Kieferorthopädie 21.09.2017

Surgery First in der Behandlung skelettaler Dysgnathien



Surgery First in der Behandlung skelettaler Dysgnathien

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Priv.-Doz. Dr. Dr. Robin Seeberger zeigt die Möglichkeiten und Grenzen dieses Therapiekonzepts auf. Zudem stellt er die Ergebnisse einer aktuellen Studie vor, die  Veränderungen in der Lebensqualität bei Surgery First-Patienten vor und nach Therapie untersuchte.

Skelettale Dysgnathien führen zu kau- und atemfunktionellen Beeinträchtigungen und sind mit erheblichen craniomandibulären Störungen verbunden. Kiefergelenksbeschwerden, Nasenatmungsbehinderung und der eingeengte funktionelle Zungenraum verstärken für die betroffenen Patienten den Leidensdruck. Die Störung der Ästhetik führt darüber hinaus zu einem psychologischen Leidensdruck, der das Selbstbewusstsein und die Lebensqualität der Patienten stark beeinträchtigt. Eine kombinierte kieferorthopädisch-kieferchirurgische Behandlung zur Therapie dieser funktionellen Störungen ist langwierig und verlangt von allen Beteiligten während und auch nach der Behandlung ein hohes Maß an Disziplin.

Die präoperative kieferorthopädische Ausformung der Zahnbögen in Vorbereitung der Umstellungsosteotomie war vor den 1960er Jahren unüblich (Sharma et al. 2015). Zu dieser Zeit wurden Umstellungsosteotomien gänzlich ohne kieferorthopädische Begleitbehandlungen durchgeführt. Bestenfalls fand die kieferorthopädische Behandlung im Anschluss an die Operation statt (Huang et al. 2014). In den folgenden Jahren und Jahrzehnten setzte sich die präoperative kieferorthopädische Dekompensationsbehandlung flächendeckend durch, um die operativen Ausmaße zu optimieren und eine maximale Stabilität der postoperativen Verzahnung zu erreichen (Bell und Creekmore 1973; Worms et al. 1976). Mit der Arbeit von Proffit und Miguel 1995 wurden diese Konzepte endgültig etabliert, anerkannt und sind bis heute gültig.

Die Abbildung 1 veranschaulicht den zeitlichen Ablauf nach dem bewährten und etablierten Konzept. Hauptnachteile dieses Ansatzes sind die lange Gesamtbehandlungszeit (18 bis 47 Monate) und diverse Risiken wie Schmelzdefekte, Gingivarezessionen, Wurzelresorptionen sowie funktionelle und ästhetische Beeinträchtigungen während der präoperativen Ausformung der Zahnbögen (Sharma et al. 2015). Die Patienten warten oft ungeduldig während der Vorbehandlung auf die versprochene Verbesserung durch die erst spät in der Behandlung folgende Operation.

Bereits 1991 wurden diese Nachteile von Brachvogel et al. benannt und ein „Surgery First“-Konzept zur  Vermeidung dieser Nachteile vorgeschlagen. Die Verkürzung der Gesamtbehandlungszeit ist zum Teil auch auf den postoperativen Effekt des „Regional Acceleratory Phenomenom“ (RAP) zurückzuführen. Dieses Phänomen wurde erstmals von Bohannan 1962 beschrieben und erlangt aktuell durch gezielte interdentale Kortikotomien zur Behandlungsbeschleunigung in der Kieferorthopädie vermehrt Bedeutung (Hoogeveen et al. 2014). Die exakten Hintergründe und Mechanismen sind noch immer nicht vollständig geklärt, hängen aber im Wesentlichen mit dem gesteigerten Knochenstoffwechsel bei der Knochenheilung zusammen. Kieferorthopädische Zahnbewegungen erfordern extensives Knochen-Remodelling, welches durch die Expression von Entzündungszytokinen (TGF-β), Interleukinen (IL-1β und IL-6), knochenmorphogenetisches Protein (BMP-2) und weitere gefäßinduzierende Faktoren (VEGF) angeschoben wird (Meikle, 2006, Giannopoulou et al. 2006, Di Domenico et al. 2012).

Die präoperative Ausformung gegen störende Weichteilfunktionen und verzahnungsbedingte Hindernisse, wie z. B. bei ausgeprägtem  Tiefbiss oder Klasse III-Situationen, erfordern zur Nivellierung der Spee-Kurve okklusale Aufbauten, um das präoperative Behandlungsziel eines harmonischen Zahnbogens erreichen zu können. Durch gezieltes Einbeziehen des postoperativen Settlings in die Planung können diese teils langwierigen Methoden vermieden werden. Durch Einstellen einer sicheren Drei-Punkt-Abstützung lassen sich im Anschluss an die Operation solche Verzahnungshindernisse leicht kieferorthopädisch behandeln. Eine Drei-Punkt-Abstützung ist allerdings auch gleichzeitig die Minimalanforderung an die Verzahnung, wenn nach Surgery First behandelt werden soll.

