Kieferorthopädie 14.05.2024

Anomalie des progenen Formenkreises mit Kreuzbiss



Anomalie des progenen Formenkreises mit Kreuzbiss

Foto: Dr. Carmen Schmid-Herrmann

Dieser Artikel ist in den KN Kieferorthopädie Nachrichten unter dem Originaltitel: "Anomalie des progenen Formenkreises mit frontalem und lateralem Kreuzbiss zwischen Zahn- und Kiefergröße" erschienen.

Befund

Der Patient stellte sich erstmalig im Alter von zwölf Jahren im April 2017 vor (Abb. 1). Er wurde nach einer Frühbehandlung mit aktiven Platten bei seinem Hauszahnarzt von diesem zu mir überwiesen.

Es lag eine positive Familienanamnese bezüglich einer Klasse III-Anomalie vor. Die Röntgendiagnostik (Panoramaröntgenschichtaufnahme und Bissflügel; Abb. 2a) zeigte ein teilweise konservierend versorgtes permanentes Gebiss mit Anlage aller Weisheitszähne im hoffnungslosen Platzmangel bei multiplen kariösen Läsionen (16m, 26d, 37m, 36d, 35d, 46d, 47m), deren konservierende Versorgung angewiesen wurde. Aufgrund der Retentions- und Verlagerungstendenz von Zahn 13 wurde eine dreidimensionale Bildgebung (digitale Volumentomografie als Ausschnitt; Abb. 2b) angefertigt, wobei minimale Resorptionen an der distalen Wurzeloberfläche von 12 und der mesialen Wurzeloberfläche von 14 festgestellt wurden.

Es lagen plumpe Kondylen bei atypischer Kondylusform links, ausgedehnte Recessus der Sinus maxillares und eine Mukozele in der linken Kieferhöhle vor. Das Fernröntgenseitenbild (Abb. 3) zeigte eine skelettale Klasse III bei stark vertikalem Wachstumsmuster sowie einen skelettal offener Biss bei Protrusion der Oberkieferfront und bialveolärer Anteposition. Das Profil war konvex-progen mit vergrößertem unterem Gesichtsdrittel (Abb. 1a). Im oberen Schmalkiefer mit Gummy Smile und hohem Gaumen standen die protrudierte und antepositionierte Front gedreht und gekippt (Abb. 1d). Es lag ein Diastema mediale bei Mittellinienverschiebung nach rechts vor. Ursächlich hierfür war der vestibuläre Durchbruch von 13. Links bestand ein moderater Platzüberschuss im Seitenzahnbereich bei Platzmangel im rechten Seitenzahnbereich und sagittaler Aufwanderung rechts. Im unteren asymmetrischen Schmalkiefer standen die supra- und antepositionierte Front eng, gedreht und gekippt. Es lag ein Platzmangel im Seitenzahnbereich beidseits bei sagittaler Aufwanderung links mit Teilplatzverlust und bukkalem Außenstand von 34 vor. Beide Spee-Kurven waren ausgeprägt.

Die Okklusion stellte sich mit einer Klasse I rechts und einer Klasse III um 1 Prämolarenbreite links asymmetrisch dar. Es lag ein Kreuzbiss der Zähne 15 bis 12 zu 42 bis 45 sowie 23 zu 34 bei gnathischer Mittellinienverschiebung nach rechts vor. Die übergeordneten Diagnosen lauteten somit:

  • Anomalie des progenen Formenkreises frontaler und lateraler Kreuzbiss
  • Missverhältnis zwischen Zahn- und Kiefergröße
  • Longface-Syndrom

Der Patient und die Erziehungsberechtigten wurden ausführlich über die vorliegenden Befunde und insbesondere über die Anomalie des progenen Formenkreises, das vertikale Wachstumsmuster sowie die bei ungünstigem Wachstumsverlauf möglicherweise später notwendige kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgische Therapie aufgeklärt.

Therapie

1. Phase: Transversale Erweiterung des Oberkiefers (Abb. 4)

Initial erfolgte eine transversale Nachentwicklung des oberen Schmalkiefers mittels einer Hyrax-Gaumennahterweiterungsapparatur, um die transversale Diskrepanz und den lateralen Kreuzbiss zu korrigieren und weitere Resorptionen an 12 und 14 zu verhindern. Der Patient wurde instruiert, zwei Mal täglich (morgens und abends) die Hyrax-Schraube zu stellen. Zur Bisssperrung während der Überstellung der Kreuzbisse wurden Aufbisse an 36 und 46 angebracht. Die Protrusionsfeder an 12 diente zur Überstellung des frontalen Kreuzbisses. Nach transversaler Erweiterung des Oberkiefers und Entkopplung des Unterkiefers mittels der Aufbisse kam es zu einer Spontankorrektur der gnathischen Mittellinienverschiebung. Im Unterkiefer wurde ein Lingualbogen zur maximalen Verankerung der Molaren eingesetzt (Abb. 4).

