Kieferorthopädie 29.01.2021

Körperliche Zahnbewegungen und transversale Korrekturen - Teil 2



Körperliche Zahnbewegungen und transversale Korrekturen - Teil 2

Die Domäne der festsitzenden Apparaturen

Das Ziel einer kieferorthopädischen Behandlung ist weit mehr als nur das reine Ausformen der Zahnbögen. Zwar sind unsere Patienten manchmal bereits bei einer noch so geringen Verbesserung der Zahnfehlstellung zufrieden, obwohl die Situation im Munde von einem qualitativ hochwertigen Ergebnis noch weit entfernt ist. Die im Studium der Zahnheilkunde und in der kieferorthopädischen Weiterbildung erworbenen Kenntnisse und Erkenntnisse zu qualitativ hochwertigen Okklusionskonzepten sollten es aber dem Behandler ermöglichen, einen etwas kritischeren Blick auf das bisher Erreichte zu werfen und ein Ergebnis anzustreben, das diesem Wissen Rechnung trägt. Hierfür sind fast ausnahmslos immer auch körperliche Zahnbewegungen notwendig.

2. Teil: Translatorische Lückenöffnung, palatinaler  Wurzeltorque und Kreuzbissüberstellung

Translatorische Lückenöffnung

Eine kieferorthopädische Lückenöffnung ist in vielen Fällen eine präprothetische Maßnahme, die eine kontrollierte Bewegung der Zahnwurzeln erfordert. Bei einer im Anschluss geplanten Implantatversorgung sollte der Abstand der Zahnwurzeln ausreichend groß sein, um dazwischen problemlos ein regulär breites Zahnimplantat setzen zu können. Auch bei einer Brückenversorgung ist die weitestgehende Parallelität der zu beschleifenden Kronen der Pfeilerzähne wichtig für eine möglichst atraumatische Präparation.

Wird eine Lücke im Sinne einer unkontrollierten Kippung geöffnet, so bewegen sich die Zahnkronen zwar voneinander weg, die Zahnwurzeln aber aufeinander zu. Es kommt zu einer Lückenöffnung im Kronenbereich, im Bereich der Wurzelspitzen allerdings nähern sich die Zahnwurzeln einander an und machen eine Implantatversorgung unmöglich. Gerade bei diesen Behandlungsaufgaben ist eine kontrollierte translatorische Lückenöffnung erforderlich, wie sie nur mit festsitzenden Apparaturen gelingen kann.

Das Morphingvideo 1 zeigt eine erwachsene Patientin mit totalem Platzverlust Regio 45 und distaler Eckzahnbeziehung auf der betreffenden Seite. Bei der präprothetischen Lückenöffnung mithilfe einer Locatelli-Mechanik werden auch die Zahnwurzeln kontrolliert körperlich voneinander wegbewegt, sodass letztendlich ausreichend Platz für eine Implantatversorgung zur Verfügung steht.1 Die Locatelli-Mechanik besteht aus einem komprimierten NiTi-Bogen, der zu einer Schlaufe elastisch verbogen auf die betreffenden Zähne geklebt wird. Bei der Rückstellung kommt es zu einer relativ kontrollierten Lückenöffnung. Je nach Zahn- und angestrebter Lückengröße werden dazu NiTi-Bögen der Stärke .012'', .014'' oder .016'' eingesetzt. Auf der Innenseite wird die Locatelli-Mechanik zumeist mit einer Stoßfeder kombiniert. Wie der Behandlungsfortschritt im Morphingvideo 1 zeigt, sind die beiden aufrichtenden Drehmomente der Locatelli-Mechanik ausreichend, um eine Kippung bei der Lückenöffnung zu verhindern. Die Zahnwurzeln werden körperlich voneinander wegbewegt. Abbildung 1 zeigt eine ähnliche Problematik. Die Lücke regio 35 wurde mithilfe einer Locatelli-Mechanik geöffnet. Die weitere Bisslagekorrektur der Angle-Klasse II wurde mittels En-masse-Distalisation im Oberkiefer mit Minischrauben durchgeführt. Die Röntgenmessaufnahme vor Entbänderung zeigt eine ausreichende Lückenöffnung auch im Bereich der Zahnwurzeln und einen breiten Alveolarfortsatz. Zur Verdickung der Gingiva wurde vor Beginn der kieferorthopädischen Behandlung ein freies Bindegewebstransplantat im Bereich der Unterkieferfront eingesetzt.

