Kieferorthopädie 13.11.2023

Behandlung des offenen Bisses mit Lingualtechnik



Behandlung des offenen Bisses mit Lingualtechnik

Foto: © Kieferorthopädische Fachpraxis Prof. Wiechmann, Dr. Beyling & Kollegen

Ein frontal oder seitlich offener Biss ist nicht nur ästhetisch, sondern insbesondere auch funktionell problematisch. Dabei besteht zugleich auch immer eine Zungenfehlfunktion. Eine korrekte Behandlung sowie ein adaptiertes Retentionsprotokoll sollten letztendlich darauf abzielen, dass sich diese fehlerhafte Funktion langfristig umstellt und normalisiert. Als wesentliche Voraussetzung hierfür gilt ein qualitativ hochwertiges Ergebnis der aktiven Behandlung mit einer möglichst perfekten Interdigitation. Diese sollte nicht nur bei der Betrachtung von vestibulär vorliegen, sondern vor allem auch bei der Betrachtung der Endmodelle in Okklusion von lingual. Ein fehlender Zahnkontakt in diesem Bereich kann sicherlich ein entscheidendes Einfallstor für die noch nicht normal funktionierende Zunge sein. Dies ist ein ganz entscheidendes Kriterium für die Auswahl der am besten geeigneten Apparatur zur Korrektur des offenen Bisses. Zahlreiche Autoren haben immer wieder auf die außergewöhnlich hohe Ergebnisqualität bei der Behandlung mit vollständig individuellen lingualen Apparaturen (VILA) hingewiesen.1–10 Aktuell haben Graf et al. in einer von der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO) initiierten Multicenter-Studie zur kieferorthopädischen Behandlungsqualität in Deutschland neben einer hohen Behandlungsqualität insgesamt auch die Leistungsfähigkeit von VILAs herausgearbeitet. Dabei lag am Behandlungsende bei 96 Prozent der mit lingualen Apparaturen behandelten Patienten ein „High Quality Result“ mit einem PAR-Score von < 5 vor. Derartig hochwertige Ergebnisse sollten insbesondere bei der Behandlung von Patienten mit offenem Biss das vorrangige Ziel sein.11

Vorteile bei der Behandlung des offenen Bisses mit vollständig individuellen lingualen Apparaturen

Individuelle Bracketplatzierung und indirektes Klebeprotokoll

VILAs werden in einem relativ aufwendigen Laborprozess patientenspezifisch hergestellt. Ein wesentlicher Punkt dabei ist die Erstellung eines individuellen Set-ups. Hierauf werden anschließend die individuellen Lingualbrackets aus vorkonfektionierten Einzelteilen zusammengesetzt (individuelle Bracketbasis, individueller Bracketkörper, individueller Bracketflügel). In Kombination mit den präzisen individuellen Bögen kann die geplante Zahnstellungskorrektur von gut ausgebildeten Kieferorthopäden im Munde des Patienten problemlos umgesetzt werden.6 Dabei ist eine exakte Bracketpositionierung in Kombination mit einem indirekten Klebeprotokoll extrem wichtig. Vestibuläre Apparaturen hingegen werden im Regelfall direkt geklebt. Wie die Abbildungen 1a und b zeigen, kann bereits eine um wenige Grad fehlerhafte Bracketpositionierung, beispielsweise an den ersten unteren Molaren, eine perfekte Interdigitation unmöglich machen.

Biomechanische Vorteile lingualer Apparaturen bei der Intrusion und Extrusion im Frontzahnbereich

Ebenso wie bei der Behandlung von Tiefbissfällen haben linguale Apparaturen bei einer geplanten Extrusion im Frontzahnbereich systemimmanente biomechanische Vorteile. Wie die Abbildungen 2a und b zeigen, ergibt sich bei einer geplanten Extrusion aufgrund des in der Horizontale geringeren Abstands zwischen Bracketslot und Resistenzzentrum eines Frontzahns ein deutlich geringeres Drehmoment. Eine Extrusion im anterioren Bereich ist deshalb genau wie bei der Intrusion per se mit lingualen Apparaturen günstiger, da es, wenn überhaupt, nur zu geringen Kippungen der Zähne in labio-lingualer Richtung kommt.