Aktuell lässt sich in Asien, Europa und den USA ein Paradigmenwechsel hin zu Surgery First feststellen (Hernandez-Alfaro et al. 2014). Hauptargumente sind dabei die erheblich verkürzte Gesamtbehandlungszeit und die sofortige Verbesserung der Ästhetik (Huang et al. 2014, Sharma et al. 2015). Der zeitliche Ablauf bei dem Vorgehen nach „Surgery First“ ist in Abbildung 2 dargestellt. Durch die Verbesserung der Gesichtsästhetik in Verbindung mit den funktionellen Verbesserungen profitieren die Patienten in ihrer psychologischen Gesamtheit. Das Selbstvertrauen, die sozialen Kontakte und die Selbstwahrnehmung verbessern sich deutlich (Park et al. 2015, Zingler, Seeberger et al. 2017). Die Ergebnisse bezüglich der Lebensqualität aus der Studie von Zingler, Seeberger et al. 2017 sind in Abbildung 3 dargestellt.

Das Therapiekonzept bei Surgery First

Die konventionelle Behandlung zielt präoperativ auf die dentale Dekompensationsbehandlung ab. Dabei kommt es zu einer vorübergehenden „Verschlimmbesserung“ der Okklusion. Durch eine Umstellung des Behandlungsablaufs lässt sich die Therapiezeit deutlich verkürzen. Dabei werden die Zahnbögen erst nach der Operation ausgeformt = „Surgery First“ (Nagasaka et al. 2009, Schüssler und Drommer 2009).

Das Vorgehen in der Vorbereitung und Planung ist im Folgenden beschrieben. Begonnen wird mit einer umfassenden klinischen Untersuchung. Die Indikationen und Kontraindikationen für die Behandlung nach dem Surgery First-Konzept sind in Abbildung 4 zusammengefasst. Wenn sich der Patient zur Behandlung entschließt und in Rücksprache mit dem behandelnden Kieferorthopäden das Konzept möglich ist, wird die Planung durch ein digitales Volumentomogramm (DVT) sowie Kiefermodelle ergänzt. Anhand der Daten können das Operationsausmaß abgeschätzt sowie anatomische Strukturen und Nervenverläufe visualisiert werden. Abbildung 5 zeigt die eingelesenen DVT-Daten mit eingescanntem und übertragenem Oberkiefermodell. Daraus werden nach Einscannen der Modelle und Fusion virtuelle Schädelmodelle in der Planungssoftware erstellt.

Es folgt die präoperative Planung als virtuelle Modelloperation, wobei die endsplintige Einstellung des Schlussbisses in enger Absprache mit dem Kieferorthopäden erfolgt, um den noch notwendigen postoperativen Zahnbewegungen Rechnung tragen zu können. Abbildung 6 zeigt die virtuelle Modelloperation mit der finalen Okklusionseinstellung. Die virtuelle Planung hat neben der erhöhten Präzision den Vorteil, die Planungsergebnisse online mit den mitbehandelnden Kieferorthopäden diskutieren zu können. Zudem kann die Planung den ästhetischen Anforderungen des Patienten angepasst werden und es besteht die Möglichkeit, eine Profilvorhersage digital anzeigen zu lassen. Die Profilvorhersagen erfordern allerdings ein extrem hochauflösendes DVT oder ein CT, was mit einer erhöhten Strahlenbelastung einhergeht und daher in der Indikationsstellung genau abgewogen werden sollte.

Auch besteht bei „Vorhersagen“ immer die prinzipielle Gefahr der Nichterfüllbarkeit, da sich das Zusammenspiel der verschiedenen Hauttypen, mimischen Muskeln und Gewichtsveränderungen sehr schwer voraussagen lässt. Eine Orientierung, wie sich das Profil verändert, ist aber bereits heute mit dem Programm IPS CaseDesigner von KLS Martin möglich. Ein Fallbeispiel der virtuellen Modelloperation mit Veränderung des Weichteilprofils ist in Abbildung 7 präoperativ und Abbildung 8 postoperativ demonstriert.

Das technische Vorgehen bei Surgery First im Einzelnen:

  1. Die Kieferorthopädin bzw. der Kieferorthopäde klebt ca. ein bis zwei Wochen präoperativ die Brackets mit einem passiven (z. B. ausgeglühten) Bogen und ausreichend Verankerungsmöglichkeiten zum postoperativen Einhängen der Gummizüge (Abb. 9).
  2. Intraoperativ werden zur vorübergehenden intermaxillären Fixierung und zur Schonung der Brackets acht Minischrauben in den Alveolarfortsatz eingebracht. Die Operation erfolgt minimalinvasiv, z. B. über die von Seeberger et al. 2013 und 2016 beschriebene hohe schräge Osteotomie zur maximalen Schonung der Unterkiefernerven mit Erhalt des Gefühls an der Unterlippe.
  3. Postoperativ wird die Okklusion unmittelbar mit Gummizügen geführt. Es ist kein Splint in situ. Der finale Splint wird direkt nach Miniplattenfixierung der Segmente entfernt. Damit beginnt das Settling des Bisses unmittelbar postoperativ.
  4. Das Einbringen des ersten aktiven Bogens sollte dann zwei bis vier Wochen postoperativ erfolgen, um die Effekte des RAP voll nutzen zu können.