Auch für die Einordnung retinierter oder ektopisch durchbrechender Zähne ist eine kontrollierte, körperliche Lückenöffnung eine wichtige Voraussetzung. Abbildung 2 zeigt eine translatorische Lückenöffnung mit einer festsitzenden Apparatur zur Einordnung eines ausgeblockten Eckzahnes. Die translatorische Lückenöffnung wird mit einem komprimierten NiTi-Bogen durchgeführt und gleicht biomechanisch den Kräften und Drehmomenten beim Einsatz einer Locatelli-Mechanik. Nur bei einer auch im Wurzelbereich ausreichend großen Lücke ist es möglich, den Eckzahn achsengerecht (in diesem Fall bedeutet das mit korrekter Inklination) einzuordnen. Mit festsitzenden Apparaturen sind derartige Zahnbewegungen nicht nur planbar, sondern auch problemlos durchführbar.

Wurzeltorque

Auch die Torquekontrolle ist eine Domäne der festsitzenden Apparaturen. Besonders im anterioren Bereich definiert sie wesentlich die Qualität des erreichten Behandlungsergebnisses. Ein Gradmesser für eine adäquate Torquekontrolle ist der Interinzisalwinkel am Ende der kieferorthopädischen Behandlung. Nicht nur für die Rezidivprophylaxe bei Tiefbissfällen und aufgrund von funktionellen Überlegungen, sondern auch bei der Einstellung einer neutralen Bisslage und letztendlich auch unter ästhetischen Gesichtspunkten ist eine gute Torquekontrolle im anterioren Bereich besonders wichtig.

Da es bei der Torquekontrolle bei festsitzenden Apparaturen ausschließlich auf die Passgenauigkeit des eingesetzten Bogens im Bracketslot und damit auf das mögliche Torquespiel ankommt, sind die Kenntnisse des Behandlers um die Genauigkeit der Bracketslots bei dem jeweils eingesetzten System von entscheidender Bedeutung.2 Im Rahmen jeder fachzahnärztlichen Weiterbildung ist das Erlernen von Extratorquebiegungen für den gesamten anterioren Bereich (3–3), um dieses Torquespiel zu neutralisieren, ein unverzichtbarer Teil des Curriculums.

Abbildung 3 zeigt einen jungen Patienten mit fehlenden seitlichen Schneidezähnen im Oberkiefer und übergroßem Interinzisalwinkel. Die Oberkieferschneidezähne stehen deutlich rekliniert und lückig. Zur Einstellung eines korrekten Interinzisalwinkels bei gleichzeitigem Lückenschluss ist die Retraktion der Frontzähne mit deutlichem palatinalen Wurzeltorque notwendig. Mit einer vollständig individuellen lingualen Apparatur wird die anteriore Torquekontrolle am Stahlbogen realisiert. Die Bögen, die mittels CAD/CAM-Technologie hergestellt werden, weisen eine präzise Extratorquebiegung im anterioren Bereich auf. So ist es dem Behandler möglich, den exakten Interinzisalwinkel einzustellen.

Besteht diese Option bei der ausgewählten festsitzenden Apparatur nicht, so kann der Behandler diese Torquebiegung auch manuell einbiegen. In jedem Fall ist es mit festsitzenden Apparaturen problemlos möglich, ein kontrolliertes Drehmoment im Bereich des Bracketslots zu applizieren. Kombiniert mit einer nach posterior gerichteten Kraft sorgt dieses zuverlässig für einen palatinalen Wurzeltorque im Bereich der Oberkieferfront (Morphingvideo 2).