„Eine Molarenintrusion bietet sich primär bei vertikalem Schädelaufbau und bei offenen Bissen mit weit posterioren Zahnkontakten an (Abb. 5a–p).“

Die Ausrichtung der rechteckigen Behandlungsbögen ist ribbonwise

Im Gegensatz zu vestibulären Apparaturen, bei denen der Bracketslot edgewise ausgerichtet ist, haben VILAs im Frontzahnbereich einen ribbonwise orientierten Slot. Aufgrund des in der Vertikale größeren Bogenquerschnitts ist die Leistungsfähigkeit von ribbonwise ausgerichteten festsitzenden Apparaturen bei Intrusions- und Extrusionsbewegungen den edgewise ausgerichteten Bracket-Systemen überlegen.

Fraglicher Spikes-Effekt lingualer Apparaturen

Der häufig genannte Vorteil des Spikes-Effekts lingualer Apparaturen ist schlichtweg Unsinn! Seit jeher sind linguale Apparaturen, die bei Patienten und Behandlern beliebt waren, immer maximal abgerundet gewesen. Ein möglicher Spikes-Effekt sollte ja gerade immer vermieden werden. So hatten sich bei adäquater klinischer Vorgehensweise seitens der Behandler selbst beim Einsatz herkömmlicher, weitaus dickerer Lingualsysteme die Patienten doch nach kurzer Zeit an die Apparatur gewöhnt. Ein möglicher Spikes-Effekt bestand dann sicher nicht mehr. VILAs sind im Vergleich zu herkömmlichen lingualen Apparaturen deutlich flacher im Profil und deshalb noch angenehmer während der kurzen Eingewöhnungsphase.12

Behandlungsplanung beim offenen Biss

Liegt ein offener Biss in Kombination mit größeren skelettalen Abweichungen in der Vertikale oder Sagittale vor, sollte primär über eine Behandlung in einem kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Gesamtkonzept nachgedacht werden. Besteht die Möglichkeit zur sinnvollen dentoalveolären Kompensation, stellt sich sogleich die Frage nach der individuellen Behandlungsstrategie. Hierzu bedarf es einer umfassenden Diagnostik, die aufgrund der Gesamtkomplexität dieses Fehlbildungsmusters von einem Fachzahnarzt für Kieferorthopädie durchgeführt werden sollte. Therapeutisch sind im Wesentlichen zwei mögliche Strategien beim frontal offenen Biss zielführend: Zum einen die Extrusion von Frontzähnen und zum anderen die Intrusion von Seitenzähnen mit gleichzeitiger counter-clockwise Rotation des Unterkiefers.

„Die En-masse-Distalisation im Oberkiefer mit interradikulären Minischrauben ist eine effiziente Methode zur dentoalveolären Klasse II-Korrektur.“