2. Phase: Multibandbrackettherapie (Abb. 5–10)

Im Unterkiefer erfolgte der Lückenschluss nach Extraktion der Zähne 35 und 45 (Abb. 5 und 6). Der Lückenschluss erfolgte zu zwei Dritteln von anterior und zu einem Drittel von posterior. Daher wurde der Lingualbogen im Behandlungsverlauf nach zehn Monaten entfernt. Im Oberkiefer wurde nach Entfernung der Hyrax-Gaumennahterweiterungsapparatur ein Transpalatinalbogen zur transversalen Verankerung eingesetzt (Abb. 7) und die Zähne 17 und 27 extrahiert. Zahn 13 wurde in den Zahnbogen eingeordnet und die Mittellinienverschiebung korrigiert. Ober- und Unterkiefer wurden mittels einer Multibracketapparatur ausgeformt und die Zahnbögen harmonisiert (Bogensequenz: 0.016" Sentalloy; 0.018" SS; 0.018 x 0.025" NiTi; 0.019 x 0.025" SS; 0.019 x 0.025" TMA; Abb. 8). Die Weisheitszähne 18, 28, 38 und 48 wurden eingeordnet (Abb. 9). Es wurde eine alternierende Verzahnung (Klasse III-Okklusion um eine Prämolarenbreite) bei korrektem Overbite und Overjet eingestellt und die Kreuzbisse überstellt (Abb. 10).

3. Phase: Retentionsphase (Abb. 11 und 12)

Die Stabilisierung und das Halten des Behandlungsergebnisses (Abb. 11 und 12) erfolgten mittels adhäsivem Ober- und Unterkieferretainer als möglichst lebenslange Retention und einem funktionskieferorthopädischen Retentionsgerät (Umkehrbionator), das nachts getragen wird.

Epikrise

Der bei Behandlungsbeginn zwölfjährige Patient zeigte eine Anomalie des progenen Formenkreises sowie ein Missverhältnis zwischen Zahn- und Kiefergröße (zu kleiner Kiefer). Die Berechnung der Harvold-Differenz1 (UK-Länge – OK-Länge) ergab einen Wert von 31,9 mm (Normwert für Zwölfjährige: 15–28 mm). Nach kritischer Beurteilung dieses Wertes sowie der Gesamtsituation entschied ich mich für den Versuch einer kieferorthopädischen Therapie (gegenüber einer späteren kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Kombinationstherapie nach Wachstumsabschluss). Prognostisch kritisch stellte sich zudem das „Longface-Syndrom“2 mit dem stark vertikalen Wachstumsmuster (Y-Achsenwinkel: 74,9°; ODI: 64,2°) dar. Das ausgeprägte Missverhältnis zwischen Zahn- und Kiefergröße (Platzmangel UK: 7,5 mm; Platzmangel OK: 4 mm) bei Anlage aller Weisheitszähne machte die Entfernung von vier bleibenden Zähnen erforderlich, da 32 Zähne nicht in diesem Kiefer unterzubringen waren. Des Weiteren spricht das Gesichtsprofil für eine Extraktionstherapie: Da bei Behandlungsbeginn ein konvexes Profil mit prominenter Ober- und Unterlippe besteht, ist eine Abflachung des Profils durch Retraktion der Ober- und Unterlippe im Zuge der Extraktionstherapie erwünscht.3–5 Almurtadha et al. konnten zeigen, dass eine Extraktionstherapie zu einer signifikanten Vergrößerung des Nasolabialwinkels sowie einer Zunahme des Oberlippen- und Unterlippenabstandes zur Ästhetiklinie führt.6 Die Extraktion der zweiten Molaren im Oberkiefer ist aufgrund der Anomalie des progenen Formenkreises (gegenüber einer Prämolarenextraktion) günstig für die sagittale Relation im Oberkiefer.7–9 Des Weiteren beträgt die Wahrscheinlichkeit der Einstellung der Weisheitszähne über 90 Prozent.10, 11 Eine alternative Extraktionsentscheidung wären die ersten oder zweiten Prämolaren im Oberkiefer gewesen, gegen die ich mich aufgrund der sagittalen Relation und der voraussichtlichen zusätzlichen Extraktionsnotwendigkeit der Weisheitszähne entschieden habe. Im Unterkiefer erfolgte die Extraktion der zweiten Prämolaren im Sinne einer dentoalveolären Kompensation der Klasse III-Anomalie. Die Extraktion der ersten Prämolaren wäre günstiger gewesen, wenn eine maximale Verankerung der Molaren gewünscht gewesen wäre. Da im vorliegenden Fall jedoch ein reziproker Lückenschluss (2/3 von anterior, 1/3 von posterior) erfolgen sollte, entschied ich mich für die Extraktion der zweiten Prämolaren. Zahn 35 zeigte zudem distal eine D3-Karies, was ebenfalls für die Extraktion der zweiten Prämolaren sprach.

