dar. Zur verbesserten Orientierung wurde mit einer Parodontalsonde die ermittelte Arbeitslänge zwischen Apex und Inzisalkante abgemessen und in diesem Bereich der Knochen entfernt. Nach der Ostektomie in Regio 11 konnte das Wurzelfragment dargestellt und entfernt werden. Mit einem scharfen Löffel wurde das Granulationsgewebe vollständig reseziert und der apikale Biodentine-Plug sowie die Wurzeloberfläche geglättet. Nach Darstellung der Wurzelspitze erfolgte in Regio 21 ebenfalls die Entfernung des Granulationsgewebes sowie die Glättung des Biodentine-Plugs und der Wurzelspitze. In der Röntgenkontrollaufnahme wurde die Behandlung der Wurzelspitzenresektion kontrolliert und im Anschluss final beide Knochenhöhlen kürettiert, versäubert und mit isotoner Kochsalzlösung (NaCl 0,9 %) gespült. Nach erfolgreicher Einblutung der Defekthöhlen mit Bildung eines stabilen Blutkoagels wurde der Lappen repositioniert und vernäht (Vicryl 6/0). Eine gute Adaptation war hier wichtig, um eine möglichst geringe Narbenbildung zu erzielen.

Zweizeitiges Vorgehen

Durch das zweizeitige Vorgehen war es möglich, den Lappen nur für kurze Zeit zu bilden und so eine gute Versorgung des Gewebes zu gewährleisten. Ein einzeitiges Vorgehen mit retro- und orthograder Wurzelkanalfüllung hätte ebenfalls durchgeführt werden können. Hier wäre jedoch die Lappenbildung deutlich verlängert und die Kontamination der Wurzelkanäle, bei zusätzlicher orthograder Trepanation und Wurzelkanalfüllung, mit Blut und Speichel weit schwerer zu kontrollieren gewesen. Ein getrenntes Vorgehen von Wurzelkanalfüllung und Wurzelspitzenresektion war für Patientin und Behandlerin hier von Vorteil.

Einjahreskontrolle

Zur Einjahreskontrolle erschien die Patientin beschwerdefrei. Die Lockerungsgrade für beide Zähne betrug 0 und die Patientin gab an, mit den Frontzähnen problemlos abbeißen zu können. Im Röntgenbild zeigte sich eine knöcherne Regeneration der apikalen Defekte. Prognostisch ist der Einjahresrecall bei wurzelspitzenresezierten Zähnen sehr wichtig. Erfolgt bis zu diesem Zeitpunkt keine Heilung oder Regeneration des knöchernen Defektes, ist von dieser zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr auszugehen. Die Gingiva erschien ebenfalls reizlos und die Narbe der Schnittführung war nur blass zu erkennen.

Prognose

Die Prognose für primär wurzelspitzenresezierte Zähne beträgt etwa 78 Prozent nach fünf Jahren. Diese Prognose verringert sich bei einem zweiten resektiven Eingriff. Das Vorhandensein von präoperativen Beschwerden, periapikalen Läsionen über 5 mm und inhomogenen Wurzelkanalfüllungen verschlechtern die Prognose des Zahnes. Somit war die Prognose für den vorgestellten Fall fraglich. Lediglich das junge Alter der Patientin stellte einen positiven Faktor bezüglich der Erfolgswahrscheinlichkeit dar. Dieser Einzelfall zeigt jedoch, dass es mit einem guten schlüssigen Behandlungskonzept trotzdem zu einem positiven Ergebnis kommen kann. Eine gute klinische Diagnostik und ein durchdachtes Therapiekonzept sind für die Zahnerhaltung von schwer vorgeschädigten, traumatisierten Zähnen entscheidend.

Finale ästhetische Optimierung

Nach einem Jahr wünschte die Patientin eine ästhetische Verbesserung der Frontzähne, die sie zuvor aufgrund der fraglichen Prognose immer ablehnte. Hier konnte mit kleinen Kompositfüllungen eine ästhetisch ansprechende Front modelliert werden.

Autorin: Dr. Magdalena Ibing

Der Beitrag ist in ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis erschienen.

Mehr Fachartikel aus Endodontologie

ePaper