Konzepte bei neutraler Bisslage

Intrusion von Oberkiefermolaren mit interradikulären Minischrauben

In dem hier vorgestellten Konzept wird die Intrusion primär im Oberkiefer mithilfe einer skelettalen Verankerung durchgeführt. Die Abbildungen 3a–c und 4a–c zeigen mögliche vestibuläre und palatinale Intrusionsmechaniken. Da in jedem Fall die Intrusionskraft nicht senkrecht durch das Resistenzzentrum der Seitenzähne geht, kommt es immer auch zu leichten Zahnkippungen. Bei beidseits palatinaler Mechanik verschmälert sich dabei der Zahnbogen, bei vestibulären Mechaniken wird der Zahnbogen durch die leichten Kippungen nach vestibulär breiter. Je nach Ausgangsbefund kann somit durch die Wahl der Lage der Intrusionsmechanik (palatinal oder vestibulär) eine Zahnfehlstellungskorrektur in der Transversale begünstigt werden. Die einfacher einzusetzende Mechanik ist sicherlich die interradikuläre Schraubenverankerung am Gaumen (Abb. 4a). Aufgrund der zu erwartenden Kompression des Zahnbogens sollten hier im Regelfall Expansionsbögen (0.016″ x 0.024″ SS) mit einer Aktivierung von 2 cm im Bereich der ersten Molaren eingesetzt werden. Bei der Intrusion mit vestibulär eingesetzten Minischrauben sollten diese möglichst ortsfern der zu intrudierenden Zähne eingesetzt werden, da erfahrungsgemäß der interradikulär zur Verfügung stehende Platz für eine Intrusion an der Minischraube vorbei nicht ausreicht. Eine effiziente Mechanik mit einem direkt an den beiden Schrauben befestigten Schwenkarm ist in Abbildung 3a zu sehen. Der Schwenkarm liegt passiv kranial der Molaren und wird über kurze Gummiketten aktiviert. Die resultierende Kraft entspricht einer Intrusion mit einer leichten Kippung nach bukkal, was insbesondere bei einem zu schmalen Oberkiefer günstig sein kann. Eine Molarenintrusion bietet sich primär bei vertikalem Schädelaufbau und bei offenen Bissen mit weit posterioren Zahnkontakten an (Abb. 5a–p). In jedem Fall muss auch die Position der Zähne in Relation zu den Lippen, das sogenannte Display beachtet werden. Zeigt der Patient mit einem offenen Biss beim Lachen schon relativ viel Zahnfleisch im Bereich der Oberkieferfront, macht eine posteriore Intrusion sicherlich mehr Sinn als eine anteriore Extrusion. Das Video 1 zeigt die deutliche Intrusion im Bereich der Oberkiefermolaren, die durch den Einsatz der beschriebenen, doch eher simplen Mechanik erzielt werden konnte.

Video 1

Schließen des offenen Bisses durch Nivellierung der Zahnbögen

Liegt eine deutliche Verkürzung eines dentoalveolären Segments vor, ist die Nivellierung des Zahnbogens die Methode der Wahl. Ribbonwise ausgerichtete Stahlbögen sind in diesen Fällen besonders wirkungsvoll. Dabei wird die Umsetzung der individuellen Set-up-Planung durch vertikale Elastiks unterstützt. VILAs haben zur Verbesserung der Verbundfestigkeit im Bereich der Oberkieferfront relativ ausgedehnte Bracketbasen. Diese müssen besonders bei initial offenen Bissen in der zweiten Behandlungshälfte konsequent eingeschliffen werden, um einen uneingeschränkten Zahn-zu-Zahn-Kontakt zu erzielen (Abb. 6a–u). Das Video 2 zeigt die Extrusion im Bereich der Oberkieferfront, was zu einer deutlichen Harmonisierung des Profils führte. Als Folge der richtigen Therapieentscheidung ist auch das Lachen der Patientin attraktiver geworden.

Video 2

Konzepte bei distaler Bisslage

Schließen des frontal offenen Bisses mithilfe eines Nebeneffekts bei der En-masse-Distalisation im OK

Die En-masse-Distalisation im Oberkiefer mit interradikulären Minischrauben ist eine effiziente Methode zur dentoalveolären Klasse II-Korrektur. Hierbei kommt es immer zu einer Intrusion im posterioren Oberkiefer als Nebeneffekt der Torquekontrolle der Frontzähne während der Retraktion. Der Einsatz von Bögen mit Extratorque ist in diesen Fällen besonders wichtig. In Kombination mit einem frontal offenen Biss führt dies dann zu einer günstigen counter-clockwise Rotation des Unterkiefers und wie im vorliegenden Fall auch zu einer Harmonisierung des Profils (Abb. 7a–u). In den Videos 3 und 4 wird dieser Effekt besonders deutlich.