Gleichzeitig hat diese Prämolarenextraktion eine bissschließende Wirkung, was bei der vertikalen Konfiguration des Patienten sehr günstig ist. Aras et al. zeigten, dass eine Extraktion der zweiten Prämolaren mit anschließender Mesialisierung des posterioren Segments durch die ccw-Rotation der Mandibula bissschließend wirkt, während bei der Extraktion der ersten Prämolaren keine signifikante ccw-Rotation der Mandibula nachgewiesen werden konnte.12 Da der posteriore Engstand im Unterkiefer geringer als im Oberkiefer war, war eine Einstellung der unteren Weisheitszähne auch bei einer Prämolarenextraktion (anstatt einer Molarenextraktion) möglich.

Den Fall als Non-Extraktionsfall zu lösen (bzw. nur mit operativer Entfernung der Weisheitszähne) hätte die anatomischen Grenzen überschritten und wäre mit einer hohen Gefahr von Fenestrationen und Knochendehiszenzen sowie einer unzureichenden Stabilität des Behandlungsergebnisses einhergegangen.13,14 Passend finde ich an dieser Stelle das Zitat von Burrow: „Die Entscheidung, ob Ex/Non-Ex ist keine Frage des Bracketsystems, sondern nur eine Frage der richtigen Diagnostik.“15 Bei der Planung der Extraktionstherapie ist die Verankerungsplanung beim Lückenschluss von hoher Relevanz. Im Oberkiefer erfolgten daher (nach der transversalen Erweiterung) eine maximale Verankerung der restlichen Dentition bei Extraktion der zweiten Molaren sowie die Einstellung der Weisheitszähne. Im Unterkiefer erfolgte der Lückenschluss reziprok (2/3 von anterior, 1/3 von posterior), weshalb zu Beginn ein Lingualbogen eingesetzt wurde, der im Behandlungsverlauf entfernt wurde. Initial erfolgte im Oberkiefer eine transversale Nachentwicklung im Sinne einer Gaumennahterweiterung.16 Das bei Therapiebeginn bereits eineinhalb Jahre alte Fernröntgenseitenbild von alio loco zeigte das Stadium CS2, weshalb entsprechend den Empfehlungen von Angelieri et al. eine schnelle Gaumennahterweiterung (RME) durchgeführt wurde.17 Vorteilhaft im vorliegenden Fall ist ebenfalls, dass die schnelle Gaumennahterweiterung eine Lockerung der Suturen bewirken kann, wodurch es sekundär zur Korrektur der sagittalen Anomalie kommt.18

Die transversale Erweiterung generiert gleichzeitig Platz (1 mm transversale Erweiterung generiert 0,7 mm Platz im Zahnbogen)19 für die Einordnung des bukkal durchbrechenden rechten Eckzahnes.Kritisch ist sicherlich die bissöffnende Komponente durch die transversale Erweiterung unter Verwendung der Hyrax-Gaumennahterweiterungsapparatur und der temporären okklusalen Aufbisse bei dem stark vertikalen Fall anzumerken. Essenziell ist nach der schnellen Gaumennahterweiterung eine ausreichend lange (mindestens sechsmonatige) transversale Stabilisierung, um einem Rezidiv entgegenzuwirken. Daher wurde die Hyrax-Gaumennahterweiterungsapparatur im Behandlungsverlauf durch einen Transpalatinalbogen ersetzt (transversale Stabilisierung insgesamt 17 Monate). Eine therapeutische Alternative wäre gewesen, den Patienten auswachsen zu lassen und nach Wachstumsabschluss kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgisch zu behandeln, was jedoch als deutlich invasiver zu bewerten ist.

Das Behandlungsergebnis ist sowohl aus Patienten- als auch aus Behandlersicht gut. Es konnte beidseits die Zielokklusion von einer Prämolarenbreite Klasse III bei korrektem Overbite und Overjet eingestellt werden. Aufgrund der zwischenzeitlich mäßig guten Mundhygiene lagen bei Entbänderung moderate White Spot-Läsionen vor. Zur Stabilisierung und Retention wurden ein funktionskieferorthopädisches Retentionsgerät (Umkehrbionator) sowie Ober- und Unterkieferretainer eingesetzt. Zweieinhalb Jahre nach Ende der aktiven Behandlung ist das Ergebnis stabil und die Zähne haben sich gut gesettelt. Die Verzahnung in den Seitenzahnsegmenten ist gut. Aufgrund des lang andauernden Unterkieferwachstums – bei Männern und echter Progenie teilweise bis zum 25. Lebensjahr20,21 – ist eine weitere Begleitung des Restwachstums indiziert.

Erstveröffentlichung im BDK info 1/2024.

Eine Literaturliste steht Ihnen hier zum Download zur Verfügung.

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