Auch bei der Distalbisskorrektur ist die Torquekontrolle im Bereich der Oberkieferfront ein Schlüssel zum Erfolg. Abbildung 4 zeigt eine erwachsene Patientin mit einer Klasse II/2-Malokklusion. Auch nach Engstandsauflösung im Oberkiefer ist die Inklination der Oberkieferfrontzähne deutlich zu negativ. Nur eine kontrollierte Torquebewegung in diesem Bereich führt zu einer Inklinationsverbesserung ohne gleichzeitige Lückenöffnung. Die Klasse II wurde durch En-masse-Distalisation im Oberkiefer mit Minischrauben korrigiert. Die optimale Torquekontrolle der Oberkieferfrontzähne ist eine „conditio sine qua non“ für eine derartige Korrektur.3

Kreuzbissüberstellung

Die Vielzahl der verschiedenen festsitzenden Expansionsapparaturen unterstreicht die Überlegenheit der festsitzenden Apparaturen bei der transversalen Nachentwicklung im Oberkiefer. Neben unterschiedlichen Derivaten der Gaumennahterweiterungsapparatur werden in erster Linie Transpalatinalbögen eingesetzt. Die Einflussnahme auf die Tansversale ist auch alleine durch die Bogenform der eingesetzten festsitzenden Multibracket-Apparatur möglich. Gerade bei einer angestrebten Korrektur in der Transversalen zeigt sich dabei die Überlegenheit einer kontinuierlichen, zuverlässigen Kraftabgabe. Diese ist nur bei einer dauerhaften Kontaktzeit gegeben, was sich insbesondere auch in der Erwachsenenbehandlung zeigt.

Zudem besteht mit festsitzenden Apparaturen die Möglichkeit, durch die Anpassung der jeweiligen Bogenform einen Kreuzbiss aus beiden Kiefern zu kompensieren. Abbildung 5 zeigt einen erwachsenen Patienten mit beidseitigem Kreuzbiss im posterioren Bereich. Mithilfe von Expansionsbögen im Oberkiefer und Kompressionsbögen im Unterkiefer (beide .016'' x .024'' SS) konnte der beidseitige Kreuzbiss überstellt werden (Morphingvideo 3 und Morphingvideo 4).

Vergleicht man das Ergebnis mit der Behandlungsplanung, zeigt sich eine hohe Übereinstimmung (siehe Abb. 5f und g sowie i und j). In der Frontalansicht erscheinen die Seitenzähne nicht übermäßig kompensiert. Bei der erwachsenen Patientin aus Abbildung 6 liegt die Ursache für den beidseitigen Kreuzbiss eher im Oberkiefer. Die dentoalveoläre Kompensation mittels Expansionsbögen führt zu einer deutlichen Veränderung der Oberkieferzahnbogenform, die letztendlich identisch mit der Planung ist (vergleiche Abb. 6f und g). Durch die Korrektur der transversalen Relation ist es in beiden Fällen gelungen, auch den frontal offenen Biss zu schließen (Morphingvideo 5).

Zusammenfassende Bewertung

Die in dieser Artikelserie (Teil 1 und 2) vorgestellten Behandlungsfälle sind keine außergewöhnlichen Kapriolen, sondern Befunde, wie sie regelmäßig in kieferorthopädischen Praxen anzutreffen sind. Unter Kollegen mit profunder fachzahnärztlicher Ausbildung besteht sicherlich keine Uneinigkeit darüber, welche Art der Apparatur – festsitzend oder herausnehmbar – zur Korrektur der gezeigten Zahnfehlstellungen die richtige ist. Dennoch muss man konstatieren, dass es aufgrund einer anderen Wahrnehmung bei der Auswahl der geeigneten Behandlungsapparaturen sehr wohl eine bestimmte Uneinigkeit sogar unter Fachzahnärzten gibt.

Neben den gezeigten Fallbeispielen, die verdeutlichen, was kieferorthopädisch mit festsitzenden Apparaturen möglich ist, gibt es besonders in der neueren kieferorthopädischen Literatur auch immer mehr Artikel, die darauf hinweisen, dass die Leistungsfähigkeit alternativer Konzepte durchaus begrenzt ist.4,5

Literaturliste

Dieser Beitrag ist in KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.

Foto Teaserbild: Autor

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