Video 3

Video 4

„Die Extraktionen nur im Unterkiefer wirken sich auch positiv auf die fast immer auch gleichzeitig vorliegende transversale Problematik mit einem zu breiten Unterkiefer aus.“

Konzepte bei mesialer Bisslage

Schließen des frontal offenen Bisses durch Prämolarenextraktionen im UK

Bei Vorliegen einer moderaten Klasse III-Verzahnung in Kombination mit einem offenen Biss kann auch eine unimaxilläre Extraktion von Prämolaren im Unterkiefer ein zielführendes Konzept sein. Ein derartiges Vorgehen gilt im Allgemeinen heutzutage in der kieferorthopädischen Mechanotherapie als nicht so „chic“, da es beim Einsatz vestibulärer festsitzender Apparaturen aufgrund des enormen Torquespiels häufig zu ausgeprägten Lingualkippungen im Bereich der Unterkieferfrontzähne kommt. Mit VILAs ist das Torquespiel beim Einsatz nominell slotfüllender Bögen gleich null, was eine hervorragende Kontrolle der Inklination im Frontzahnbereich erlaubt. Zusätzlich besteht auch hier die Möglichkeit, beim Einsatz leicht untermaßiger Behandlungsbögen (z. B. 0.016″ x 0.024″ SS) das Torquespiel durch einen präzisen Extratorque zu neutralisieren (Videos 5 und 6).

Video 5

Video 6

Die Extraktionen nur im Unterkiefer wirken sich auch positiv auf die fast immer auch gleichzeitig vorliegende transversale Problematik mit einem zu breiten Unterkiefer aus.

Patienten mit leicht mesialer Bisslage und offenem Biss zeigen fast ausnahmslos beim Lachen sehr wenig von den Oberkiefer-Frontzähnen. Je nach Ausprägung der Klasse III besteht hier die Möglichkeit, durch eine Extraktionsentscheidung nur im Unterkiefer das eingangs beschriebene Display der Frontzähne beim Lachen zu verbessern. Dieser Effekt ergibt sich in der Phase des Lückenschlusses im Unterkiefer mithilfe von Klasse II-Gummizügen. Diese sorgen nicht nur für einen Restlückenschluss von der richtigen Seite, sondern extrudieren gleichzeitig die Oberkiefer-Frontzähne, was sowohl für das Schließen des frontal offenen Bisses als auch für die Verbesserung des Displays vorteilhaft ist (Abb. 7 und 8).

Adaptiertes Retentionsprotokoll

Das vorrangige Ziel in der Retentionsphase ist es, die Zunge aus der nun möglichst perfekten Okklusion herauszuhalten. Dies gelingt besser mit einer unterstützenden myofunktionellen Therapie. Zudem hat sich in der frühen Retentionsphase eine Kombination aus drei unterschiedlichen Ansätzen als günstig erwiesen:

  • Maximale Stabilisierung des erreichten Ergebnisses mittels festsitzender Retention in beiden Kiefern bis zum ersten Prämolaren
  • Aktives Neutralisieren eines möglichen vertikalen Rezidivs mit vertikalen Elastiks im Eckzahnbereich nachts und über einen Zeitraum von sechs Monaten
  • Abschirmung der Zunge in der Nacht mittels Enveloppe Linguale Nocturne (ELN)13

Bei guter Mitarbeit kann das erreichte Ergebnis in jedem Fall stabil gehalten werden. Die Zunge hat nun Gelegenheit, sich an die neue Situation zu gewöhnen, und stellt sich im günstigsten Fall funktionell um. Nach einer Umgewöhnungszeit von sechs Monaten kann man bei ansonsten stabilen Verhältnissen über ein Absetzen der intermaxillären vertikalen Elastiks nachdenken. Der ELN sollte in jedem Fall langfristig nachts weitergetragen werden.

Zusammenfassung

Mit vollständig individuellen lingualen Apparaturen ist die Korrektur verschiedener Formen des offenen Bisses zuverlässig möglich. Insbesondere die überlegene Torquekontrolle in Kombination mit Extra-Torque-, Expansions- und Kompressionsbögen eröffnet weitergehende Möglichkeiten, für eine dentoalveoläre Kompensation. Eine nachhaltige Umstellung der gestörten Zungenfunktion beim offenen Biss kann durch ein adaptiertes Retentionsprotokoll positiv beeinflusst werden.

Eine Literaturliste steht hier zum Download für Sie bereit.

Dieser Beitrag ist in der KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.

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