Planung und psychologische Aspekte beim Surgery First-Konzept

Für die virtuelle Modelloperation steht mit dem IPS CaseDesigner von KLS Martin (KLS Martin Group, Tuttlingen) ein mittlerweile ausgereiftes Werkzeug zur Verfügung. Das Einlesen der DICOM-Datensätze aus DVT/CT-Daten erfolgt ebenso unkompliziert wie das Scannen der Gipsmodelle im DVT-Gerät. Anhand der komplexen Möglichkeiten der Software lassen sich die Splintpositionen exakt bestimmen. Eine Herausforderung bleibt dabei im Zusammenhang mit Surgery First, die skelettale Endposition genauestens mit dem Kieferorthopäden zu besprechen und einzustellen. Dadurch, dass die kieferorthopädische Behandlung nach der Operation folgt, wäre gar eine Art „Clin Check“ wünschenswert, um die postoperativen Zahnbewegungen bei der Planung mit simulieren zu können.

Die enge Absprache zwischen Kieferchirurg und Kieferorthopäde ist für eine erfolgreiche Behandlung nach Surgery First extrem wichtig. Beide müssen gar „ziemlich beste Freunde“ sein, um die Behandlung zum Erfolg zu führen. Ein engmaschiges Recall postoperativ und eine fortwährende Anpassung der Gummizüge – gerade auch durch den Kieferorthopäden – sind sehr wichtig, bevor er den ersten aktiven Bogen einsetzt. Anders als bei konventionellen OP-Fällen ist auf einen frühen aktiven Beginn der kieferorthopädischen Behandlung zu achten, um die positiven Effekte der beschleunigten Zahnbewegung voll ausnutzen zu können.

Die Patientenauswahl im Vorfeld muss nach strengen Kriterien erfolgen – sowohl vonseiten des Kieferchirurgen als auch der Kieferorthopädie. Eine Orientierung ist in Abbildung 4 bereits dargestellt. Die Abbildungen 10 bis 13 zeigen einen typischen Behandlungsverlauf anhand einer Patientin mit skelettaler Klasse II.

Unsere aktuelle Studie zu Surgery First (Zingler, Seeberger et al. 2017) konnte die Veränderungen in der Lebensqualität bei Surgery First-Patienten vor und nach der Therapie zeigen. Der von uns verwendete Fragebogen (OQLQ- Orthognathic Quality of Life Questionnaire) ist einer der verlässlichsten auf diesem Gebiet (Hunt et al. 2001, Soh und Narayanan 2013). Wir konnten dabei die größte  Verbesserung in den Punktwerten zur Gesichtsästhetik feststellen. Gefolgt wurde diese von den Punktwerten für okklusal-funktionale und soziale Werte.

Dennoch wurde deutlich, dass die Rekonvaleszenz, also die Erholungsphase der Patienten nach der Operation, höchst unterschiedlich lange dauert. Während einige bereits nach wenigen Wochen wieder voll im Berufsleben integriert waren, benötigten einige wenige teils bis zu zehn Wochen. Diese Unterschiede sind individuell kaum vorhersehbar und können nur durch eine eingehende Aufklärung abgefedert werden. Der „Sense of Coherence“, der ein Maß darstellt, wie man mit den Belastungen des Alltags umgehen kann, verbesserte sich ebenfalls signifikant auf Werte, die über denen der Durchschnittsbevölkerung liegen.

Nach Abschluss der Behandlung äußerten sich die Patienten allesamt sehr positiv über die ästhetischen Verbesserungen nach der Operation. Das Patientenbeispiel in den Abbildungen 14 bis 17 verdeutlicht die funktionalen und ästhetischen Verbesserungen eindrücklich. Die Gesamtbehandlungszeiten konnten auf sechs bis 15 Monate verkürzt werden.

Zusammenfassung

Der besondere Vorteil des Surgery First-Konzeptes besteht darin, dass die Patientinnen bzw. die Patienten die positiven ästhetischen und funktionellen Verbesserungen unmittelbar mit Behandlungsbeginn erfahren. Die Gesamtbehandlungszeit spielt für die Patienten dann in der Regel eine untergeordnete Rolle. Bedanken möchte sich der Autor hiermit bei Professor Dr. Lux und Priv.-Doz. Dr. Zingler von der kieferorthopädischen Abteilung der Universität Heidelberg. Viele Erkenntnisse über Surgery First haben wir in unserer gemeinsamen Aufarbeitung der Fälle erlangt und konnten diese auch 2017 international publizieren. Ein weiterer Dank geht an Tobias Held von der KLS Martin Group (Verantwortlicher für die virtuelle Planungssoftware IPS CaseDesigner) für das Überlassen von Datenmaterial.

Hier gibt es die vollständige Literaturliste.

Dieser Beitrag ist in den KN Kieferorthopädie Nachrichten 9/17 erschienen.

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